ECLI:DE:BFH:2025:B.270325.XB112.24.0
BFH X. Senat
FGO § 56 Abs 1, FGO § 58 Abs 1 Nr 1, FGO § 62 Abs 4, ZPO § 170a, BGB § 104 Nr 1, BGB § 1815 Abs 1, BGB § 1825 Abs 1
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg , 07. November 2024, Az: 12 K 12270/18
Leitsätze
1. NV: Auch ein Beteiligter, für den eine Betreuung angeordnet ist, kann prozessfähig sein, sofern für den Aufgabenbereich der Prozessführung kein Einwilligungsvorbehalt besteht.
2. NV: Der Aufgabenbereich "steuerrechtliche Angelegenheiten" kann auch Teil anderer Aufgabenbereiche sein, zum Beispiel bei Anordnung einer Betreuung für die Aufgabenbereiche "Vermögenssorge" oder "Behördenangelegenheiten".
3. NV: Soweit eine gerichtliche Zustellung den Aufgabenkreis des Betreuers betrifft, muss das Gericht dem Betreuer auch dann eine Abschrift des zugestellten Dokuments mitteilen, wenn der Betreute selbst prozessfähig ist (§ 170a der Zivilprozessordnung). Verletzt das Gericht diese Pflicht, kommt die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand in Betracht.
Tenor
Die Verfahren X B 112/24 und X B 117/24 werden zur gemeinsamen Entscheidung verbunden.
Die Beschwerden des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision gegen die Urteile des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 07.11.2024 - 12 K 12270/18 und 12 K 12233/19 werden als unzulässig verworfen.
Die Kosten der Beschwerdeverfahren hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
I.
Der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) führte seit 2018 (Verfahren 12 K 12270/18 zu den Streitjahren 2016 und 2017) beziehungsweise 2019 (Verfahren 12 K 12233/19 zum Streitjahr 2018) Klageverfahren vor dem Finanzgericht (FG). Mitte 2023 erlitt er eine Hirnblutung. Am 23.04.2024 ordnete das Betreuungsgericht aufgrund der Folgen der Hirnblutung (unter anderem organische wahnhafte Störung und schwere depressive Episode) an, für den Kläger ‑‑mit dessen Einverständnis‑‑ einen Betreuer mit den folgenden Aufgabenbereichen zu bestellen:
- Gesundheitssorge,
- Aufenthaltsbestimmung zu Zwecken der Heilbehandlung,
- Vermögenssorge,
- Behörden-, Renten- und andere Sozialleistungsangelegenheiten,
- Wohnangelegenheiten.
Am 07.11.2024 führte das FG die mündlichen Verhandlungen in Abwesenheit des Klägers durch und erließ die mit den Nichtzulassungsbeschwerden angefochtenen Urteile. Es vertrat die Auffassung, die Betreuung umfasse nicht die Erledigung steuerrechtlicher Angelegenheiten. Es stellte die Urteile nur dem Kläger, nicht aber auch dem Betreuer zu.
Entscheidungsgründe
II.
1. Die Beschwerden sind nicht bereits deshalb unwirksam, weil es dem Kläger bei deren Einlegung an der erforderlichen Prozessfähigkeit fehlte.
Nach § 58 Abs. 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) sind unter anderem die nach dem bürgerlichen Recht Geschäftsfähigen fähig zur Vornahme von Verfahrenshandlungen. Eine Geschäftsunfähigkeit wäre vorliegend ‑‑da der Kläger volljährig ist‑‑ nur dann gegeben, wenn der Kläger sich in einem die freie Willensbildung ausschließenden Zustand krankhafter Störung der Geistestätigkeit befände, sofern nicht der Zustand seiner Natur nach ein vorübergehender wäre (§ 104 Nr. 2 des Bürgerlichen Gesetzbuchs ‑‑BGB‑‑). Das sachverständig beratene Betreuungsgericht hat allerdings in seinem Beschluss vom 23.04.2024 ausdrücklich ausgeführt, der Kläger sei geschäftsfähig. Diese Wertung legt auch der Senat, dem keine gegenteiligen Erkenntnisse vorliegen, seiner Beurteilung zugrunde.
Da der Kläger somit als geschäftsfähig anzusehen ist, ist er auch prozessfähig. Allein der Umstand, dass für den Kläger eine Betreuung angeordnet worden ist, steht der Prozessfähigkeit nicht entgegen, zumal kein Einwilligungsvorbehalt (§ 1825 Abs. 1 BGB) besteht (vgl. auch Gräber/Levedag, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 58 Rz 14).
2. Die Beschwerden sind unzulässig, weil sie nicht von einer der in § 62 Abs. 4 i.V.m. Abs. 2 Satz 1 FGO genannten Personen eingelegt worden sind.
a) Nach dieser Vorschrift müssen sich die Beteiligten vor dem Bundesfinanzhof (BFH) durch Prozessbevollmächtigte vertreten lassen. Als Prozessbevollmächtigte sind Rechtsanwälte, Steuerberater, Steuerbevollmächtigte, Wirtschaftsprüfer oder vereidigte Buchprüfer zugelassen. Zur Vertretung berechtigt sind auch Gesellschaften im Sinne des § 3 Satz 1 Nr. 2 und 3 des Steuerberatungsgesetzes (StBerG), die durch Personen im Sinne des § 3 Satz 2 StBerG handeln. Behörden und juristische Personen des öffentlichen Rechts können sich zudem durch Beschäftigte mit Befähigung zum Richteramt vertreten lassen.
b) Diese Regelung hat der Kläger bei der Einlegung seiner Beschwerden nicht beachtet, obwohl er in der Rechtsmittelbelehrung der angefochtenen Urteile ausdrücklich auf die Notwendigkeit der Vertretung durch einen Prozessbevollmächtigten für den Fall der Erhebung der Beschwerde hingewiesen worden ist.
c) Entgegen der Auffassung des Klägers ist die gesetzliche Regelung über den Vertretungszwang verfassungsgemäß (vgl. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 11.10.1976 - 1 BvR 373/76, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 1977, 33; BFH-Entscheidungen vom 19.01.2012 - VI B 98/11, BFH/NV 2012, 759, Rz 15 ff. und vom 06.02.2013 - X K 11/12, BFHE 240, 219, BStBl II 2013, 447, Rz 7 ff., beide m.w.N.).
3. Der Senat weist allerdings ausdrücklich darauf hin, dass sich der Aufgabenkreis des für den Kläger bestellten Betreuers auch auf steuerrechtliche Angelegenheiten erstreckte (dazu unten a). Daher hätte das FG gemäß § 170a der Zivilprozessordnung (ZPO) sowohl die Ladungen zur mündlichen Verhandlung als auch die angefochtenen Urteile dem Betreuer mitteilen müssen (unten b). Zwar sind die Urteile gleichwohl wirksam gegenüber dem Kläger ergangen (unten c); bei einem künftigen Eintritt des Betreuers in das Verfahren könnte aber Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren sein (unten d).
a) Entgegen der ‑‑nicht mit einer Begründung versehenen‑‑ Auffassung des FG erstreckte sich der Aufgabenkreis (§ 1815 Abs. 1 BGB) des für den Kläger bestellten Betreuers vorliegend auch auf steuerrechtliche Angelegenheiten. Der Aufgabenbereich "Steuerrecht" muss nicht ausdrücklich im Bestellungsbeschluss aufgeführt sein; vielmehr können steuerrechtliche Angelegenheiten von anderen Aufgabenbereichen umfasst sein. Dies gilt insbesondere für den ‑‑auch im vorliegenden Fall benannten‑‑ Aufgabenbereich der "Vermögenssorge" (Grüneberg/Götz, Bürgerliches Gesetzbuch, 84. Aufl., § 1815 Rz 7).
Hinzu kommt, dass der Aufgabenkreis des Betreuers ausdrücklich auch Behördenangelegenheiten umfasst und das Steuerrecht zweifelsfrei eine Behördenangelegenheit darstellt. Aus der vom Betreuungsbeschluss in diesem Zusammenhang verwendeten Formulierung "Behörden-, Renten- und andere Sozialleistungsangelegenheiten" folgt nicht etwa, dass der Begriff "Behördenangelegenheiten" einschränkend dahingehend auszulegen ist, dass er sich nur auf den Verkehr mit Renten- und Sozialleistungsbehörden beziehen solle. Denn dies würde schon aus der Formulierung "Renten- und andere Sozialleistungsangelegenheiten" folgen; die zusätzliche Erwähnung des Wortteils "Behörden-" wäre hierfür nicht erforderlich gewesen.
b) Wird an eine Person zugestellt, für die ein Betreuer bestellt ist, ist dem Betreuer eine Abschrift des zugestellten Dokuments mitzuteilen, soweit er bekannt und sein Aufgabenkreis betroffen ist (§ 170a Abs. 1 ZPO).
Diese Vorschrift hat das FG ‑‑ausgehend von seiner Auffassung, der Aufgabenkreis des Betreuers erstrecke sich nicht auf steuerrechtliche Angelegenheiten‑‑ nicht beachtet. Tatsächlich hätte es sowohl die Ladungen zur mündlichen Verhandlung als auch die Urteile dem Betreuer mitteilen müssen.
c) Allerdings kommt es für die Wirksamkeit der Zustellung weiterhin allein auf die Zustellung an den Betreuten an, sofern dieser ‑‑wie hier‑‑ prozessfähig ist. Ein Unterbleiben der durch § 170a Abs. 1 ZPO angeordneten abschriftlichen Unterrichtung des Betreuers hat auf die Wirksamkeit der förmlichen Zustellung an den Betreuten keinen Einfluss (Oberlandesgericht Frankfurt, Urteil vom 10.05.2023 - 5 WF 15/23, Zeitschrift für das gesamte Familienrecht 2023, 1804, Rz 18, m.w.N.).
d) Gleichwohl wird das FG seiner Verpflichtung aus § 170a ZPO ‑‑jedenfalls in Bezug auf die ergangenen Urteile‑‑ noch nachkommen und diese dem Betreuer mitteilen müssen. Dieser erhält dadurch die in seinen Aufgabenkreis fallende Gelegenheit, zu prüfen, ob die Urteile ‑‑durch einen Prozessbevollmächtigten‑‑ angegriffen werden sollen. Da es naheliegend ist, dass den Betreuer ‑‑sofern er nicht schon anderweit, etwa durch den Betreuten, über die Urteile informiert worden ist‑‑ angesichts der Nichtbeachtung des § 170a ZPO durch das FG kein Verschulden an der Nichteinhaltung der Rechtsmittelfrist trifft, käme hierfür die Gewährung von Wiedereinsetzung in den vorigen Stand (§ 56 FGO) in Betracht.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.