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Beschluss vom 11. März 2025, VIII B 21/24

(Erhebliche Gründe gemäß § 227 ZPO bei verkehrsbedingt unmöglicher Anreise)

ECLI:DE:BFH:2025:B.110325.VIIIB21.24.0

BFH VIII. Senat

FGO § 155, FGO § 119 Nr 3, ZPO § 227

vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg , 15. January 2024, Az: 3 K 3187/21

Leitsätze

NV: Ist dem Kläger eine Anreise zur mündlichen Verhandlung mit öffentlichen Verkehrsmitteln aufgrund seines Gesundheitszustands unzumutbar und die Anreise mit dem eigenen Auto verkehrsbedingt unmöglich, liegt ein erheblicher Grund für eine Terminsaufhebung vor, wenn der Kläger das Gericht noch vor Beginn der mündlichen Verhandlung hierüber telefonisch informiert und nach Beendigung seiner Fahrt die Umstände seiner Verhinderung glaubhaft macht.

Tenor

Auf die Beschwerde der Kläger wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 15.01.2024 - 3 K 3187/21 aufgehoben.

Die Sache wird an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.

Tatbestand

I.

  1. Die Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) führten vor dem Finanzgericht (FG) ein Verfahren wegen Einkommensteuer 2015, 2016 und 2018. Der Einzelrichter setzte die mündliche Verhandlung zuletzt auf Montag, den 15.01.2024, um 10:00 Uhr an.

  2. Die Kläger beantragten mit Schreiben vom 09.01.2024 die Verlegung des anberaumten Termins wegen der Erkrankung des Klägers. Nach dem vorgelegten Überweisungsschein einer Ärztin litt der Kläger, Jahrgang 19xx, unter Gleichgewichtsstörungen und Schwindelsymptomatik. Im Attest vom 27.11.2023, das die Kläger mit einem vorangegangenen Terminsverlegungsantrag vorgelegt hatten, bescheinigte die behandelnde Ärztin dem Kläger unter anderem Multimorbidität. Das FG wies den Terminsverlegungsantrag vom 09.01.2024 mit Verfügung vom 10.01.2024 zurück. Die Verfügung wurde den Klägern am Tag nach der mündlichen Verhandlung (am 16.01.2024) zugestellt.

  3. Die Kläger wandten sich vor Beginn der mündlichen Verhandlung am 15.01.2024 aus dem Auto heraus telefonisch an die Geschäftsstelle des FG. Die Sachbearbeiterin verfasste dazu einen Telefonvermerk folgenden Inhalts: "Herr A rief auf der Geschäftsstelle an und teilte telefonisch mit, dass er mit seiner Frau auf dem Weg nach E sei. Aufgrund der Protestaktionen am heutigen Tag sind sämtliche Auf- und Abfahrten gesperrt, so dass eine Teilnahme an der mündlichen Verhandlung nicht möglich ist." Der Kläger bezog sich auf die Proteste der Bauernverbände, die an diesem Tag in F stattfanden. Auf die Schilderung der Vorgänge und Gesprächsinhalte nach Darlegung der Kläger in der Beschwerdebegründung wird verwiesen.

  4. Der Einzelrichter eröffnete die mündliche Verhandlung, zu der die Kläger nicht erschienen, um 10:00 Uhr und schloss sie um 10:41 Uhr. Im Anschluss an die Sitzung verkündete er das angefochtene teilstattgebende Urteil. In diesem führte das FG aus, es sei nicht gehalten gewesen, die mündliche Verhandlung aufzuheben. Zum einen haben die Kläger ausweislich der Mitteilung der Geschäftsstelle schon keinen (weiteren) Verlegungsantrag gestellt, zum anderen wäre eine rechtzeitige Anreise zum Gerichtssitz in E mit der Deutschen Bahn möglich gewesen. Einschränkungen des Bahn-Regionalverkehrs zwischen F und E habe es am heutigen Vormittag nicht gegeben.

  5. Die Kläger rügen unter anderem Verfahrensfehler dahingehend, dass das FG ihren Anspruch auf rechtliches Gehör dadurch verletzt habe, dass es ihren Anträgen auf Verlegung beziehungsweise Aufhebung des Termins zur mündlichen Verhandlung (Terminsänderungsanträge) vom 09.01.2024 sowie 15.01.2024 nicht stattgegeben und in ihrer Abwesenheit mündlich verhandelt habe.

  6. Der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt) beantragt, die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

  1. 1. Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des finanzgerichtlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 i.V.m. § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Die angegriffene Entscheidung verletzt den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör und stellt eine Rechtsverletzung im Sinne von § 119 Nr. 3 FGO dar.

  2. Das FG hat den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör dadurch verletzt, dass es trotz des gestellten Antrags auf Terminsänderung am 15.01.2024 die mündliche Verhandlung in Abwesenheit der Kläger durchgeführt hat.

  3. a) Nach § 155 FGO i.V.m. § 227 der Zivilprozessordnung (ZPO) kann aus erheblichen Gründen auf Antrag oder von Amts wegen ein Termin aufgehoben, verlegt oder eine Verhandlung vertagt werden. Bei der Entscheidung verbleibt dem Gericht kein Ermessensspielraum, wenn die Vertagung zur Gewährung des rechtlichen Gehörs notwendig ist. Das ist der Fall, wenn ein Verfahrensbeteiligter alles in seinen Kräften Stehende und nach Lage der Dinge Erforderliche getan hat, um sich durch Wahrnehmung des Verhandlungstermins rechtliches Gehör zu verschaffen, hieran jedoch ohne Verschulden gehindert worden ist (Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 29.08.2008 - X S 27/08 (PKH), unter II.2.). Wann dies der Fall ist, richtet sich nach den Umständen des Einzelfalls. Ein erheblicher Grund für die Verlegung eines anberaumten Verhandlungstermins liegt zum Beispiel vor, wenn der Prozessbeteiligte wegen eines unfallbedingten Staus zum angesetzten Termin nicht (rechtzeitig) erscheinen kann (BFH-Beschluss vom 22.01.2009 - X B 114/08, unter II.2.b) oder die Anreise wegen Streikmaßnahmen im öffentlichen Nahverkehr unmöglich ist (Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ‑‑BVerwG‑‑ vom 29.09.1994 - 3 C 28.92, BVerwGE 96, 368, unter 1.2.).

  4. b) Danach hätte das FG den Termin zur mündlichen Verhandlung am 15.01.2024 aufgrund des Terminsänderungsantrags der Kläger verlegen müssen. Den Klägern war die Anreise unverschuldet nicht möglich.

  5. aa) Das FG ist zu Unrecht davon ausgegangen, die telefonischen Mitteilungen der Kläger am Tag der mündlichen Verhandlung am 15.01.2024 seien nicht als Terminsänderungsantrag im Sinne von § 155 FGO i.V.m. § 227 ZPO auszulegen, sondern lediglich als Mitteilung der Kläger, sie könnten zur mündlichen Verhandlung nicht erscheinen.

  6. aaa) Nach ständiger Rechtsprechung des BFH sind Prozesserklärungen wie sonstige Willenserklärungen auslegungsfähig. Ziel der Auslegung ist es, den wirklichen Willen des Erklärenden zu erforschen (§ 133 des Bürgerlichen Gesetzbuchs). Auf die Wortwahl und die Bezeichnung kommt es nicht entscheidend an, sondern auf den gesamten Inhalt der Willenserklärung. Dabei können auch außerhalb der Erklärung liegende weitere Umstände berücksichtigt werden. Nur eine solche Auslegung trägt dem Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung von Verfahrensvorschriften (Art. 19 Abs. 4 des Grundgesetzes) Rechnung (vgl. BFH-Beschluss vom 28.11.2016 - VIII B 47/16, BFH/NV 2017, 468, Rz 10, m.w.N.).

  7. bbb) Nach dem Inhalt der unbestrittenen Darlegung der Abläufe am 15.01.2024 in der Beschwerdebegründung ist die telefonische Äußerung der Kläger am Morgen des 15.01.2024 als Terminsänderungsantrag auszulegen. Zwar spricht der vom FG in Bezug genommene Telefonvermerk der Geschäftsstelle anders als die eigene Schilderung der Kläger nicht davon, dass ein Terminsänderungsantrag gestellt worden sei. Die Kläger haben jedoch deutlich gemacht, dass ihnen mit dem Pkw die begonnene Anreise zum Termin an diesem Tag auf unbestimmte Zeit nicht möglich sei. Dieses Vorbringen konnte das FG bei sachgerechter Auslegung nur als Terminsänderungsantrag verstehen. Der Antrag des Klägers, der Rechtsanwalt ist, bedurfte auch nicht der Form des § 52d FGO (vgl. BFH-Beschluss vom 23.04.2024 - VIII B 31/23, BFH/NV 2024, 767, Rz 9).

  8. bb) Den Terminsänderungsantrag der Kläger vom 15.01.2024 hat das FG zu Unrecht abgelehnt. Die Kläger waren unverschuldet an der Anreise gehindert. Dies gilt sowohl für die Anreise mit öffentlichen Verkehrsmitteln als auch mit dem eigenen Auto.

  9. aaa) Unabhängig von der Frage, ob es geboten sein könnte, für die Anreise zum Terminsort von der Verwendung des eigenen Autos abzusehen und auf die Benutzung öffentlicher Verkehrsmittel auszuweichen (dies verneinend für den umgekehrten Fall BVerwG-Urteil vom 29.09.1994 - 3 C 28.92, BVerwGE 96, 368-372, unter 1.2.), ist im Streitfall nicht erkennbar, dass es für die Kläger unter Berücksichtigung der Gesamtumstände des Einzelfalls zumutbar gewesen wäre, zur mündlichen Verhandlung mit öffentlichen Verkehrsmitteln, das heißt mit Bus und Bahn, anzureisen. Nach Aktenlage war der Kläger zum Zeitpunkt der mündlichen Verhandlung … Jahre alt und litt unter Gleichgewichtsstörungen und einer Schwindelsymptomatik. Nach dem Vortrag der Kläger in ihrer Beschwerdebegründung hätte die weitere Anreise mit dem Zug und dem Bus ungefähr drei Stunden gedauert, mehrere Umstiege und längere Fußwege erfordert. Zudem war aufgrund der Bauernproteste naheliegend, dass auch der öffentliche Verkehr am 15.01.2024 als Ausweichoption im Berufsverkehr überdurchschnittlich stark belastet war.

  10. Die Klägerin war zwar nach Aktenlage nicht selbst erkrankt. Aufgrund des ärztlich bescheinigten Gesundheitszustands des Klägers musste sie diesen bei der Anreise jedoch unterstützen.

  11. bbb) Den Klägern ist auch kein Planungsverschulden dahingehend anzulasten, dass sie für ihre Fahrt zum FG mit dem Auto keine längere Anfahrtszeit eingerechnet haben. Zwar waren die Bauernproteste langfristig angekündigt und Gegenstand der medialen Berichterstattung; insoweit lag keine Vergleichbarkeit mit einem unvorhergesehenen Verkehrsstau vor (vgl. auch BFH-Beschluss vom 17.04.2024 - X B 68, 69/23, BFH/NV 2024, 845, Rz 13). Der Senat ist nach dem unwidersprochenen Vortrag der Kläger und fehlender entgegenstehender Feststellungen des FG davon überzeugt, dass eine Anreise von F nach E mit dem Auto am Morgen des 15.01.2024 wegen der Bauernproteste in F faktisch nicht möglich war. Die faktische Vollsperrung der Verkehrswege aufgrund der Bauernproteste betraf nicht nur die von den Bauern gewählten Protestrouten, sondern wegen des Ausweichens im (Berufs-)Verkehr auch sämtliche anderen Routen (vgl. beispielsweise https://...). Dies bestätigt auch der vom FG in Bezug genommene Telefonvermerk der Geschäftsstelle, die das Vorbringen der Kläger enthält, "sämtliche Auf- und Abfahrten" seien gesperrt.

  12. cc) Die Kläger haben das Gericht noch vor Beginn der mündlichen Verhandlung über ihre Verhinderung telefonisch informiert und die Umstände ihrer Verhinderung dem FG gegenüber so weit wie möglich glaubhaft gemacht (zu diesem Erfordernis vgl. BFH-Beschluss vom 22.01.2009 - X B 114/08, unter II.2.b).

  13. c) Nicht entscheidend ist, dass die Kläger nicht dargelegt haben, was sie bei ausreichender Gewährung des rechtlichen Gehörs noch vorgetragen hätten und dass dieser Vortrag die Entscheidung des Gerichts hätte beeinflussen können, weil das FG verfahrensfehlerhaft in ihrer Abwesenheit aufgrund mündlicher Verhandlung entschieden hat (Beschluss des Großen Senats des BFH vom 03.09.2001 - GrS 3/98, BFHE 196, 39, BStBl II 2001, 802).

  14. 2. Von einer weitergehenden Begründung ‑‑auch hinsichtlich der weiteren von den Klägern gerügten Verfahrensfehler‑‑ wird gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO abgesehen. Der Senat hält es für zweckmäßig, das FG-Urteil gemäß § 116 Abs. 6 FGO aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.

  15. 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

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