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Urteil vom 22. Oktober 2024, VIII R 33/21

Steuerliches Einlagekonto: Offenbare Unrichtigkeit trotz fehlender Erkennbarkeit des zutreffenden Werts

ECLI:DE:BFH:2024:U.221024.VIIIR33.21.0

BFH VIII. Senat

AO § 129 S 1, KStG § 27 Abs 2, KStG VZ 2010

vorgehend FG München, 20. April 2021, Az: 6 K 1311/18

Leitsätze

NV: Allein der Umstand, dass zur Bestimmung der zutreffenden Höhe des steuerlichen Einlagekontos nicht die mechanische Übernahme der im Jahresabschluss angegebenen Kapitalrücklage ausreicht, sondern auf einer zweiten Stufe noch weitere Sachverhaltsermittlungen zur Höhe des steuerlichen Einlagekontos erforderlich sind, schließt eine offenbare Unrichtigkeit im Sinne des § 129 Satz 1 der Abgabenordnung nicht aus (Bestätigung des Urteils des Bundesfinanzhofs vom 08.12.2021 - I R 47/18, BFHE 275, 293, BStBl II 2022, 827).

Tenor

Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Finanzgerichts München vom 20.04.2021 - 6 K 1311/18 aufgehoben.

Die Sache wird an das Finanzgericht München zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.

Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des gesamten Verfahrens übertragen.

Tatbestand

I.

  1. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine im Jahr 2010 gegründete GmbH. Die Alleingesellschafterin A erhöhte mit notariellem Vertrag vom 25.03.2010 das Stammkapital der Klägerin um 100 € (auf 25.100 €) und brachte ihre Beteiligung (25 %) an einer GbR zu Buchwerten nach § 20 des Umwandlungssteuergesetzes ‑‑UmwStG‑‑) in die Klägerin ein.

  2. In ihrer Erklärung zur gesonderten Feststellung des steuerlichen Einlagekontos auf den 31.12.2010 gab die Klägerin den Bestand des steuerlichen Einlagekontos mit 0 € an. In der Bilanz der Klägerin auf den 31.12.2010 ist eine Kapitalrücklage von 1.073.611,72 € ausgewiesen. Im Jahresabschluss 2010 ist dazu erläutert, die Gesellschafterin A habe in der GbR einen Eigenkapitalanteil von 1.073.711,72 € gehabt, von dem 100 € für die Erhöhung des Stammkapitals der Klägerin verwendet worden seien.

  3. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt ‑‑FA‑‑) stellte das steuerliche Einlagekonto der Klägerin zum 31.12.2010 durch Bescheid vom 11.05.2012 erklärungsgemäß in Höhe von 0 € fest. Der Bescheid ist nach Eintritt der Bestandskraft mehrfach nach § 175 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) geändert worden. Die Feststellung des steuerlichen Einlagekontos mit 0 € änderte sich dadurch nicht. Die nachfolgenden Feststellungsbescheide zum 31.12.2011 und 31.12.2012 stehen jeweils unter dem Vorbehalt der Nachprüfung. Gegen die geänderten Feststellungsbescheide zum 31.12.2010, 31.12.2011 und 31.12.2012, jeweils vom 05.08.2014, legte die Klägerin Einsprüche ein. Sie beantragte zudem die Berichtigung des Bescheids zum 31.12.2010 gemäß § 129 AO. Das FA lehnte die Berichtigung mit Bescheid vom 09.02.2015 ab. Dagegen erhob die Klägerin ebenfalls Einspruch.

  4. Mit Einspruchsentscheidung vom 04.04.2018 verwarf das FA den Einspruch gegen den Feststellungsbescheid zum 31.12.2010 als unzulässig und wies die übrigen Einsprüche als unbegründet zurück. Die dagegen eingelegte Klage hatte aus den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2022, 1176 veröffentlichten Gründen keinen Erfolg. Die Voraussetzungen für eine Berichtigung des Feststellungsbescheids zum 31.12.2010 lägen nicht vor. Zur Feststellung des steuerlichen Einlagekontos hätte das FA den Sachverhalt weiter aufklären müssen. Deshalb könne der Bescheid nicht berichtigt werden. Auch eine unzutreffende Anwendung von § 20 UmwStG und § 27 des Körperschaftsteuergesetzes (KStG) sei nicht auszuschließen.

  5. Mit ihrer Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Bundesrechts (§ 129 AO).

  6. Die Klägerin beantragt sinngemäß,
    das Urteil des Finanzgerichts (FG) München vom 20.04.2021 sowie den ablehnenden Bescheid vom 09.02.2015 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 04.04.2018 aufzuheben und das FA zu verpflichten, das steuerliche Einlagekonto der Klägerin zum 31.12.2010 in Höhe von 1.073.611,72 € festzustellen.

  7. Das FA beantragt,
    die Revision der Klägerin als unbegründet zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

  1. Im Revisionsverfahren ist nur noch streitig, ob das FA die Berichtigung des Feststellungsbescheids auf den 31.12.2010 zu Recht abgelehnt hat. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).

  2. 1. Nach § 129 Satz 1 AO kann die Finanzbehörde Schreibfehler, Rechenfehler und ähnliche offenbare Unrichtigkeiten, die beim Erlass eines Verwaltungsakts unterlaufen sind, jederzeit berichtigen. Bei berechtigtem Interesse des Beteiligten ist zu berichtigen (§ 129 Satz 2 AO).

  3. a) Die Berichtigung nach § 129 AO setzt grundsätzlich voraus, dass die offenbare Unrichtigkeit in der Sphäre der den Verwaltungsakt erlassenden Finanzbehörde entstanden ist. Die Unrichtigkeit muss aber nicht aus dem Bescheid selbst erkennbar sein. § 129 AO ist daher auch anwendbar, wenn die Behörde offenbar fehlerhafte Angaben des Steuerpflichtigen als eigene übernimmt (sogenannte Übernahmefehler; ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 30.11.2023 - IV R 13/21, BFH/NV 2024, 371, Rz 41, m.w.N.).

  4. b) Offenbare Unrichtigkeiten im Sinne des § 129 AO sind mechanische Versehen wie beispielsweise Eingabe- oder Übertragungsfehler. Ein Fehler ist offenbar, wenn er auf der Hand liegt, also durchschaubar, eindeutig oder augenfällig ist (BFH-Urteil vom 29.01.2003 - I R 20/02, BFH/NV 2003, 1139, Rz 13, m.w.N.). Dagegen schließen Fehler bei der Auslegung oder Anwendung einer Rechtsnorm, eine unrichtige Tatsachenwürdigung oder die unzutreffende Annahme eines in Wirklichkeit nicht vorliegenden Sachverhalts, eine offenbare Unrichtigkeit aus. § 129 AO ist nicht anwendbar, wenn auch nur die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass die Nichtbeachtung einer feststehenden Tatsache in einer fehlerhaften Tatsachenwürdigung oder einem sonstigen sachverhaltsbezogenen Denk- oder Überlegungsfehler begründet ist oder auf mangelnder Sachverhaltsaufklärung beruht (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteil vom 30.11.2023 - IV R 13/21, BFH/NV 2024, 371, Rz 42, m.w.N.).

  5. c) Ob ein mechanisches Versehen oder ein die Berichtigung nach § 129 AO ausschließender Tatsachen- oder Rechtsirrtum vorliegt, muss nach den Verhältnissen des Einzelfalls beurteilt werden (ständige Rechtsprechung, z.B. BFH-Urteil vom 30.11.2023 - IV R 13/21, BFH/NV 2024, 371, Rz 43, m.w.N.). In Fällen, in denen die offenbare Unrichtigkeit auf der versehentlichen Nichtangabe eines Werts in der Steuererklärung beruht, ist § 129 Satz 1 AO bereits dann anwendbar, wenn für jeden unvoreingenommenen Dritten klar und deutlich erkennbar ist, dass die Nichtangabe fehlerhaft ist. Entsprechendes gilt, wenn (nur) die Angabe einer Endsumme mit 0 € erfolgt und dies erkennbar unrichtig ist (vgl. BFH-Urteil vom 08.12.2021 - I R 47/18, BFHE 275, 293, BStBl II 2022, 827, Rz 22). Allein der Umstand, dass zur Bestimmung der zutreffenden Höhe des steuerlichen Einlagekontos nicht die mechanische Übernahme der im Jahresabschluss angegebenen Kapitalrücklage ausreicht, sondern auf einer zweiten Stufe noch weitere Sachverhaltsermittlungen zur Höhe des steuerlichen Einlagekontos erforderlich sind, schließt eine offenbare Unrichtigkeit im Sinne des § 129 Satz 1 AO nicht aus (BFH-Urteil vom 08.12.2021 - I R 47/18, BFHE 275, 293, BStBl II 2022, 827, Rz 23). Der Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an.

  6. 2. Das FG ist von anderen Maßstäben ausgegangen. Die Voraussetzungen für eine Berichtigung des geänderten Bescheids über die gesonderte Feststellung von Besteuerungsgrundlagen zum 31.12.2010 nach § 129 Satz 1 AO liegen vor. Das angefochtene Urteil ist daher aufzuheben.

  7. a) Zu Recht ist das FG davon ausgegangen, dass es für die Feststellung des steuerlichen Einlagekontos zum 31.12.2010 weiterer Sachverhaltsaufklärung und Prüfung bedarf. Das FG hat daraus aber rechtsfehlerhaft den Schluss gezogen, dass die Berichtigung nach § 129 Satz 1 AO nicht möglich sei. Das trifft nicht zu. Allein der Umstand, dass zur Bestimmung der zutreffenden Höhe des steuerlichen Einlagekontos noch weitere Sachverhaltsermittlungen erforderlich sind, schließt eine offenbare Unrichtigkeit im Sinne des § 129 Satz 1 AO nicht aus (vgl. BFH-Urteil vom 08.12.2021 - I R 47/18, BFHE 275, 293, BStBl II 2022, 827, Rz 23).

  8. b) Die Voraussetzungen für eine Berichtigung des angefochtenen Feststellungsbescheids nach § 129 Satz 1 AO liegen im Übrigen vor. Die Feststellung des steuerlichen Einlagekontos zum 31.12.2010 mit 0 € ist auf der Grundlage der vom FG getroffenen tatsächlichen Feststellungen offenbar unrichtig. Es liegt ein sogenannter Übernahmefehler des FA vor. Sowohl die fehlerhafte Angabe des steuerlichen Einlagekontos mit 0 € in der Feststellungserklärung der Klägerin als auch deren Übernahme durch das FA beruhen jeweils auf quasi mechanischen Versehen; eine gedankliche Fehlleistung kann aufgrund der vom FG festgestellten Umstände auf beiden Ebenen ausgeschlossen werden.

  9. Es steht außer Streit, dass im Streitjahr 2010 eine Einbringung stattgefunden hat. Nach einer Einbringung könnte der Bestand des steuerlichen Einlagekontos nur 0 € betragen, wenn entweder der Wert der eingebrachten Wirtschaftsgüter exakt dem Nennwert der ausgegebenen Anteile (hier: 100 €) entspräche oder wenn die Sacheinlage den Nennwert der ausgegebenen Anteile nicht erreichen würde. In diesem Fall wäre auch der Grundsatz der Kapitalaufbringung verletzt und die Kapitalerhöhung hätte nicht in das Handelsregister eingetragen werden dürfen. Dafür, dass ein solcher Fall vorgelegen haben könnte, spricht im Streitfall nichts. In allen anderen denkbaren Fällen kann das steuerliche Einlagekonto nicht 0 € betragen. So liegt auch der Streitfall, denn in der Bilanz der Klägerin auf den 31.12.2010 ist eine Kapitalrücklage von 1.073.611,72 € ausgewiesen und dieser Wert ist im Jahresabschluss der Klägerin nachvollziehbar erläutert. Selbst wenn man davon ausginge, dass dem FA im Feststellungsverfahren der Einbringungsvertrag noch nicht vorlag, war für einen unvoreingenommenen Dritten unter den gegebenen Umständen offensichtlich, dass der Bestand des steuerlichen Einlagekontos nicht 0 € betragen konnte.

  10. 3. Die Sache ist nicht spruchreif. Die vom FG bisher festgestellten Tatsachen reichen nicht aus, um die zutreffende Höhe des steuerlichen Einlagekontos zum 31.12.2010 ermitteln zu können. Der Senat kann deshalb die begehrte Verpflichtung nicht aussprechen. Das FG wird die Höhe des steuerlichen Einlagekontos nach § 27 Abs. 2 KStG zum 31.12.2010 zu ermitteln und über das Verpflichtungsbegehren erneut zu entscheiden haben.

  11. 4. Die Entscheidung ergeht mit dem Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 121 Satz 1 i.V.m. § 90 Abs. 2 FGO).

  12. 5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.

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