ECLI:DE:BFH:2024:B.090424.IXB35.23.0
BFH IX. Senat
FGO § 96 Abs 1 S 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 116 Abs 6, AO § 129
vorgehend FG München, 23. March 2023, Az: 11 K 2386/22
Leitsätze
1. NV: Das Gesamtergebnis des Verfahrens umfasst den gesamten durch das Klagebegehren begrenzten und durch die Sachaufklärung des Gerichts und die Mitverantwortung der Beteiligten konkretisierten Prozessstoff.
2. NV: § 129 der Abgabenordnung ist nicht anwendbar, wenn auch nur die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass die Nichtbeachtung einer feststehenden Tatsache in einer fehlerhaften Tatsachenwürdigung oder einem sonstigen sachverhaltsbezogenen Denk- oder Überlegungsfehler begründet ist oder auf mangelnder Sachverhaltsaufklärung beruht.
Tenor
Auf die Beschwerde des Beklagten wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts München vom 23.03.2023 - 11 K 2386/22 aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht München zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten um die Berichtigung eines Steuerbescheids wegen einer offenbaren Unrichtigkeit nach § 129 der Abgabenordnung (AO).
Die Kläger und Beschwerdegegner (Kläger) wurden in den Streitjahren 2019 und 2020 zusammen zur Einkommensteuer veranlagt. In ihren Einkommensteuererklärungen erklärten sie unter anderem Einkünfte aus Vermietung und Verpachtung aus einem Objekt mit zwei Eigentumswohnungen mit jeweiligem Stellplatz. In ihrer Einkommensteuererklärung 2018 hatten die Kläger für die Wohnung 1 eine Gesamtmiete in Höhe von 4.120 € und für die Wohnung 2 in Höhe von 1.980 € erklärt.
In den Dauerunterlagen des Beklagten und Beschwerdeführers (Finanzamt ‑‑FA‑‑) befanden sich Auszüge aus den Mietverträgen. Danach begann das Mietverhältnis für die Wohnung 1 (Erdgeschoss - 66 qm) ausweislich des Mietvertrags am 01.09.2018. Die monatliche Kaltmiete betrug 555 € und die Miete für den Stellplatz 25 €. Die Nebenkostenvorauszahlung betrug 180 €. Die monatliche Gesamtmiete betrug damit 760 €. Hinsichtlich der Wohnung 2 (Obergeschoss - 53 qm) begann ausweislich des Mietvertrags das Mietverhältnis ebenfalls am 01.09.2018. Nach dem zum 25.01.2019 geänderten Mietvertrag betrug die monatliche Kaltmiete 470 € und die monatliche Miete für den Stellplatz 25 €. Die monatliche Nebenkostenvorauszahlung belief sich auf 180 €. Damit betrug die Gesamtmiete 675 €. Ab dem 01.03.2020 wurde eine monatliche Kaltmiete von 485 € und eine monatliche Miete für den Stellplatz von 35 € vereinbart. Die monatliche Gesamtmiete belief sich auf 700 €.
In ihren Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre machten die Kläger in der Anlage V unter anderem die folgenden Angaben:
Veranlagungszeitraum 2019
Gesamt
Wohnung 1 (66 qm) Mieteinnahmen ohne Umlagen
9.120 €
Wohnung 2 (53 qm) Mieteinnahmen ohne Umlagen
8.100 €
Stellplatz
600 €
Umlagen
4.320 €
22.140 €
Veranlagungszeitraum 2020
Wohnung 1 (66 qm) Mieteinnahmen ohne Umlagen
9.120 €
Wohnung 2 (53 qm) Mieteinnahmen ohne Umlagen
8.350 €
Stellplatz
700 €
Umlagen
4.320 €
22.490 €
In der in der Anlage V 2019 und 2020 erklärten Kaltmiete waren die Umlagen in Höhe von 4.320 € bereits enthalten. Dies führte zu einer Doppelerfassung der Umlagen. Der Grund für die doppelte Erfassung war, dass der Kläger für die Ermittlung der Werte eine Excel-Tabelle genutzt und dort falsche Werte eingegeben hatte. Die Excel-Tabelle war nicht mit den Einkommensteuererklärungen für die Streitjahre an das FA übersandt worden. Auch weitere Erläuterungen zu den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung machten die Kläger im Veranlagungsverfahren nicht.
Anlässlich der Veranlagung für das Jahr 2019 warf das Risikomanagementsystem des FA einen Prüfhinweis (Nr. 5723) aus: "Die Mieteinnahmen (…) haben sich gegenüber dem Vorjahr (…) erhöht. Bitte prüfen." Die zuständige Sachbearbeiterin prüfte daraufhin die Höhe der Mieteinnahmen, sah aber keinen Anlass, geänderte Werte zu erfassen. Stattdessen vermerkte sie in der Einkommensteuerakte für 2019 zu dem Prüfhinweis: "gepr. ganzjährig vermietet". Das FA veranlagte demzufolge die Kläger mit Einkommensteuerbescheiden vom 19.10.2021 für beide Streitjahre erklärungsgemäß.
Am 30.11.2021 beantragte der Kläger die Berichtigung der beiden Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre nach § 129 AO. Er führte aus, er habe versehentlich die Kaltmieten falsch addiert. Daher seien die Nebenkosten und die Stellplatzmiete doppelt erfasst worden. Richtigerweise seien für das Jahr 2019 nur Einnahmen in Höhe von 17.220 € und für das Jahr 2020 in Höhe von 17.470 € zu berücksichtigen.
Das FA lehnte eine Änderung der streitigen Einkommensteuerveranlagungen ab. Der nachfolgende von den Klägern eingelegte Einspruch blieb ohne Erfolg.
Der von den Klägern erhobenen Klage wurde mit Urteil des Finanzgerichts München (FG) vom 23.03.2023 - 11 K 2386/22 stattgegeben. Das FG führte aus, die Voraussetzungen für eine Berichtigung nach § 129 AO hätten vorgelegen. Das FA habe anhand der ihm vorliegenden Mietverträge erkennen und ermitteln können, dass die jährliche Kaltmiete im Jahr 2019 12.300 € und im Jahr 2020 12.450 € betragen habe. Die Steuererklärungen seien daher unrichtig gewesen. Die Unrichtigkeit der Steuererklärungen sei auch angesichts der vorliegenden Mietverträge offenbar gewesen. Ein Rechtsfehler der Kläger sei ausgeschlossen. Das FA habe die offenbare Unrichtigkeit bei der Erstellung der Steuerbescheide übernommen und zu hohe Einkünfte angesetzt. Die offenbare Unrichtigkeit schlage daher auf die Einkommensteuerbescheide für 2019 und 2020 durch. Anhaltspunkte dafür, dass das FA rechtliche Überlegungen hinsichtlich der falschen Eintragungen angestellt haben könnte, seien nicht ersichtlich.
Mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde beruft sich das FA auf die Zulassungsgründe der Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung sowie auf das Vorliegen eines Verfahrensfehlers. Das FG stelle einen tragenden Rechtssatz auf, der gegen die ebenfalls tragenden Rechtssätze in zahlreichen Entscheidungen des Bundesfinanzhofs (BFH) verstoße. Zudem habe das FG seine Sachaufklärungspflicht verletzt. Das FG sei nicht auf den Umstand eingegangen, dass anlässlich der Veranlagung der Kläger das Risikomanagementsystem des FA einen Prüfhinweis ausgegeben habe. Dieser habe die zuständige Sachbearbeiterin dazu verpflichtet, die Höhe der Mieteinnahmen einer Prüfung zu unterziehen. Die Sachbearbeiterin habe sich aufgrund des Prüfhinweises bewusst mit der Erhöhung der Mieteinnahmen im Vergleich zum Vorjahr auseinandergesetzt. Sie habe das Ergebnis ihrer Prüfung in der Akte vermerkt. Diese Tatsachen ergäben sich aus in der Gerichtsakte vorliegenden Unterlagen. Das FA habe in seiner Stellungnahme im Klageverfahren ausdrücklich darauf hingewiesen. Gleichwohl habe das FG diesen Umstand nicht berücksichtigt. Mithin habe das FG seiner Entscheidung einen unvollständigen Sachverhalt zugrunde gelegt. Hätte das FG seiner Entscheidung den zutreffenden Sachverhalt zugrunde gelegt, hätte sich ihm die Willensbildung durch die Sachbearbeiterin anlässlich der Veranlagung aufdrängen müssen. Eine bewusste Willensbildung schließe, selbst wenn sie unzutreffend sein sollte, eine Anwendung des § 129 AO aus.
Das FA beantragt sinngemäß,
die Revision zuzulassen.Die Kläger beantragen,
die Nichtzulassungsbeschwerde zurückzuweisen.Sie bringen vor, das FG habe den Sachverhalt zutreffend gewürdigt und zutreffend entschieden, dass die Steuerbescheide nach § 129 AO zu berichtigen seien.
Entscheidungsgründe
II.
Die Beschwerde ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Zurückverweisung der Sache an das FG gemäß § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Das angefochtene Urteil beruht auf einem Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
1. Das FG hat gegen die Pflicht zur vollständigen Berücksichtigung des Streitstoffs verstoßen (§ 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO).
a) Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Das Gesamtergebnis des Verfahrens umfasst den gesamten durch das Klagebegehren begrenzten und durch die Sachaufklärung des Gerichts und die Mitverantwortung der Beteiligten konkretisierten Prozessstoff (BFH-Beschlüsse vom 04.02.2021 - VIII B 38/20, Rz 3 und vom 20.09.2022 - VIII B 135/21, Rz 4). Das Gesamtergebnis des Verfahrens wird insbesondere konkretisiert durch die Schriftsätze der Beteiligten, ihr Vorbringen in der mündlichen Verhandlung sowie in einem etwaigen Erörterungstermin, ihr Verhalten, die den Streitfall betreffenden Steuerakten, beigezogene Akten eines anderen Verfahrens, vom Gericht eingeholte Auskünfte, Urkunden und die aufgrund einer gegebenenfalls durchgeführten Beweisaufnahme gewonnenen Beweisergebnisse. Auch offenkundige und gerichtsbekannte Tatsachen sind zu berücksichtigen (BFH-Beschlüsse vom 23.04.2020 - X B 156/19, Rz 10 und vom 20.09.2022 - VIII B 135/21, Rz 4). Ein Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten liegt unter anderem dann vor, wenn das FG eine nach Aktenlage feststehende Tatsache, die richtigerweise in die Beweiswürdigung hätte einfließen müssen, unberücksichtigt lässt (vgl. u.a. Senatsbeschluss vom 14.10.2020 - IX B 33/20, Rz 3).
b) Das FG hat sowohl den Inhalt der Steuerakten als auch das in der FG-Akte enthaltene Vorbringen der Beteiligten nicht vollständig und zutreffend in seine Entscheidung einbezogen.
aa) Zunächst lässt sich der angefochtenen Entscheidung des FG nicht entnehmen, dass es den Prüfhinweis des Risikomanagementsystems und die nachfolgenden, aus der Akte erkennbaren Sachverhaltsermittlungen und tatsächlichen Würdigungen der Sachbearbeiterin in seine Entscheidung einbezogen hat. Fehlerhaft geht das FG insoweit von einer bloßen Übernahme der erklärten Werte aus. Die Tatsache, dass die Sachbearbeiterin hinsichtlich der Einnahmen bei den Einkünften aus Vermietung und Verpachtung anhand des Akteninhalts erkennbar eine Prüfung und Beurteilung vorgenommen und das Ergebnis in der Akte dokumentiert hat, wird vom FG nicht berücksichtigt.
bb) Ebenfalls nicht berücksichtigt hat das FG das Vorbringen des FA, das diesen Umstand in seinem Schriftsatz vom 23.01.2023 in das Verfahren eingeführt hatte. Das FA hatte in seinem Schreiben zudem auf die Entscheidungserheblichkeit des Prüfhinweises und der von der Sachbearbeiterin ergriffenen Schritte hingewiesen.
cc) Der Verfahrensfehler war für die Entscheidung erheblich. Denn § 129 AO ist nicht anwendbar, wenn auch nur die ernsthafte Möglichkeit besteht, dass die Nichtbeachtung einer feststehenden Tatsache in einer fehlerhaften Tatsachenwürdigung oder einem sonstigen sachverhaltsbezogenen Denk- oder Überlegungsfehler begründet ist oder auf mangelnder Sachverhaltsaufklärung beruht. Vor diesem Hintergrund ist eine Berichtigung nach § 129 AO nicht möglich, wenn das FA aufgrund einer Hinweismitteilung den Fall überprüft hat, es im Rahmen dieser Überprüfung zu einer neuen Willensbildung der zuständigen Beamten gekommen ist und mithin die Möglichkeit eines Rechtsirrtums nicht auszuschließen ist (ständige Rechtsprechung, z.B. Senatsurteil vom 10.12.2019 - IX R 23/18, BFHE 266, 297, BStBl II 2020, 371, Rz 19, m.w.N.).
2. Auf den weiteren vom FA gerügten Zulassungsgrund (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 2 FGO) kommt es daher nicht mehr entscheidungserheblich an.
3. Der Senat hält es für sachgerecht, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren. Das angefochtene Urteil war daher aufzuheben und der Rechtsstreit insoweit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen. Dabei wird das FG im zweiten Rechtszug zu berücksichtigen haben, dass Fehler im Bereich der Willensbildung, Fehler bei der Auslegung oder Nichtanwendung einer Rechtsnorm, eine unrichtige Tatsachenwürdigung, die unzutreffende Annahme eines in Wirklichkeit nicht vorliegenden Sachverhalts oder Fehler, die auf mangelnder Sachaufklärung beziehungsweise Nichtbeachtung feststehender Tatsachen beruhen, die Anwendung des § 129 Satz 1 AO ausschließen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.