ECLI:DE:BFH:2023:U.251023.IR9.18.0
BFH I. Senat
FGO § 40, FGO § 138, AO § 228, AO § 232
vorgehend FG München, 29. January 2018, Az: 7 K 50/16
Leitsätze
1. NV: Eine Anfechtungsklage gegen die Steuerfestsetzung (hier: Haftungsbescheid) ist wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig, wenn bereits vor Klageerhebung Zahlungsverjährung eingetreten war und der Eintritt der Zahlungsverjährung zwischen den Beteiligten nicht in Streit steht (Abgrenzung zum Urteil des Bundesfinanzhofs vom 24.04.1996 - II R 37/93, BFH/NV 1996, 865). Es liegt kein Fall der Erledigung der Hauptsache vor.
2. NV: Erlässt das Finanzamt ohne Beachtung der während des Einspruchsverfahrens gegen eine Steuerfestsetzung eingetretenen Zahlungsverjährung noch eine Einspruchsentscheidung, wird dadurch nicht erneut der Lauf einer Zahlungsverjährung ausgelöst. Das Erlöschen der Steuerforderung gemäß § 232 der Abgabenordnung als Rechtsfolge der Zahlungsverjährung ist endgültig.
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Finanzgerichts München vom 29.01.2018 - 7 K 50/16 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Tatbestand
I.
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist eine GmbH österreichischen Rechts mit Sitz in A (Republik Österreich). Sie ist eine Schwestergesellschaft der unter der gleichen Adresse ansässigen K-GmbH. Die K-GmbH betrieb eine Konzertdirektion, die Gastspielreisen ausländischer Künstler unter anderem in den Bereichen Konzert, Oper und Operette, Theater und Ballett in der Bundesrepublik Deutschland veranstaltete. Seit Herbst 2000 schaltete die K-GmbH in ihre Rechtsbeziehungen zu den inländischen Veranstaltern eine beteiligungsidentische inländische GmbH (Y) mit Sitz in B ein.
Die K-GmbH gab hinsichtlich der an die Künstler geleisteten Vergütungen keine Steueranmeldungen für die Abzugsteuer nach § 50a Abs. 4 des Einkommensteuergesetzes in der für die Jahre 2000 bis 2005 (Streitzeitraum) geltenden Fassung (EStG) ab und wurde durch den Beklagten und Revisionsbeklagten (Finanzamt ‑‑FA‑‑) durch Haftungsbescheide nach § 50a Abs. 5 Satz 5 EStG für den unterlassenen Steuerabzug in Anspruch genommen. Im Rahmen von gegen die Haftungsbescheide gerichteten Verfahren auf Aussetzung der Vollziehung stellte sich heraus, dass für einen Teil der Künstlerauftritte nicht die K-GmbH, sondern die Klägerin Auftraggeberin und Vergütungsschuldnerin gewesen ist.
In der Folge forderte das FA die Klägerin auf, Steueranmeldungen für die Abzugsteuer einzureichen. Nachdem die Klägerin dem nicht nachgekommen war und auch weder Freistellungsbescheinigungen der Künstler eingereicht noch Vertragsunterlagen über die Gastspielreisen vorgelegt hatte, erließ das FA unter dem 23.01.2006 sechs Haftungsbescheide für den Streitzeitraum ‑‑jeweils zusammengefasst für ein Kalenderjahr‑‑ gegen die Klägerin. Die Bemessungsgrundlage für den Steuerabzug ermittelte das FA durch Schätzung, indem es Kontrollmitteilungen über die von der Y mit den inländischen Veranstaltern abgeschlossenen Auftrittsvereinbarungen auswertete und die darin vereinbarten Vergütungen jeweils zur Hälfte der Klägerin und der K-GmbH als an die Künstler weitergeleitete Vergütungen zurechnete. Im Einzelnen wurde die Klägerin für folgende Haftungsbeträge in Anspruch genommen:
Zeitraum
Einkommensteuer
Solidaritätszuschlag
2000
… €
… €
2001
… €
… €
2002
… €
… €
2003
… €
… €
2004
… €
… €
2005
… €
… €
Die gegen die Haftungsbescheide von der Klägerin erhobenen Einsprüche wurden vom FA mit Einspruchsentscheidung vom 06.11.2015 zurückgewiesen. Die anschließend erhobene Klage hatte nur insoweit Erfolg, als die Haftungssumme insgesamt mehr als … € beträgt; im Übrigen hat das Finanzgericht (FG) München sie mit Urteil vom 29.01.2018 - 7 K 50/16 (Deutsches Steuerrecht kurzgefasst 2019, 141) als unbegründet abgewiesen.
Gegen das FG-Urteil richtet sich die Revision der Klägerin.
Nachdem die Klägerin sich in ihrer Revisionsbegründung unter anderem auf Zahlungsverjährung berufen hat, erließ das FA am 14.01.2019 einen Abrechnungsbescheid gemäß § 218 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO). Darin wird festgestellt, dass mit Wirkung vom 31.12.2011 Zahlungsverjährung hinsichtlich sämtlicher festgesetzter Haftungsbeträge sowie der hierfür angefallenen Säumniszuschläge eingetreten ist.
Die Klägerin hat zuletzt den Rechtsstreit in der Hauptsache für erledigt erklärt.
Das FA stimmt der Erledigungserklärung nicht zu und beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).
1. Bei der Erklärung der Erledigung der Hauptsache durch die Klägerin handelt es sich ‑‑da das FA ihr nicht zugestimmt hat‑‑ um eine sogenannte einseitige Erledigungserklärung des Klägers. Mit der einseitigen Erledigungserklärung nimmt der Kläger von seinem bisherigen Klagebegehren Abstand und beantragt stattdessen die Feststellung, dass der Rechtsstreit in der Hauptsache erledigt ist (Senatsbeschluss vom 12.10.1988 - I R 212/84, BFHE 154, 491, BStBl II 1989, 106; Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 23.02.2012 - IV R 32/09, BFH/NV 2012, 1479).
2. Im Streitfall kann dem Feststellungsbegehren der Klägerin nicht entsprochen werden, weil das die Hauptsache erledigende Ereignis ‑‑der Eintritt der Zahlungsverjährung‑‑ nicht während der Rechtshängigkeit der Klage, sondern bereits vor Klageerhebung eingetreten ist. In dieser Situation ist die Klage wegen fehlenden Rechtsschutzbedürfnisses von vornherein unzulässig; es liegt kein Fall der Erledigung vor (Senatsurteil vom 19.05.1976 - I R 154/74, BFHE 119, 219, BStBl II 1976, 785; Brandis in Tipke/Kruse, § 138 FGO Rz 11).
a) Die Zahlungsverjährung der Forderungen aus den Haftungsbescheiden vom 23.01.2006 ist ausweislich des von der Klägerin nicht angefochtenen und daher in Bestandskraft erwachsenen Abrechnungsbescheids des FA vom 14.01.2019 mit Wirkung vom 31.12.2011 eingetreten. Der Eintritt der Zahlungsverjährung bewirkt gemäß § 232 AO, dass der Anspruch aus dem Steuerverhältnis erlischt. Nach ständiger Rechtsprechung führt der Eintritt der Zahlungsverjährung daher zur Erledigung der Hauptsache eines anhängigen Rechtsstreits über die Rechtmäßigkeit der Steuerfestsetzung (Fortfall des Rechtsschutzbedürfnisses, BFH-Urteile vom 26.04.1990 - V R 90/87, BFHE 160, 348, BStBl II 1990, 802; vom 24.04.1996 - II R 37/93, BFH/NV 1996, 865; vom 18.08.2020 - VII R 39/19, BFH/NV 2021, 329). Ist Zahlungsverjährung ‑‑wie im Streitfall‑‑ bereits vor Erhebung der Klage über die Rechtmäßigkeit der Festsetzung eingetreten, dann besteht schon im Zeitpunkt der Klageerhebung kein Rechtsschutzbedürfnis mehr; die Klage ist von vornherein unzulässig (Erledigung der Hauptsache vor Klageerhebung, vgl. Brandis in Tipke/Kruse, § 138 FGO Rz 11).
b) Nach der Rechtsprechung des II. Senats des BFH (Urteil vom 24.04.1996 - II R 37/93, BFH/NV 1996, 865) entfällt das Rechtsschutzbedürfnis für eine Anfechtungsklage gegen einen Steuerbescheid ausnahmsweise nicht, wenn mit der Klage (unter anderem) Zahlungsverjährung geltend gemacht wird und das FA im Einspruchsverfahren und im Klageverfahren die Rechtmäßigkeit des Steuerbescheids behauptet und den Eintritt der Zahlungsverjährung bestritten hat. Eine vergleichbare Konstellation liegt hier indessen nicht vor, weil weder mit der Klage die Zahlungsverjährung geltend gemacht worden ist noch das FA den Eintritt der Zahlungsverjährung vor oder nach Erhebung der Klage bestritten hat. Die Beteiligten haben im Einspruchs- und im Klageverfahren ausschließlich um die Rechtmäßigkeit der Festsetzung der Haftungsbeträge gestritten. Während des erstinstanzlichen Verfahrens haben weder die Klägerin noch das FA (und auch nicht das FG) eine mögliche Zahlungsverjährung erwogen und geprüft. Aus der Unkenntnis der Beteiligten über die eingetretene Zahlungsverjährung lässt sich aber ein Rechtsschutzbedürfnis für die Erhebung der Anfechtungsklage gegen die Steuerfestsetzung nicht ableiten.
c) Entgegen der Auffassung der Revision hat der Erlass der Einspruchsentscheidung durch das FA am 06.11.2015 hinsichtlich der mit Ablauf des 31.12.2011 zahlungsverjährten Haftungsforderungen nicht zum erneuten Beginn des Laufs einer Zahlungsverjährung geführt. Das Erlöschen der Steuerforderung gemäß § 232 AO als Rechtsfolge der Zahlungsverjährung ist endgültig. Die Forderung kann daher nach Verjährungseintritt nicht durch einen weiteren Verwaltungsakt oder eine Zahlungsaufforderung der Behörde wiederaufleben.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.