ECLI:DE:BFH:2024:B.280224.VIIIB44.22.0
BFH VIII. Senat
EStG § 20 Abs 1 Nr 1 S 2, KStG § 8 Abs 3 S 2, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 94, FGO § 96 Abs 2, GG Art 103 Abs 1, ZPO § 165, EStG VZ 2012 , KStG VZ 2012
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg , 08. March 2022, Az: 8 K 8047/19
Leitsätze
NV: Eine Überraschungsentscheidung kann vorliegen, wenn das Finanzgericht eine mittelbare verdeckte Gewinnausschüttung (vGA) nicht auf die im bisherigen Verfahren allein erörterte Frage stützt, ob die Umbuchung von Verrechnungssalden auf ein Darlehenskonto die Annahme eines Rückzahlungsverzichts der Gesellschaft rechtfertigt, sondern ohne vorherigen Hinweis darauf abstellt, dass die Absicht zur Rückzahlung der empfangenen Beträge beim Empfänger von Anfang an gefehlt habe, so dass eine vGA auch in den einzelnen Auszahlungsvorgängen zu sehen sei.
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 08.03.2022 - 8 K 8047/19 in Bezug auf die Einkommensteuerfestsetzung aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen
Tatbestand
I.
Im Ausgangsverfahren vor dem Finanzgericht (FG) war streitig, ob die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) Einnahmen aus Kapitalvermögen aufgrund einer verdeckten Gewinnausschüttung (vGA) erzielt hat (§ 20 Abs. 1 Nr. 1 Satz 2 der im Streitzeitraum anzuwendenden Fassung des Einkommensteuergesetzes).
Die Klägerin war seit September 2011 mit einem Anteil von 37,5 % mittelbare Gesellschafterin der D-GmbH. Der Ehemann der Klägerin war seit September 2011 nicht mehr an der D-GmbH beteiligt, aber deren Mitgeschäftsführer. Bis September 2011 war der Ehemann der Klägerin zu 50 % an der D-GmbH beteiligt gewesen und deren Geschäftsführer. Von 2009 bis zum 31.12.2012 zahlte die D-GmbH an den Ehemann der Klägerin laufend Geldbeträge aus. Dem lag eine "Kontokorrentvereinbarung" zwischen dem Ehemann der Klägerin und der D-GmbH zugrunde. Die Auszahlungen wurden unterjährig in der Buchführung der D-GmbH auf zwei Verrechnungskonten erfasst. Zinsen wurden nicht gezahlt, sondern vereinbarungsgemäß dem Darlehenssaldo zugeschlagen. Rückführungen in nennenswerter Höhe leistete der Ehemann der Klägerin nicht. Der Saldo der Verrechnungskonten summierte sich am 31.12.2012 auf rund 1,2 Mio. €. Zum 31.12.2012 schloss die D-GmbH die Verrechnungskonten und buchte den Darlehenssaldo auf ein Darlehenskonto um.
Der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt ‑‑FA‑‑) nahm nach einer Betriebsprüfung bei der D-GmbH eine vGA zu Gunsten der Klägerin an. Mit der Umbuchung der Verrechnungssalden auf ein Darlehenskonto zum 31.12.2012 habe die D-GmbH gegenüber dem Ehemann der Klägerin auf die Rückzahlung der an ihn ausgezahlten Beträge verzichtet. Die vGA sei der Klägerin persönlich zuzurechnen, weil sie zu diesem Zeitpunkt (mittelbare) Gesellschafterin der D-GmbH gewesen und ihr Ehemann eine ihr nahestehende Person sei (vgl. Einspruchsentscheidung vom 31.01.2019).
Die Klägerin hat dagegen Klage erhoben. Das FG hat der Klage teilweise stattgegeben. Zwar lasse die Umbuchung per 31.12.2012 nicht den Schluss auf einen Forderungsverzicht zu. Es sei jedoch davon auszugehen, dass die Absicht zur Rückzahlung von Anfang an nicht bestanden habe. Die "Kontokorrentvereinbarung" halte einem Fremdvergleich nicht stand. Deshalb begründe schon jede einzelne Auszahlung an den Ehemann der Klägerin (saldiert mit Gegenpositionen) eine vGA. Zu erfassen seien allerdings nur die Auszahlungen, die dem Ehemann der Klägerin im Jahr 2012 (Streitjahr) zugeflossen seien.
Mit der Nichtzulassungsbeschwerde macht die Klägerin unter anderem geltend, das FG habe eine Überraschungsentscheidung getroffen. Sie habe nicht damit rechnen müssen, dass das FG im angefochtenen Urteil die Annahme einer vGA der D-GmbH an die Klägerin auf die unterjährigen Auszahlungen an ihren Ehemann stützen würde.
Entscheidungsgründe
II.
1. Die Beschwerde der Klägerin ist nach ihrem wohlverstandenen Interesse ausschließlich gegen die Einkommensteuerfestsetzung und nicht gegen die Zinsfestsetzung gerichtet, über die das FG im angefochtenen Urteil ebenfalls entschieden hat (vgl. S. 8 und 19 des FG-Urteils).
2. Die Beschwerde ist begründet. Der geltend gemachte Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑) einer Überraschungsentscheidung liegt vor. Das FG hat hierdurch den Anspruch der Klägerin auf Gewährung rechtlichen Gehörs verletzt (§ 96 Abs. 2 FGO, Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes).
a) Eine Überraschungsentscheidung und eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör liegt vor, wenn das FG sein Urteil auf einen bis dahin nicht erörterten rechtlichen oder tatsächlichen Gesichtspunkt stützt und damit dem Rechtsstreit eine Wendung gibt, mit der auch ein gewissenhafter und kundiger Prozessbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nach dem bisherigen Verlauf der Verhandlung nicht rechnen musste. Einer umfassenden Erörterung der für die Entscheidung maßgeblichen Gesichtspunkte bedarf es im Vorfeld der Entscheidung nicht (vgl. Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 26.06.2021 - VIII B 46/20, BFH/NV 2021, 1511, Rz 10, m.w.N.). Zudem ist Streitgegenstand im finanzgerichtlichen Verfahren nicht das einzelne Besteuerungsmerkmal, sondern die Rechtmäßigkeit der festgesetzten Steuer, weshalb der Kläger des jeweiligen Verfahrens sich stets auch auf die Möglichkeit einstellen muss, dass im Rahmen der Klageanträge Besteuerungsgrundlagen zu seinen Lasten saldierend zu berücksichtigen sein können, selbst wenn er hierzu nichts vorgetragen hat (vgl. BFH-Beschlüsse vom 26.06.2021 - VIII B 46/20, BFH/NV 2021, 1511, Rz 10; vom 19.04.2005 - III B 19/04, juris, unter 1.).
b) Die Klägerin konnte und musste nicht damit rechnen, dass das FG im angefochtenen Urteil die vGA erstmals auf die einzelnen Auszahlungsvorgänge und nicht auf die Umbuchung der Verrechnungssalden per 31.12.2012 gestützt hat. Zwar waren die einzelnen Zahlungsvorgänge nicht streitbehaftet. Die Annahme einer vGA setzt insoweit aber die weitere rechtliche Annahme voraus, dass die Absicht zur Rückzahlung der empfangenen Beträge bei ihrem Ehemann von Anfang an fehlte. Diese Frage war im Verfahren nicht Gegenstand; die Klägerin konnte sich dazu nicht äußern. Sie musste auch nicht von sich aus in Erwägung ziehen, dass der Rechtsstreit eine derartige Wendung nehmen könnte.
aa) Nach dem für den Senat erkennbaren Ablauf des Veranlagungs-, Rechtsbehelfs- und Klageverfahrens war eine mögliche vGA aufgrund der unterjährigen einzelnen Zahlungen der D-GmbH an den Ehemann der Klägerin zu keinem Zeitpunkt Gegenstand der Erörterung.
(1) Im Einspruchsverfahren folgte das FA der Auffassung der Betriebsprüfung, dass "die [D-GmbH] auf die Rückzahlung der dem Ehemann [...] gewährten Darlehen spätestens zum Zeitpunkt der Umbuchung verzichtet" habe.
(2) Auch im finanzgerichtlichen Verfahren stritten die Beteiligten schriftsätzlich ausschließlich über das Vorliegen eines Forderungsverzichts aufgrund der Umbuchung der Verrechnungskonten per 31.12.2012 auf ein Darlehenskonto.
Weder den im finanzgerichtlichen Verfahren ausgetauschten Schriftsätzen der Beteiligten noch den schriftlichen Äußerungen des FG vor Erlass des angefochtenen Urteils lassen sich Hinweise darauf entnehmen, dass das FG nach außen erkennbar in Erwägung gezogen hat, dass die Vermögensminderung nicht in der Umbuchung der Verrechnungssalden, sondern in den unterjährigen Auszahlungen an den Ehemann der Klägerin im Streitjahr begründet liegt.
(3) Auch das Protokoll über die mündliche Verhandlung vor dem FG am 08.03.2022 lässt nicht erkennen, dass die Möglichkeit einer anderen Begründung der vGA als der vom FA angenommenen Auffassung im Rechtsgespräch mit den Beteiligten diskutiert worden ist. Dort ist lediglich vermerkt, dass die Sach- und Rechtslage erörtert worden sei.
bb) Das FG hätte der Klägerin vor der Entscheidung einen Hinweis erteilen und ihr Gelegenheit geben müssen, sich zu der Annahme zu äußern, dass die Absicht der Rückzahlung der empfangenen Leistungen bei ihrem Ehemann von Anfang an fehlte (vgl. BFH-Beschluss vom 26.06.2021 - VIII B 46/20, BFH/NV 2021, 1511, Rz 19, m.w.N.). Dies ist nicht geschehen.
Dem steht der Vortrag des FA nicht entgegen, das FG habe in der mündlichen Verhandlung darauf hingewiesen, dass "es nicht in allen Punkten dem Finanzamt folgen" werde. Es kann offen bleiben, ob dieser Hinweis geeignet gewesen wäre, die Annahme einer Überraschungsentscheidung zu verneinen. Der Senat kann schon nicht davon ausgehen, dass das FG einen solchen Hinweis erteilt hat, denn er ist aus dem Protokoll der mündlichen Verhandlung nicht ersichtlich. Ein mündlich erteilter Hinweis ist als wesentlicher Vorgang der Verhandlung in das Protokoll aufzunehmen (BFH-Beschluss vom 19.09.2014 - IX B 101/13, BFH/NV 2015, 214, Rz 10). Das Original des Sitzungsprotokolls erbringt insofern auch den negativen Beweis (§ 94 FGO i.V.m. § 165 der Zivilprozessordnung), dass der Hinweis unterblieben ist (BFH-Beschlüsse vom 19.09.2014 - IX B 101/13, BFH/NV 2015, 214, Rz 12; vom 20.09.2022 - VIII B 85/21, BFH/NV 2022, 1298, Rz 11 zu Ausschlussfristen).
c) Nicht überraschend war, dass das FG eine vGA zu Gunsten der Klägerin (und nicht zu Gunsten ihres Ehemanns) angenommen hat. Die Frage der persönlichen Zurechnung der vGA war Gegenstand unter anderem des finanzgerichtlichen Verfahrens.
d) Ob das Urteil als auf der Verletzung von Bundesrecht beruhend anzusehen ist (§ 119 Nr. 3 i.V.m. § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO) oder ob nach den Grundsätzen des Beschlusses des Großen Senats des BFH vom 03.09.2001 - GrS 3/98 (BFHE 196, 39, BStBl II 2001, 802) die Kausalitätsvermutung nicht greift, kann dahingestellt bleiben. Denn im vorliegenden Fall kann die angefochtene Entscheidung auf der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör beruhen (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO). Es erscheint nicht ausgeschlossen, dass die Klägerin zur Erschütterung des Anscheinsbeweises für eine Veranlassung durch das Gesellschaftsverhältnis in Bezug auf die unterjährigen Auszahlungen an ihren Ehemann, insbesondere zu ihrer Kenntnis der Vorgänge, vorgetragen hätte und die Entscheidung deshalb anders ausgefallen wäre (zur Erschütterung des Anscheinsbeweises vgl. BFH-Urteile vom 19.06.2007 - VIII R 54/05, BFHE 218, 244, BStBl II 2007, 830, unter II.1.d [Rz 20]; vom 19.06.2007 - VIII R 34/06, BFH/NV 2007, 2291, unter II.1.c [Rz 11]). Entsprechendes gilt für die Frage, ob die Annahme zutrifft, dass die Rückzahlungsabsicht ihres Ehemanns von Anfang an fehlte.
e) Der Senat hält es für sachgerecht, die Vorentscheidung insoweit gemäß § 116 Abs. 6 FGO aufzuheben und an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen.
3. Der Senat lässt offen, ob die weiteren von der Klägerin erhobenen Verfahrensrügen durchgreifen.
4. Über die von der Klägerin erstmals mit Schriftsatz vom 19.10.2022 (Eingang bei Gericht am selben Tag) begehrte Zulassung der Revision wegen Divergenz (§ 115 Abs. 2 Nr. 2 FGO) ist ebenfalls nicht zu entscheiden. Selbst bei Vorliegen dieses von der Klägerin geltend gemachten Revisionszulassungsgrunds wäre die Zurückverweisung ermessensgerecht (BFH-Beschluss vom 09.11.2009 - III B 188/08, BFH/NV 2010, 667, unter II.1.c [Rz 10]).
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.