ECLI:DE:BFH:2023:B.091123.IXB56.23.0
BFH IX. Senat
FGO § 91a, FGO § 119 Nr 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 3
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg , 29. June 2023, Az: 12 K 12110/22
Leitsätze
1. NV: Der Anspruch auf die vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts ist verletzt, wenn nicht alle zur Entscheidung berufenen Richter während der "Videokonferenz" für die lediglich "zugeschalteten" Beteiligten sichtbar sind (Anschluss an Beschluss des Bundesfinanzhofs vom 30.06.2023 - V B 13/22, BFHE 280, 425).
2. NV: Die gerichtsseitige Verantwortlichkeit für die Durchführung der Videoverhandlung betrifft nicht die technische Ausstattung der Beteiligten.
3. NV: Die Beteiligten müssen selbst dafür sorgen, dass sie technisch in der Lage sind, der Verhandlung in Bild und Ton zu folgen und Verfahrenshandlungen vorzunehmen.
Tenor
Die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 29.06.2023 - 12 K 12110/22 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Gründe
Die Beschwerde ist ‑‑soweit sie im Hinblick auf die gesetzlichen Darlegungsanforderungen des § 116 Abs. 3 Satz 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zulässig ist‑‑ unbegründet.
1. Das angefochtene Urteil beruht nicht auf einem Verfahrensmangel nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO.
a) Soweit die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) eine Besetzungsrüge nach § 119 Nr. 1 FGO i.V.m. Art. 101 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes erhebt, weil sie wegen der technischen Gestaltung der Videoverhandlung nach § 91a FGO die Gesichter der beteiligten Richter nicht habe erkennen können, entsprechen ihre Ausführungen nicht den Darlegungsanforderungen.
aa) Der Anspruch auf die vorschriftsmäßige Besetzung des erkennenden Gerichts ist verletzt, wenn nicht alle zur Entscheidung berufenen Richter während der "Videokonferenz" für die lediglich "zugeschalteten" Beteiligten sichtbar sind. Nicht zulässig ist es daher, den alleinigen Bildausschnitt auf einzelne Richter ‑‑etwa den Vorsitzenden‑‑ zu beschränken (Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 30.06.2023 - V B 13/22, BFHE 280, 425, Rz 11). "Zugeschaltete" Prozessbeteiligte müssen vielmehr alle Richter sehen und hören können. Sie müssen feststellen können, ob die beteiligten Richter körperlich und geistig in der Lage sind, der Verhandlung in ihren wesentlichen Abschnitten zu folgen oder ob einer oder mehrere von ihnen während der Verhandlung eingeschlafen ist oder sind, erst verspätet auf der Richterbank Platz genommen oder diese vorübergehend oder vorzeitig verlassen hat oder haben (BFH-Beschluss vom 30.06.2023 - V B 13/22, BFHE 280, 425, Rz 13). Wie dies gewährleistet wird, ist Sache des Gerichts, das die Gestattung nach § 91a Abs. 1 Satz 1 FGO erteilt (BFH-Beschluss vom 30.06.2023 - V B 13/22, BFHE 280, 425, Rz 11).
Die gerichtsseitige Verantwortlichkeit betrifft jedoch nicht die technische Ausstattung der Beteiligten. Der Beteiligte, der eine Videoverhandlung beantragt, muss selbst dafür sorgen, dass er technisch in der Lage ist, der Verhandlung in Bild und Ton zu folgen und Verfahrenshandlungen vorzunehmen. Dazu gehört unter anderem, dass er auf seinem Endgerät für eine hinreichende Ausgabequalität und auch über die für eine Bild- und Tonübertragung notwendige Bandbreite seines Internetanschlusses zu sorgen hat. Ebenfalls muss er seine Verfahrenshandlungen in ausreichender Qualität in Bild und Ton an das Gericht übermitteln können; dazu gehören unter anderem dem Stand der Technik entsprechende und eine hinreichende Übertragungsqualität gewährleistende Kameras und Mikrofone.
bb) Unter Anwendung dieser Grundsätze genügen die Ausführungen der Beschwerde den Darlegungsanforderungen nicht, weil für den Senat nicht ersichtlich ist, wer für die Einschränkungen ‑‑so sie vorgelegen haben sollten‑‑ verantwortlich ist.
Die Klägerin behauptet ("augenscheinlich"), dass die Kamera an der Rückwand des Gerichtssaals angebracht gewesen sei und ihr Prozessbevollmächtigter wegen der "großen Entfernung zwischen Kamera und Richterbank" die Gesichter der Richter nicht habe erkennen können. Ungeachtet dessen, dass es sich um eine bloße Behauptung handelt und der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt ‑‑FA‑‑) nach seinen Angaben im Schriftsatz vom 10.10.2023 alle Richter habe klar erkennen und verstehen können, fehlen sämtliche Angaben zur technischen Ausstattung des Prozessbevollmächtigten der Klägerin. Die Ursache der behaupteten schlechten Sichtbarkeit könnte zum Beispiel eine langsame Internetverbindung und die dadurch möglicherweise entstehende Verpixelung oder ein zu kleiner Bildschirm sein. Da die Übertragung allerdings über einen Browser funktioniert, hätte der Prozessbevollmächtigte unter anderem durch das Aktivieren der Vollbildansicht oder die Zoomfunktion des Browsers das Bild vergrößern können.
b) Mit ihrem Vortrag, das FA habe ihr den Schriftsatz des Steuerberaters vom 28.04.2022 und weitere Unterlagen vorenthalten, macht die Klägerin keinen Verfahrensmangel im Sinne des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO geltend. Darunter fallen nur solche Fehler, die dem Finanzgericht (FG) bei der Handhabung des Verfahrens unterlaufen sind, nicht aber ‑‑wie vorliegend‑‑ etwaige Fehler der Behörde im Verwaltungsverfahren (BFH-Beschluss vom 25.10.2018 - V B 37/18, Rz 7, m.w.N.).
Soweit die Klägerin auch rügen möchte, das FG habe ihr diese Unterlagen vorenthalten, kommt es nach dem insoweit maßgeblichen rechtlichen Standpunkt des FG darauf nicht an. Das FG hat sich auf § 127 der Abgabenordnung (AO) berufen, wonach die Aufhebung eines Verwaltungsaktes nicht allein deshalb beansprucht werden kann, weil er unter Verletzung formeller Vorschriften zustande gekommen ist, wenn keine andere Entscheidung in der Sache hätte getroffen werden können. Die Norm gilt auch für eine Verletzung des rechtlichen Gehörs (Klein/Ratschow, AO, 16. Aufl., § 127 Rz 6).
Im Übrigen hatte das FG die Steuerakte beigezogen. Die Klägerin hätte Einsicht nehmen und die aus ihrer Sicht relevanten Unterlagen zur Kenntnis nehmen können.
c) Auch soweit die Klägerin einen Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten rügt, weil das FG ihre Ausführungen zum Vergleichsinhalt nicht zutreffend berücksichtigt habe, liegt kein Verfahrensfehler nach § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO vor.
aa) Nach § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO entscheidet das Gericht nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung. Zum Gesamtergebnis des Verfahrens gehört auch die Auswertung des Inhalts der dem Gericht vorliegenden Akten. Ein Verstoß gegen den klaren Inhalt der Akten liegt unter anderem dann vor, wenn das FG eine nach Aktenlage feststehende Tatsache, die richtigerweise in die Beweiswürdigung hätte einfließen müssen, unberücksichtigt lässt oder seiner Entscheidung einen Sachverhalt zugrunde gelegt hat, der dem protokollierten Vorbringen der Beteiligten nicht entspricht (ständige Rechtsprechung, vgl. Senatsbeschluss vom 14.10.2020 - IX B 33/20, Rz 3).
bb) Nach diesen Grundsätzen kann die Beschwerde nicht durchdringen. Denn im Kern rügt die Klägerin mit ihrem Vortrag eine fehlerhafte Auslegung des gerichtlichen Vergleichs vom 03.07.2020 durch das FG. Fehler bei der Vertragsauslegung stellen indes grundsätzlich Mängel bei der Anwendung des sachlichen Rechts dar und können die Zulassung der Revision nicht begründen (Senatsbeschlüsse vom 04.03.2016 - IX B 146/15 und vom 15.09.2020 - IX B 14/20, Rz 12; Gräber/Ratschow, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 115 Rz 82 und 220).
Im Übrigen hat das FG die gesetzlichen Auslegungsregeln beachtet. Insbesondere aus der Formulierung in Ziffer 7 des Vergleichs ergibt sich, dass die Beteiligten nicht von einer steuerlich relevanten Regelung ausgegangen sind. Denn danach sollte die Klägerin den Beigeladenen von sämtlichen steuerlichen Verbindlichkeiten in Zusammenhang mit der Vermietung und Verpachtung in dem unter Ziffer 6 genannten Zeitraum (2019 bis 2023) freistellen. Eine solche Klausel wäre entbehrlich gewesen, wenn die Beteiligten von einer steuerlich relevanten abweichenden Gewinnverteilung ausgegangen wären. Schließlich hat das FG unter Beachtung der höchstrichterlichen Rechtsprechung (vgl. BFH-Urteil vom 18.01.1990 - IV R 97/88, BFH/NV 1991, 21) zutreffend darauf abgestellt, dass die Klägerin und der Beigeladene vor Abschluss des Vergleichs nicht über die Gewinnverteilung in der GbR gestritten haben.
d) Es liegt auch kein Verfahrensmangel vor, soweit die Klägerin sinngemäß die unterlassene Beiziehung der Akten des Landgerichts … rügt.
aa) Das Gericht verstößt gegen seine Verpflichtung zur Ermittlung des Sachverhalts, wenn es die Beiziehung von entscheidungserheblichen Akten unterlässt (vgl. BFH-Beschluss vom 21.06.2016 - III B 29/16). Die Aktenbeiziehung ist nur dann entbehrlich, wenn die Akten oder Aktenteile aus Sicht des Gerichts aufgrund seiner materiell-rechtlichen Auffassung unerheblich sind (BFH-Beschluss vom 21.06.2016 - III B 29/16). Regelmäßig entscheidungserheblich sind diejenigen Akten, deren Gegenstand mit demjenigen der Klage identisch ist (BFH-Beschluss vom 30.05.2022 - II B 56/21, Rz 11).
bb) Nach den Ausführungen des FG kam es allein auf den Wortlaut des gerichtlichen Vergleichs vom 03.07.2020 an, der im FG in Kopie vorlag. Das ist nicht zu beanstanden. Die von der Klägerin zitierten Ausführungen des Beigeladenen im zivilrechtlichen Verfahren … sind insoweit nicht relevant.
2. Soweit schließlich die Klägerin die materielle Richtigkeit der Entscheidung des FG rügt, kann dies nicht zur Zulassung der Revision führen, weil damit kein Zulassungsgrund gemäß § 115 Abs. 2 FGO dargetan wird (Senatsbeschluss vom 04.07.2002 - IX B 169/01, BFH/NV 2002, 1476). Das betrifft insbesondere ihre Ausführungen dazu, dass die Vorsetzungen des § 127 AO vorliegend nicht gegeben seien.
3. Von einer Darstellung des Sachverhalts und einer weitergehenden Begründung wird gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO abgesehen.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.