ECLI:DE:BFH:2023:BA.160823.VIIB121.22.0
BFH VII. Senat
EUV 952/2013 Art 139 Abs 1, EUV 2015/24 Art 218 Buchst a, EGRL 112/2006 Art 2 Abs 1 Buchst d, EGRL 112/2006 Art 30 Abs 1, UStG § 21 Abs 2, UStG VZ 2021
vorgehend Hessisches Finanzgericht , 26. July 2022, Az: 7 V 85/22
Leitsätze
1. NV: Für Waren, die zu kommerziellen Zwecken mitgeführt werden, kann die Gestellung nicht konkludent durch Benutzen des grünen Ausgangs "Anmeldefreie Waren" erfolgen.
2. NV: Die Vermutung, dass neben der durch eine Pflichtverletzung (hier Verletzung der Gestellungspflicht) entstandenen Zollschuld auch eine Mehrwertsteuerpflicht besteht, kann grundsätzlich widerlegt werden.
Tenor
Der Antrag wird abgelehnt.
Die Kosten des Verfahrens hat die Antragstellerin zu tragen.
Tatbestand
I.
Die Antragstellerin und Beschwerdeführerin (Antragstellerin) reiste am 27.07.2021 im Auftrag ihres Arbeitgebers in B (Zentralasien) nach M (Schweizerische Eidgenossenschaft, nachfolgend Schweiz), um für einen B Kunden ihres Arbeitgebers drei Diamantringe abzuholen und nach B zu transportieren sowie um auf dem Hinweg Diamant-Ohrringe zur Durchführung von Zollförmlichkeiten nach M und danach wieder nach B zu bringen. Der Rückflug am 31.07.2021 sollte von M nach Frankfurt am Main (Frankfurt) und von dort aus weiter nach B verlaufen.
Die Antragstellerin trug den Schmuck bei ihrer Ankunft in Frankfurt körpernah in ihrem Rucksack bei sich. Da sie sich entschlossen hatte, die Umsteigezeit am Flughafen Frankfurt von circa sechs Stunden für ein Treffen mit ihrer Schwester im Flughafengebäude zu nutzen, verließ sie die Gepäckhalle des Flughafens durch den grünen Ausgang "Anmeldefreie Waren" und traf ihre Schwester in dem der Öffentlichkeit zugänglichen Teil der Abflughalle A. Anschließend verließ sie das Gebäude zusammen mit ihrer Schwester, um zu dem in der Kiss-and-Fly-Zone geparkten Personenkraftwagen der Schwester zu gehen. Dort wurden sie von zwei Zollbeamten zur Kontrolle gebeten.
Mit Abgabenbescheid vom 31.07.2021 setzte der Antragsgegner und Beschwerdegegner (Hauptzollamt ‑‑HZA‑‑) Einfuhrabgaben in Höhe von insgesamt … € (… € Zoll und … € Einfuhrumsatzsteuer) fest und beschlagnahmte die Schmuckstücke als Beweismittel nach §§ 94, 98 der Strafprozessordnung (StPO), zur Sicherheitsleistung nach § 132 StPO und zur Sicherung der Einfuhrabgaben nach Art. 198 des Zollkodex der Union (UZK).
Dagegen legte die Antragstellerin Einspruch ein und beantragte die Aussetzung der Vollziehung (AdV), die das HZA mit Bescheid vom 20.08.2021 ablehnte. Daraufhin stellte die Antragstellerin einen Antrag auf AdV bei Gericht.
Das Finanzgericht (FG) setzte die Vollziehung des Abgabenbescheids vom 31.07.2021 bis längstens einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung in Höhe von … € gegen Sicherheitsleistung aus. Nach Auffassung des FG war für die streitbefangenen Schmuckstücke sowohl die Zollschuld als auch die Einfuhrumsatzsteuer wegen zollrechtlicher Pflichtverletzung dem Grunde nach entstanden, weil die Antragstellerin die erforderliche Gestellungsmitteilung unterlassen habe. Die Zollschuld sei nicht erloschen, weil das vorschriftswidrige Verbringen im Streitfall bereits vollzogen worden sei. Es liege auch ein einfuhrumsatzsteuerbarer Umsatz vor. Die Ware sei in den Wirtschaftskreislauf der Union eingegangen, weil es für den beabsichtigten Transit nicht notwendig gewesen sei, die Transitroute zu verlassen und den grünen Kanal zu durchschreiten. Die durch den zollrechtlichen Verstoß des vorschriftswidrigen Verbringens indizierte einfuhrumsatzsteuerliche Einfuhr habe die Antragstellerin nicht widerlegt. Auch der Eingang in einen anderen Mitgliedstaat der Union sei nicht erfolgt. Zum einen hätte die Ware aus einem Drittland in ein anderes Drittland befördert werden sollen. Zum anderen bestehe das öffentlich-rechtliche Verfügungsverbot im Streitfall lediglich temporär. Nur eine Sicherstellung zum Zwecke der Vernichtung sei geeignet, die indizierte Einfuhr zu widerlegen. Die Antragstellerin sei als Verbringerin auch Zollschuldnerin. Allerdings bestünden Zweifel am Zollwert der Diamant-Ohrringe. Die mitgeführte Rechnung sei nicht unmittelbar als Transaktionswert nach Art. 70 Abs. 1 UZK zugrunde zu legen, da das zwingend erforderliche Merkmal "Verkauf zur Ausfuhr in das Zollgebiet der Union" nicht erfüllt sei.
Die AdV habe gegen Sicherheitsleistung zu erfolgen. Es könne nicht ausnahmsweise von der Stellung einer Sicherheit abgesehen werden, weil die Antragstellerin keine belastbaren Angaben zu ihrem Vermögen gemacht habe. Die Sicherheit sei auch nicht durch die Sicherstellung der Schmuckstücke geleistet.
Dagegen erhob die Antragstellerin Beschwerde. Zur Begründung nimmt sie auf ihr Vorbringen vor dem FG Bezug und ergänzt, sie sei nicht Zollschuldnerin geworden. Die Auffassung des FG, wonach im Falle des Einfuhrschmuggels als Einfuhr und damit als Eingang in den Wirtschaftskreislauf bereits das Verbringen der Ware in das Gebiet der Union ausreiche, ohne dass die fragliche Ware einem Verbrauch zugeführt habe werden können, stehe im Widerspruch zu der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) und der deutschen instanzrechtlichen Rechtsprechung und widerspreche der Funktion sowie dem Sinn und Zweck der Einfuhrumsatzsteuer. Die bloße Gefahr des Eingangs in den Wirtschaftskreislauf der Union genüge nicht für die Entstehung der Einfuhrumsatzsteuer. Es komme nicht allein auf das körperliche Gelangen der Drittlandsware in das Inland an. Ein steuerbarer Tatbestand im Inland sei eine zusätzliche Voraussetzung, die im Streitfall nicht vorliege. Die Einfuhrumsatzsteuer entstehe nur, wenn eine Ware vor der Sicherstellung im Erhebungsgebiet in den Wirtschaftskreislauf der Europäischen Union (EU) eingegangen sei. Der Schmuck habe sich bei seiner Beschlagnahme im Rucksack der Antragstellerin befunden, die nach B weitergeflogen wäre. Eine Weiterlieferung oder sonstige umsatzsteuerrelevante Behandlung habe nicht stattgefunden. Die Ware sei auch nicht der zollamtlichen Überwachung entzogen worden, zumal die Antragstellerin durchgängig von drei Zollbeamten überwacht worden sei. Der deutschen Zollbehörde sei aufgrund der Mitteilung der Schweizerischen Zollbehörden bekannt gewesen, welche Ware die Antragstellerin mit sich geführt habe. Der Tatsache, dass die Ware nicht in den Wirtschaftskreislauf eingegangen sei, stehe auch die Beschlagnahme nicht entgegen. Bei einer Sicherstellung der Ware könne die Einfuhrumsatzsteuer nur entstehen, wenn die Ware vor ihrer Beschlagnahme/Sicherstellung in den Wirtschaftskreislauf der EU eingegangen sei.
Der Transaktionswert der Ware sei durch Vorlage der entsprechenden Rechnungen und Bestätigungen des Schweizerischen Verkäufers dargelegt worden. Die Vollziehung sei schließlich ohne Sicherheitsleistung auszusetzen, weil sie glaubhaft gemacht habe, dass sie außer ihrem monatlichen Gehalt von knapp … € weder Immobilienvermögen noch Ersparnisse oder sonstige Vermögenswerte besitze. Das FG hätte auf die nach seiner Auffassung angeblich fehlenden Angaben zur Kreditwürdigkeit der Beschwerdeführerin hinweisen müssen. Dies stelle eine Verletzung der Hinweispflicht und des Anspruchs auf rechtliches Gehör dar. Zudem übersteige der sichergestellte Schmuck um das Mehrfache die festgesetzten Abgaben. Für den Fall, dass der beschließende Senat der Auffassung des FG folgen wolle, rege sie eine EuGH-Vorlage an.
Die Antragstellerin beantragt sinngemäß,
die Vollziehung des Abgabenbescheids vom 31.07.2021 unter Änderung der Vorentscheidung in Höhe von … € bis einen Monat nach Bekanntgabe der Einspruchsentscheidung über den Einspruch oder bis zur anderweitigen Erledigung des Einspruchs in vollem Umfang ohne Sicherheitsleistung auszusetzen.Das HZA beantragt,
die Beschwerde als unbegründet zurückzuweisen.Zur Begründung verweist das HZA auf die Ausführungen des FG und ergänzt, die von der Antragstellerin angeführten finanzgerichtlichen Urteile seien auf den Streitfall nicht übertragbar. In seinem Urteil Federal Express Corporation Deutsche Niederlassung vom 10.07.2019 - C 26/18 (EU:C:2019:579, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern ‑‑ZfZ‑‑ 2019, 231) habe der EuGH nur im Hinblick auf den zugrunde liegenden Sachverhalt entschieden, wann eine Ware in den Wirtschaftskreislauf eingeht. Im vorliegenden Fall sei der Schmuck dagegen unstreitig nicht in den Wirtschaftskreislauf eines anderen (Mitglied-)Staates eingegangen. Die behauptete Reiseroute stelle lediglich eine mögliche Absicht dar, die für eine Widerlegung der Vermutung des Eingangs der Ware in den Wirtschaftskreislauf der Union nicht ausreiche, zumal die Antragstellerin die angeblich vorgesehene Transportroute mit dem streitgegenständlichen Schmuck verlassen habe. Der EuGH setze eine konkrete Behandlung der Ware, etwa in Form einer Lieferung oder Dienstleistung, die die Entstehung eines steuerbaren Umsatzes nach sich ziehe, nicht voraus. Die jederzeitige Möglichkeit einer Beeinflussung der Güter, Dienstleistungs- oder Geldbewegungen zwischen den Wirtschaftssubjekten reiche aus, um einen Eingang der Ware in den Wirtschaftskreislauf anzunehmen. Ob die Antragstellerin aufgrund der ununterbrochenen Observation die Waren der zollamtlichen Überwachung entzogen habe oder nicht, sei nicht von Bedeutung, weil die Einfuhrumsatzsteuerschuld nicht durch das Entziehen aus der zollamtlichen Überwachung entstanden sei. Im Übrigen verkenne die Antragstellerin den Unterschied zwischen zollamtlicher Überwachung und Observation.
Der Zollwert sei gemäß Art. 74 Abs. 3 UZK auf der Grundlage des im Wertgutachten festgestellten Einzelhandelsverkaufspreises zu bestimmen. Ein Gegengutachten sei bislang nicht vorgelegt worden.
Für den Fall, dass AdV gewährt werde, solle dies nur gegen Sicherheitsleistung erfolgen. Insbesondere habe die Antragstellerin nicht ausreichend dargelegt, inwiefern ihr die Leistung einer Sicherheit ernste wirtschaftliche oder soziale Schwierigkeiten bereiten könnte. Das FG habe seine Hinweispflicht nicht verletzt.
Entscheidungsgründe
II.
Die zulässige Beschwerde ist unbegründet.
Das FG hat zu Recht nicht im beantragten Umfang AdV gewährt, weil keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des streitgegenständlichen Abgabenbescheids vom 31.07.2021 bestehen, soweit das FG die AdV abgelehnt hat.
1. Gemäß § 69 Abs. 3 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 Satz 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das Gericht auf Antrag die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsakts aussetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Verwaltungsakts bestehen oder seine Vollziehung für den Betroffenen eine unbillige, nicht durch überwiegende öffentliche Interessen gebotene Härte zur Folge hätte. Ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit eines Verwaltungsakts bestehen, wenn und soweit bei summarischer Prüfung der Sach- und Rechtslage aufgrund der präsenten Beweismittel, des unstreitigen Sachverhalts und der gerichtsbekannten Tatsachen erkennbar wird, dass aus gewichtigen Gründen Unklarheit in der Beurteilung von Tatfragen oder Unsicherheit oder Unentschiedenheit in der Beurteilung von Rechtsfragen besteht und sich bei abschließender Klärung dieser Fragen der Verwaltungsakt als rechtswidrig erweisen kann (Senatsbeschluss vom 15.06.2021 - VII B 18/21 (AdV), Rz 34, m.w.N.).
2. Hinsichtlich des festgesetzten Zolls besteht nach summarischer Prüfung keine hinreichende Aussicht auf Erfolg, soweit das FG den Antrag auf AdV abgelehnt hat.
a) Für einfuhrabgabenpflichtige Waren entsteht eine Einfuhrzollschuld gemäß Art. 79 Abs. 1 Buchst. a UZK, wenn eine der in den zollrechtlichen Vorschriften festgelegten Verpflichtungen in Bezug auf das Verbringen von Nicht-Unionswaren in das Zollgebiet der Union, auf das Entziehen dieser Waren aus der zollamtlichen Überwachung oder auf die Beförderung, Veredelung, Lagerung, vorübergehende Verwahrung, vorübergehende Verwendung oder Verwertung dieser Waren in diesem Gebiet nicht erfüllt ist.
Für das Entstehen der Zollschuld ist in diesem Fall gemäß Art. 79 Abs. 2 Buchst. a UZK der Zeitpunkt maßgebend, zu dem die Verpflichtung, deren Nichterfüllung die Zollschuld entstehen lässt, nicht oder nicht mehr erfüllt ist.
Gemäß Art. 139 Abs. 1 UZK sind in das Zollgebiet der Union verbrachte Waren bei ihrer Ankunft bei der bezeichneten Zollstelle oder an einem anderen von den Zollbehörden bezeichneten oder zugelassenen Ort oder in der Freizone unverzüglich zu gestellen. Die Gestellung ist durchzuführen von der Person, die die Waren in das Zollgebiet der Union verbracht hat (Buchst. a), von der Person, in deren Namen oder in deren Auftrag die Person handelt, die die Waren in dieses Gebiet verbracht hat (Buchst. b), oder von der Person, die die Verantwortung für die Beförderung der Waren nach dem Verbringen in das Zollgebiet der Union übernommen hat (Buchst. c). Die Gestellung ist gemäß Art. 5 Nr. 33 UZK die Mitteilung an die Zollbehörden, dass Waren bei der Zollstelle oder an einem anderen von den Zollbehörden bezeichneten oder zugelassenen Ort eingetroffen sind und für Zollkontrollen zur Verfügung stehen.
b) Die Antragstellerin hat die Gestellungspflicht im Sinne von Art. 139 Abs. 1 UZK verletzt, indem sie den grünen Ausgang "Anmeldefreie Waren" mit den Schmuckstücken in ihrem Rucksack durchschritten hat, ohne eine Gestellungsmitteilung abzugeben.
Bei den Schmuckstücken handelt es sich um Nicht-Unionswaren im Sinne von Art. 5 Nr. 24 UZK, weil diese aus der Schweiz in das Zollgebiet der Union verbracht wurden und nicht ersichtlich ist, dass sich diese bereits zuvor im zollrechtlich freien Verkehr der Union befunden hätten. Auf eine etwaige Zollbehandlung der Waren in der Schweiz kommt es in diesem Zusammenhang nicht an.
Die Antragstellerin hat die Gestellung nicht nach Art. 218 Buchst. a der Durchführungsverordnung (EU) 2015/2447 der Kommission vom 24.11.2015 mit Einzelheiten zur Umsetzung von Bestimmungen der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates zur Festlegung des Zollkodex der Union (Amtsblatt der Europäischen Union ‑‑ABlEU‑‑ 2015 Nr. L 343, 558) i.V.m. Art. 141 Abs. 1 Buchst. a der Delegierten Verordnung (EU) 2015/2446 der Kommission vom 28.07.2015 zur Ergänzung der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates mit Einzelheiten zur Präzisierung von Bestimmungen des Zollkodex der Union ‑‑UZK-DA‑‑ (ABlEU 2015 Nr. L 343, 1) durch eine Willensäußerung vornehmen können, indem sie den grünen Ausgang "Anmeldefreie Waren" benutzt hat, weil es sich bei den Schmuckstücken nicht um Waren im Sinne von Art. 138 Buchst. a bis d, Art. 139 und Art. 140 Abs. 1 UZK-DA gehandelt hat. Insbesondere handelte es sich nicht um Waren zu nichtkommerziellen Zwecken im persönlichen Gepäck von Reisenden nach Art. 138 Buchst. a UZK-DA, weil die Antragstellerin die Schmuckstücke im Auftrag ihres Arbeitgebers und damit aus beruflichen Gründen mit sich geführt hat.
c) Die Antragstellerin ist gemäß Art. 79 Abs. 3 Buchst. a UZK Zollschuldnerin geworden, weil sie gemäß Art. 139 Abs. 1 Buchst. a UZK die Schmuckstücke in das Zollgebiet der Union verbracht hat und diese somit hätte gestellen müssen.
3. Nach summarischer Prüfung geht der Senat davon aus, dass auch die Einfuhrumsatzsteuer entstanden ist.
a) Nach Art. 2 Abs. 1 Buchst. d der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem ‑‑MwStSystRL‑‑ (ABlEU 2006 Nr. L 347, 1) unterliegt die Einfuhr von Gegenständen der Mehrwertsteuer. Gemäß Art. 30 Abs. 1 MwStSystRL gilt die Verbringung eines Gegenstands, der sich nicht im freien Verkehr befindet, in die Union als Einfuhr eines Gegenstands. In Bezug auf den Ort der Einfuhr bestimmt Art. 60 MwStSystRL, dass die Einfuhr in dem Mitgliedstaat erfolgt, in dessen Gebiet sich der Gegenstand zu dem Zeitpunkt befindet, in dem er in die Union verbracht wird.
Unterliegen die eingeführten Gegenstände Zöllen, ermächtigt Art. 71 Abs. 1 Unterabs. 2 MwStSystRL die Mitgliedstaaten, den Steuertatbestand und die Entstehung des Steueranspruchs der Einfuhrmehrwertsteuer mit dem Tatbestand und der Entstehung des Anspruchs bei Zöllen zu verknüpfen. Die Einfuhrmehrwertsteuer und die Zölle sind nämlich hinsichtlich ihrer Hauptmerkmale insofern vergleichbar, als sie durch die Einfuhr der Waren in die Union und ihren anschließenden Eintritt in den Wirtschaftskreislauf der Mitgliedstaaten entstehen (EuGH-Urteile Hauptzollamt Hamburg vom 08.09.2022 - C-368/21, EU:C:2022:647, Rz 24 f., ZfZ 2022, 365; Hauptzollamt Münster [Ort des Entstehens der Mehrwertsteuer] vom 03.03.2021 - C-7/20, EU:C:2021:161, Rz 29, ZfZ 2021, 189; Federal Express Corporation Deutsche Niederlassung, EU:C:2019:579, Rz 41, ZfZ 2019, 231; Kauno teritorinė muitinė vom 07.04.2022 - C-489/20, EU:C:2022:277, Rz 47, ZfZ 2022, 213). Diese Verknüpfung ist in der Bundesrepublik Deutschland durch § 21 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) erfolgt.
Neben der Zollschuld kann eine Mehrwertsteuerpflicht bestehen, wenn aufgrund des Fehlverhaltens, das zur Entstehung der Zollschuld führte, angenommen werden kann, dass die fraglichen Waren in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt sind und somit einem Verbrauch, das heißt dem mit Mehrwertsteuer belasteten Vorgang, zugeführt werden konnten (EuGH-Urteile Hauptzollamt Hamburg, EU:C:2022:647, Rz 26, ZfZ 2022, 365; Hauptzollamt Münster [Ort des Entstehens der Mehrwertsteuer], EU:C:2021:161, Rz 30, ZfZ 2021, 189; Federal Express Corporation Deutsche Niederlassung, EU:C:2019:579, Rz 44, ZfZ 2019, 231; Kauno teritorinė muitinė, EU:C:2022:277, Rz 48, ZfZ 2022, 213).
Eine solche Vermutung kann allerdings widerlegt werden, wenn nachgewiesen wird, dass ein Gegenstand trotz des zollrechtlichen Fehlverhaltens, das in dem Mitgliedstaat, in dem es begangen wurde, zur Entstehung einer Einfuhrzollschuld führte, im Gebiet eines anderen Mitgliedstaates, in dem dieser Gegenstand zum Verbrauch bestimmt war, in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt ist. Dann tritt der Tatbestand der Einfuhrmehrwertsteuer in dem anderen Mitgliedstaat ein (EuGH-Urteile Hauptzollamt Hamburg, EU:C:2022:647, Rz 27, ZfZ 2022, 365; Hauptzollamt Münster [Ort des Entstehens der Mehrwertsteuer], EU:C:2021:161, Rz 31, m.w.N., ZfZ 2021, 189).
b) Im Streitfall besteht zunächst die Vermutung, dass durch den Verstoß gegen die Gestellungspflicht neben der Zollschuld gemäß § 21 Abs. 2 UStG i.V.m. sinngemäßer Anwendung des Art. 79 Abs. 1 Buchst. a UZK auch Einfuhrumsatzsteuer für den Schmuck entstanden ist.
Auch der EuGH hat im Fall des vorschriftswidrigen Verbringens in das Zollgebiet der Union deren Gelangen in den Wirtschaftskreislauf bejaht, sofern die Waren nicht in einem anderen Mitgliedstaat in den Wirtschaftskreislauf der Union gelangt sind (vgl. EuGH-Urteil Federal Express Corporation Deutsche Niederlassung, EU:C:2019:579, Rz 45 f., m.w.N., ZfZ 2019, 231).
c) Diese Vermutung hat die Antragstellerin bislang nicht widerlegt.
Zunächst ist nicht ersichtlich und wurde von der Antragstellerin auch nicht vorgetragen, dass sich der Schmuck zum Zeitpunkt seiner Verbringung in die EU und danach in einem Zollverfahren im Sinne von Art. 71 MwStSystRL befunden hätte, was nach der Rechtsprechung des EuGH der Entstehung der Einfuhrmehrwertsteuer entgegensteht (vgl. etwa EuGH-Urteile SEK Zollagentur vom 12.06.2014 - C 75/13, EU:C:2014:1759, ZfZ 2014, 278, betreffend die vorübergehende Verwahrung und ein externes Versandverfahren; Eurogate Distribution und DHL Hub Leipzig vom 02.06.2016 - C 226/14, EU:C:2016:405, ZfZ 2016, 193, betreffend ein Zolllagerverfahren sowie ein externes Versandverfahren und Wallenborn Transports vom 01.06.2017 - C 571/15, EU:C:2017:417, ZfZ 2017, 238, betreffend eine Freizone). Der Streitfall ist auch nicht mit dem vom FG Hamburg mit Urteil vom 26.08.2019 - 4 K 64/17 (juris) vergleichbar, weil sich die Waren dort ausschließlich in Verwahrungslagern gemäß Art. 185 Abs. 1 der Zollkodex-Durchführungsverordnung befunden hatten.
Es bestehen auch keine Anhaltspunkte dafür, dass der Schmuck in einen anderen Mitgliedstaat verbracht werden und dort in den Wirtschaftskreislauf eingehen sollte. Insofern liegt der Streitfall anders als der Sachverhalt, der dem EuGH-Urteil Hauptzollamt Hamburg (EU:C:2022:647, Rz 27, m.w.N., ZfZ 2022, 365) zugrunde lag. Im Übrigen hat das HZA den Schmuck am Flughafen in Frankfurt beschlagnahmt, sodass die Antragstellerin seitdem nicht mehr über den Schmuck verfügen kann. Ein Weitertransport des Schmucks in einen anderen Mitgliedstaat ist somit ausgeschlossen.
Ein Eingang in den Wirtschaftskreislauf kann auch nicht mit der Begründung verneint werden, dass sich die Antragstellerin noch am Flughafen befand, als sie kontrolliert wurde, und sich daher noch nicht weit vom Ort der Zuwiderhandlung (Nichtgestellung der Waren) entfernt hatte. Unabhängig davon, welche Entfernung vom Ort der Zuwiderhandlung noch unschädlich wäre, hat die Antragstellerin jedenfalls ihre Transitroute verlassen, weil sie einen Weiterflug nach B gebucht hatte. Ein Verlassen des Sicherheitsbereichs oder des Flughafengebäudes mit ihrem Reisegepäck war zu diesem Zweck nicht erforderlich. Ob die Antragstellerin bereits ihr Reisegepäck in das Fahrzeug ihrer Schwester, das in der sogenannten Kiss-and-Fly-Zone geparkt war, gelegt hatte, als sie von den beiden Zollbeamten angesprochen wurde, ist vor diesem Hintergrund nicht ausschlaggebend. Der Streitfall liegt aufgrund der Abweichung vom eigentlichen Beförderungszweck anders als der vom FG München mit Urteil vom 09.04.2019 - 14 K 2649/16 (juris) entschiedene Fall, in dem das FG eine Teilnahme am Wirtschaftsgeschehen verneint hatte, weil sich die zu beurteilende Verwendung des Flugzeugs im physischen Verbringen über die Grenze erschöpft hatte und das Flugzeug am nächsten Tag unverändert wieder ausgeflogen wurde. Auch in dem vom FG Hamburg mit Urteil vom 14.01.2020 - 4 K 123/15 (ZfZ 2020, 107) entschiedenen Fall befanden sich die Waren ausschließlich im Transit.
Soweit die Antragstellerin in ihrem Schriftsatz vom 03.05.2023 auf das Urteil des FG Hamburg vom 04.06.2021 - 4 K 135/17 (Zeitschrift für das Recht der Transportwirtschaft 2021, 444, Rz 32) hinweist, ergibt sich daraus ebenfalls keine andere Beurteilung des Streifalls, weil über eine eventuelle Lagerung und die Frage, ob diese noch Teil des Transits ist, vorliegend nicht zu entscheiden ist.
4. Ob die Einfuhrabgaben möglicherweise infolge der Beschlagnahme gemäß Art. 124 Abs. 1 Buchst. e UZK erloschen sind oder ob überhaupt Erlöschenstatbestände in Betracht kommen (vgl. EuGH-Urteil Kauno teritorinė muitinė, EU:C:2022:277, Rz 49 f., ZfZ 2022, 213), ist im vorliegenden Verfahren, in dem lediglich über die Festsetzung der Einfuhrabgaben zu entscheiden ist, nicht zu prüfen. Art. 124 UZK ist erst im Erhebungsverfahren zu beachten (Senatsbeschluss vom 27.10.2022 - VII R 1/20, Rz 32, m.w.N.).
5. Auch soweit das FG AdV gegen Sicherheitsleistung gewährt hat, weil es Zweifel an der Ermittlung des Zollwerts hatte, hat die Beschwerde keinen Erfolg. Die teilweise AdV des Abgabenbescheids vom 31.07.2021 erfolgt gemäß Art. 45 Abs. 3 UZK gegen Sicherheitsleistung, von der nur abgesehen werden kann, wenn dem Schuldner durch die Leistung der Sicherheit ernste wirtschaftliche oder soziale Schwierigkeiten entstehen könnten. Die Antragstellerin hat jedoch nicht substantiiert dargelegt, dass vorliegend solche Umstände vorliegen. Allein die hohe Summe der Abgaben rechtfertigt kein Absehen von der Sicherheitsleistung.
Auch bezüglich der ausgesetzten Einfuhrumsatzsteuer kann nicht von der Leistung einer Sicherheit abgesehen werden. Unabhängig davon, ob § 21 Abs. 3 UStG entsprechend auf die AdV angewandt werden kann (vgl. FG Hamburg, Beschluss vom 04.05.2020 - 4 V 28/20, ZfZ 2020, 235), ist die Antragstellerin jedenfalls nicht nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 UStG zum Vorsteuerabzug berechtigt.
Das FG hat die anwaltlich vertretene Antragstellerin nicht darauf hinweisen müssen, dass noch Angaben zu ihrer Kreditwürdigkeit fehlen. Zum einen hat das HZA mit Schreiben vom 18.02.2022 darauf hingewiesen, dass es die Angaben der Antragstellerin zu ihren wirtschaftlichen Verhältnissen für ungenügend hält. Darüber hinaus verpflichtet § 76 Abs. 2 FGO nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) das FG nicht, die Beteiligten zu einer Substantiierung ihres Sachvortrags zu veranlassen, wenn die rechtliche Bedeutung der vorzutragenden Tatsachen für den Ausgang des Klageverfahrens auf der Hand liegt (vgl. unter anderem BFH-Beschluss vom 04.08.1999 - VIII B 51/98, BFH/NV 2000, 204). Ebenso wenig ist es gehalten, die maßgebenden rechtlichen Gesichtspunkte mit den Verfahrensbeteiligten vorher umfassend zu erörtern oder ihnen die einzelnen für die Entscheidung erheblichen Gesichtspunkte im Voraus anzudeuten (z.B. Senatsbeschluss vom 12.07.2002 - VII B 257/01, BFH/NV 2002, 1498). Das gilt insbesondere dann, wenn ein Beteiligter steuerlich beraten und im Prozess entsprechend vertreten war (vgl. BFH-Beschluss vom 27.01.2014 - III B 86/13, Rz 6, m.w.N.).
6. Ob im Streitfall ein Erlass der Einfuhrabgaben aus Billigkeit in Betracht kommt, weil die Antragstellerin nach Aktenlage von den Zollbehörden überwacht wurde (vgl. Senatsurteil vom 30.08.2005 - VII R 1/00, BFHE 210, 379, mit Verweis auf EuGH-Urteil De Haan vom 07.09.1999 - C 61/98, EU:C:1999:393, ZfZ 1999, 371), ist vorliegend nicht streitgegenständlich.
7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.