ECLI:DE:BFH:2024:U.250424.IIIR36.23.0
BFH III. Senat
EStG § 62 Abs 1 S 1 Nr 1, EStG § 62 Abs 1a S 3, EStG § 62 Abs 1a S 4, EStG § 63 Abs 1 Nr 1, FreizügG/EU § 2 Abs 2 Nr 1, FreizügG/EU § 5 Abs 4, AZRG § 18f, EStG VZ 2021 , EStG VZ 2022
vorgehend FG Münster, 28. February 2023, Az: 15 K 1527/22 Kg
Leitsätze
1. Gemäß § 62 Abs. 1a Satz 4 des Einkommensteuergesetzes (EStG) besteht bei Kindergeldfestsetzungen für nach dem 31.07.2019 beginnende Zeiträume eine uneingeschränkte Prüfungskompetenz der Familienkasse für die in § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG vorausgesetzte Freizügigkeitsberechtigung des Anspruchstellers.
2. Eine eigenständige Prüfungspflicht der Familienkasse besteht auch dann, wenn die Ausländerbehörde den Verlust des Freizügigkeitsrechts gemäß § 5 Abs. 4 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern festgestellt hat. Der Bescheid der Ausländerbehörde entfaltet bei der Prüfung des Kindergeldanspruchs keine (echte) Tatbestandswirkung.
3. Eine teleologische Reduktion des § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG kommt nicht in Betracht.
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 28.02.2023 - 15 K 1527/22 Kg wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Beklagte zu tragen.
Tatbestand
I.
Streitig ist, ob die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) einen Anspruch auf Kindergeldfestsetzung für die Kinder D und A für den Zeitraum Dezember 2021 bis einschließlich März 2022 hat.
Die Klägerin ist rumänische Staatsangehörige. Sie wohnt seit dem XX.04.2019 in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland). Ihre in Deutschland geborenen Kinder D (XX.12.2019) und A (XX.09.2021) wohnen mit ihr in einem Haushalt. Ab dem XX.11.2021 war die Klägerin bei der deutschen Zeitarbeitsfirma S. GmbH als Retourenbucherin beschäftigt. Sie erhielt einen Stundenlohn von 10,45 € zuzüglich einer stündlichen Zulage in Höhe von 0,35 €. Das Nettogehalt stieg von 42,12 € anteilig für November 2021 über 426,34 € im Dezember 2021, 606,85 € im Januar 2022, 956,26 € im Februar bis auf 1.158,20 € im März 2022 an. Den Lohnabrechnungen ist zu entnehmen, dass die Klägerin zudem im November 2021 insgesamt 21 Stunden und im Dezember 2021 insgesamt 56 Stunden ‑‑unbezahlt‑‑ als Ungeimpfte in Quarantäne war.
Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) setzte mit Bescheiden vom 06.02.2020 und 03.11.2021 Kindergeld für die beiden Kinder der Klägerin fest.
Mit Bescheid vom XX.11.2021 stellte die Stadt C (Ausländerbehörde) den Verlust des Rechts auf Freizügigkeit der Klägerin und ihrer beiden Kinder gemäß § 5 Abs. 4 des Gesetzes über die allgemeine Freizügigkeit von Unionsbürgern (FreizügG/EU) fest. Die Entscheidung wurde damit begründet, dass die Klägerin sich weniger als fünf Jahre in Deutschland aufhalte und keine Erwerbstätigkeit ausübe. Die Ausländerbehörde ordnete die sofortige Vollziehung an. Der Bescheid wurde bestandskräftig.
Die Ausländerbehörde erstattete der Familienkasse gemäß § 18f des Gesetzes über das Ausländerzentralregister (AZRG) Meldung, dass bei der Klägerin der Verlust der Rechte gespeichert wurde, woraufhin die Familienkasse eine Rückfrage an die Ausländerbehörde richtete, ob ein Aufenthaltstitel erteilt worden sei, was mit Mitteilung vom XX.01.2022 verneint wurde. Die Familienkasse hob daraufhin mit Bescheid vom 27.01.2022 die Festsetzung des Kindergeldes für die Kinder D und A mit Wirkung ab Dezember 2021 auf. Zur Begründung wurde darauf verwiesen, dass die Voraussetzungen des § 62 des Einkommensteuergesetzes (EStG) nicht vorlägen.
Innerhalb der Einspruchsfrist reichte die Klägerin verschiedene Unterlagen bei der Familienkasse ein, was diese als Einspruch gegen den Bescheid auslegte.
Mit Bescheid vom XX.04.2022 hob die Ausländerbehörde die Bescheide, mit denen sie den Verlust des Rechts auf Freizügigkeit der Klägerin und ihrer beiden Kinder festgestellt hatte, mit Wirkung zum XX.04.2022 wieder auf. Mit Schreiben vom selben Tage ordnete die Ausländerbehörde die Klägerin der Personengruppe des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU und die Kinder der Personengruppe des § 2 Abs. 2 Nr. 6 FreizügG/EU zu.
Mit Änderungsbescheid vom 05.05.2022 bewilligte die Familienkasse daraufhin Kindergeld für beide Kinder ab April 2022. Mit Einspruchsentscheidung vom 18.05.2022 wurde der Einspruch für den verbleibenden Zeitraum Dezember 2021 bis März 2022 als unbegründet zurückgewiesen.
Die anschließend erhobene Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) vertrat die Ansicht, dass die Familienkasse die Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch einschließlich der Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU in eigener Zuständigkeit prüfen müsse. Da die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU vorlägen, bestehe ein Anspruch auf Kindergeld nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 EStG.
Mit der Revision macht die Familienkasse die Verletzung von Bundesrecht geltend.
Die Familienkasse beantragt,
das Urteil des FG Münster vom 28.02.2023 - 15 K 1527/22 Kg aufzuheben und die Klage abzuweisen.Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist unbegründet und wird deshalb zurückgewiesen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG hat zu Recht einen Kindergeldanspruch der Klägerin für den Streitzeitraum bejaht.
1. Die Voraussetzungen für einen Kindergeldanspruch nach § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG liegen unstreitig vor.
2. Der Kindergeldanspruch ist auch nicht durch § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG ausgeschlossen. Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, dass die Klägerin als rumänische Staatsangehörige im Streitzeitraum innerhalb der Europäischen Union (EU) ‑‑für Zwecke der Kindergeldfestsetzung‑‑ freizügigkeitsberechtigt war.
Nach § 62 Abs. 1a Satz 3 EStG (i.d.F. vom 11.07.2019, eingeführt durch das Gesetz gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch vom 11.07.2019, BGBl I 2019, 1066) ist der Kindergeldanspruch eines Staatsangehörigen eines anderen Mitgliedstaats, der seit mehr als drei Monaten im Inland einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt hat, unter anderem dann ausgeschlossen, wenn dieser die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 FreizügG/EU nicht erfüllt. Gemäß § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG führt die Familienkasse die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kindergeld gemäß Satz 3 nicht gegeben sind, in eigener Zuständigkeit durch. Dementsprechend ist auch das FG berechtigt, das Kriterium der Freizügigkeit selbst zu überprüfen.
a) Der persönliche Anwendungsbereich des § 62 Abs. 1a EStG ist eröffnet, da die Klägerin Staatsangehörige eines anderen Mitgliedstaats der EU ist und keine deutsche Staatsangehörigkeit besitzt.
b) Die Vorschrift ist auch zeitlich anwendbar. § 62 Abs. 1a EStG in dieser am 18.07.2019 geltenden Fassung ist für Kindergeldfestsetzungen anzuwenden, die ‑‑wie im vorliegenden Fall‑‑ Zeiträume betreffen, die nach dem 31.07.2019 beginnen (§ 52 Abs. 49a Satz 1 EStG).
Die Klägerin wohnt bereits seit April 2019 und damit im Streitzeitraum seit mehr als zwei Jahren in Deutschland. Der streitige Kindergeldanspruch fällt daher nicht in den Zeitraum von drei Monaten ab Begründung des Wohnsitzes oder gewöhnlichen Aufenthalts, auf den sich die ‑‑nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) Familienkasse Niedersachsen Bremen vom 01.08.2022 - C-411/20, EU:C:2022:602 gegen das Unionsrecht verstoßende‑‑ Regelung des § 62 Abs. 1a Satz 1 EStG bezieht.
c) Die Klägerin erfüllt im Streitzeitraum auch die Voraussetzungen des unionsrechtlichen Freizügigkeitsrechts nach § 2 Abs. 2 FreizügG/EU.
aa) Gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 1 FreizügG/EU sind Unionsbürger, die sich als Arbeitnehmer oder zur Berufsausbildung aufhalten wollen, freizügigkeitsberechtigt. Der Begriff des Arbeitnehmers im Sinne des europäischen Gemeinschaftsrechts ist weit auszulegen (EuGH-Urteil N. vom 21.02.2013 - C-46/12, EU:C:2013:97, Rz 39). Der EuGH (Urteile Levin vom 23.03.1982 - C-53/81, EU:C:1982:105, Neue Juristische Wochenschrift ‑‑NJW‑‑ 1983, 1249, Rz 18; Vatsouras/Koupatantze vom 04.06.2009 - C-22/08 und C-23/08, EU:C:2009:344, Rz 26 und Genc vom 04.02.2010 - C-14/09, EU:C:2010:57, Rz 18 ff.) betont in ständiger Rechtsprechung, dass als Arbeitnehmer jeder anzusehen ist, der eine tatsächliche und echte Tätigkeit ausübt, wobei nur Tätigkeiten außer Betracht bleiben, die einen so geringen Umfang haben, dass sie sich als völlig untergeordnet und unwesentlich darstellen. Das wesentliche Merkmal des Arbeitsverhältnisses besteht nach dieser Rechtsprechung darin, dass jemand während einer bestimmten Zeit für einen anderen nach dessen Weisung Leistungen erbringt, für die er als Gegenleistung eine Vergütung erhält. Zudem führt der Umstand, dass das mit der ausgeübten Tätigkeit erzielte Entgelt unter dem von dem jeweiligen Mitgliedstaat definierten Existenzminimum liegt, als solcher nicht dazu, dass diese Tätigkeit vom Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit ausgeschlossen ist (EuGH-Urteil Levin vom 23.03.1982 - C-53/81, EU:C:1982:105, NJW 1983, 1249, Rz 18). Auch die Dauer der Tätigkeit ist nicht von entscheidender Relevanz (vgl. Landessozialgericht für das Land Nordrhein-Westfalen, Beschluss vom 05.07.2023 - L 7 AS 845/23 B ER, Rz 8, juris). Die Arbeitnehmereigenschaft ist aufgrund einer Gesamtbetrachtung aller Umstände, die die Art der in Rede stehenden Tätigkeiten und des fraglichen Arbeitsverhältnisses betreffen, festzustellen (vgl. EuGH-Urteile Genc vom 04.02.2010 - C-14/09, EU:C:2010:57, Rz 26 f.; N. vom 21.02.2013 - C-46/12, EU:C:2013:97, Rz 43; Urteil des Bundessozialgerichts ‑‑BSG‑‑ vom 03.12.2015 - B 4 AS 44/15 R, BSGE 120, 149, Rz 26).
bb) Nach diesen Maßstäben ist die Würdigung des FG unter Berücksichtigung des Arbeitsvertrages und der Lohnabrechnungen, die von der Klägerin ab dem XX.11.2021 ausgeübte Tätigkeit als Arbeitnehmerin im Sinne von § 2 FreizügG/EU zu qualifizieren, nicht zu beanstanden. Das FG hat für den Senat bindend festgestellt (§ 118 Abs. 2 FGO), dass die Klägerin ab dem XX.11.2021 bei der Firma S. GmbH als Retourenbucherin beschäftigt war. Ihre geringe Stundenzahl und ihr dementsprechend niedriges Gehalt im November und Dezember 2021 (Coronazeit) resultierten lediglich daraus, dass sie als Ungeimpfte zeitweise in Quarantäne war und in dieser Zeit ihrer Beschäftigung nicht nachgehen konnte.
3. Dem Kindergeldanspruch steht auch nicht der Bescheid der Ausländerbehörde über den Verlust des Freizügigkeitsrechts der Klägerin vom XX.11.2021 entgegen.
a) Gemäß § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG führt die Familienkasse die Prüfung, ob die Voraussetzungen für einen Anspruch auf Kindergeld gemäß Satz 3 nicht gegeben sind, in eigener Zuständigkeit durch.
Für das steuerrechtliche Kindergeld hat der Gesetzgeber auf die Rechtsprechung des erkennenden Senats (Urteil vom 15.03.2017 - III R 32/15, BFHE 258, 16, BStBl II 2017, 963), wonach den Familienkassen die Berufung auf die fehlende Freizügigkeitsberechtigung im Rahmen der Entscheidung über den Kindergeldanspruch verwehrt war, wenn die fehlende Freizügigkeitsberechtigung nicht durch die Ausländerbehörden oder die Verwaltungsgerichte förmlich festgestellt worden war (vgl. zu den Motiven für die Einführung: Begründung der Bundesregierung vom 25.03.2019 zum Entwurf des Gesetzes gegen illegale Beschäftigung und Sozialleistungsmissbrauch, BTDrucks 19/8691, S. 63 ff.), mit der Einfügung des § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG reagiert. Der Kindergeldanspruch ist insoweit nur an die materiellen Voraussetzungen des Freizügigkeitsrechts geknüpft, die die Familienkasse ‑‑und im Klageverfahren das FG‑‑ nach der Einführung des § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG in eigener Zuständigkeit zu prüfen haben.
b) § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG ist nicht dahingehend auszulegen, dass eine Prüfungskompetenz der Familienkasse nicht mehr besteht, wenn die Ausländerbehörde den Verlust der Freizügigkeit festgestellt hat.
aa) Für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers maßgebend, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt (Urteil des Bundesgerichtshofs ‑‑BGH‑‑ vom 27.06.2012 - IV ZR 239/10, BGHZ 193, 369, Rz 21; Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 14.05.1991 - VIII R 31/88, BFHE 164, 516, BStBl II 1992, 167, Rz 38, m.w.N.).
bb) Ausgehend vom Gesetzeswortlaut wird das Prüfungsrecht und die Prüfungspflicht der Familienkasse, wenn es um die Frage geht, ob die materiellen Voraussetzungen der Freizügigkeitsberechtigung des Kindergeldberechtigten bestehen, nicht eingeschränkt. § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG bezieht die Prüfungskompetenz ohne Einschränkungen auf die in § 62 Abs. 1a Satz 3 genannten Freizügigkeitsregelungen nach § 2 Abs. 2 oder Abs. 3 FreizügG/EU.
Zwar mag es zutreffen, dass der Gesetzgeber bei Einführung des § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG nur den Fall im Blick hatte, dass die Ausländerbehörde noch keinerlei Feststellungen über das Freizügigkeitsrecht getroffen hat (vgl. BTDrucks 19/8691, S. 64). Der Wille, ausschließlich diesen Fall zu regeln, hat aber in der Norm keinen Niederschlag gefunden.
Der Wille des Gesetzgebers beziehungsweise der am Gesetzgebungsverfahren Beteiligten kann bei der Gesetzesauslegung nur insoweit berücksichtigt werden, als er auch im Text einen hinreichend bestimmten Niederschlag gefunden hat (Urteil des Bundesverfassungsgerichts ‑‑BVerfG‑‑ vom 16.02.1983 - 2 BvE 1/83 u.a., BVerfGE 62, 1, unter C.II.3.a; BFH-Urteile vom 30.09.2020 - VI R 34/18, BFHE 271, 145, BStBl II 2021, 446, Rz 30; vom 14.05.1991 - VIII R 31/88, BFHE 164, 516, BStBl II 1992, 167, Rz 38; Senatsurteil vom 24.01.2008 - III R 9/05, BFHE 221, 383, BStBl II 2008, 688, Rz 11). Die Gesetzesmaterialien dürfen nicht dazu verleiten, die subjektiven Vorstellungen der gesetzgebenden Instanzen dem objektiven Gesetzesinhalt gleichzusetzen (BFH-Urteil vom 04.04.2019 - VI R 18/17, BFHE 264, 6, BStBl II 2019, 449, Rz 25, m.w.N.).
Eine Auslegung dahingehend, dass bei einer Feststellung des Verlustes der Freizügigkeit durch die Ausländerbehörde keine eigene Prüfungskompetenz der Familienkasse für einen Kindergeldanspruch mehr bestehen soll, steht nicht mehr im Einklang mit der Gesetzesformulierung. Der Gesetzgeber hätte ohne Weiteres die Prüfungspflicht für bestimmte Fälle ausschließen können (z.B. durch einen Halbsatz wie in § 23 Abs. 3 Satz 7 des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch oder in § 7 Abs. 1 Satz 4 2. Halbsatz des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch: "… dies gilt nicht, wenn der Verlust des Rechts nach § 2 Absatz 1 des Freizügigkeitsgesetzes/EU festgestellt wurde."). Dies hat er jedoch nicht getan. Vielmehr ist nach dem Wortlaut davon auszugehen, dass das Gesetz den Familienkassen bei der Prüfung eines Kindergeldanspruchs die Prüfung der Freizügigkeit nach § 2 Abs. 2 und 3 FreizügG/EU in allen Fällen überlassen will.
cc) § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG kann entgegen der Ansicht der Familienkasse auch nicht im Wege einer teleologischen Reduktion dahin eingeschränkt werden, dass eine eigenständige Prüfungskompetenz nicht mehr besteht, wenn der Verlust der Freizügigkeit durch die Ausländerbehörde festgestellt worden ist.
(1) Zwar stellt der Wortlaut der Norm nicht in jedem Fall eine unüberwindliche Grenze der Rechtsanwendung dar (vgl. BVerfG-Beschluss vom 16.12.2014 - 1 BvR 2142/11, BVerfGE 138, 64, Rz 93). Eine teleologische Reduktion gehört zu den verfassungsrechtlich anerkannten Methoden der Gesetzesauslegung (BVerfG-Beschluss vom 19.05.2023 - 2 BvR 78/22, NJW 2023, 2632, Rz 35, m.w.N.). Die teleologische Reduktion eines zu weit gefassten Wortlauts einer Norm ist aber nur dann geboten, wenn eine gesetzliche Regelung nach ihrem Wortsinn Sachverhalte erfasst, die sie nach dem erkennbaren Willen des Gesetzgebers nicht erfassen soll. Sie setzt eine verdeckte Regelungslücke im Sinne einer planwidrigen Unvollständigkeit des Gesetzes voraus (BFH-Urteil vom 26.06.2007 - IV R 9/05, BFHE 219, 173, BStBl II 2007, 893, unter II.5.; BGH-Beschluss vom 06.02.2024 - II ZB 19/22, Der Betrieb 2024, 794, Rz 11). Die Grenzen zulässiger Rechtsfortbildung bei einer teleologischen Reduktion sind jedoch überschritten, wenn sich eine solche Unvollständigkeit nicht sicher feststellen lässt (vgl. BFH-Urteil vom 09.03.2023 - IV R 25/20, BFHE 279, 545, BStBl II 2023, 836, Rz 25, m.w.N; BSG-Urteil vom 03.11.2021 - B 11 AL 2/21 R, Neue Zeitschrift für Sozialrecht 2022, 597, Rz 24, m.w.N.; Urteil des Bundesverwaltungsgerichts vom 15.01.2019 - 1 C 15.18, BVerwGE 164, 179, Rz 17 f., m.w.N.). Keine (planwidrigen) Regelungslücken sind rechtspolitische Unvollständigkeiten ("rechtspolitische Fehler"), bei denen die Ergänzung aus lediglich rechtspolitischen Gründen wünschenswert wäre (u.a. BFH-Urteile vom 09.08.1989 - X R 30/86, BFHE 158, 45, BStBl II 1989, 891, unter 2.a; vom 26.09.2023 - IX R 19/21, BFHE 281, 514, BStBl II 2024, 43, Rz 33). Es bedarf daher des sicheren Nachweises, dass sich die Regelungsabsicht des Gesetzgebers im Normtext nicht niedergeschlagen hat.
(2) Diese Voraussetzungen sind im Hinblick auf § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG nicht erfüllt. Eine planwidrige Unvollständigkeit des Gesetzes ist nicht anzunehmen.
Zwar lagen der Einfügung des Satzes 4 des § 62 Abs. 1a EStG vorwiegend Gestaltungen zugrunde, in denen die Ausländerbehörde noch keine Feststellungen zur Freizügigkeit des Kindergeldberechtigten getroffen hatte. In diesen Fällen konnten die Familienkassen nach der Rechtsprechung des erkennenden Senats (Urteil vom 15.03.2017 - III R 32/15, BFHE 258, 16, BStBl II 2017, 963) die Kindergeldzahlungen bei nicht freizügigkeitsberechtigten Kindergeldberechtigten erst einstellen, wenn die Ausländerbehörde den Verlust der Freizügigkeit festgestellt hatte. Aus der Gesetzesbegründung ergibt sich aber nicht, dass nur die Fälle der fehlenden Feststellung der ausländerrechtlichen Freizügigkeitsberechtigung von der Prüfungskompetenz der Familienkassen erfasst werden sollten. Vielmehr führt der Gesetzgeber in seiner Gesetzesbegründung (BTDrucks 19/8691, S. 64) aus: "Ergeben sich künftig aus den Erkenntnissen bei der Kindergeldbearbeitung begründete Zweifel …, führt die Familienkasse künftig in eigener Zuständigkeit eine Prüfung aller Anspruchsvoraussetzungen des § 62 Abs. 1a des Einkommensteuergesetzes einschließlich der Voraussetzungen des § 2 des Freizügigkeitsgesetzes/EU durch und trifft gegebenenfalls eine ablehnende Entscheidung über den Kindergeldanspruch." Das Absehen von einer Prüfung bei einer bestehenden ausländerrechtlichen Verlustfeststellung der Freizügigkeitsberechtigung wird nicht erwähnt. Dabei hat der Gesetzgeber sehr wohl den Unterschied zwischen der Prüfung der Voraussetzungen der Freizügigkeitsregelungen für Zwecke der Kindergeldfestsetzung im Vergleich zur Prüfung der Ausländerbehörde zum Zwecke des Erlasses aufenthaltsrechtlicher Maßnahmen gesehen, indem er in der Gesetzesbegründung weiter ausführt, dass "die mit aufenthaltsrechtlichen Konsequenzen verbundene Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlusts des Freizügigkeitsrechts … auch nach der Rechtsänderung ausschließlich der Ausländerbehörde vorbehalten sein" wird (BTDrucks 19/8691, S. 64). Im Regelungsbereich der Kindergeldfestsetzung sollte hingegen den Familienkassen die ausschließliche Prüfungskompetenz der Freizügigkeitsregelungen übertragen werden.
(3) Auch aus § 18f AZRG ergibt sich kein eindeutiger Gesetzeszweck dergestalt, die Prüfungskompetenz der Familienkassen bei Verlustfeststellungen der Freizügigkeitsberechtigung durch die Ausländerbehörde einzuschränken. Die in § 18f AZRG geregelte automatisierte Übermittlung der Feststellung des Nichtbestehens oder des Verlustes des Rechts auf Einreise und Aufenthalt nach dem FreizügG/EU bleibt entgegen der Ansicht der Familienkasse weiterhin sinnvoll und erforderlich. Eine entsprechende Mitteilung über eine Verlustfeststellung wird regelmäßig Zweifel der Familienkassen an der Freizügigkeitsberechtigung des Kindergeldberechtigten begründen und Anlass sein, in die eigenständige Prüfung der Freizügigkeitsberechtigung des Kindergeldberechtigten unter Berücksichtigung der Erkenntnisse der Ausländerbehörde einzutreten. Die Mitteilungen der Ausländerbehörde befreien die Familienkassen aber nicht von ihrer gesetzlich normierten eigenen Prüfungspflicht.
(4) Es ist auch nicht ersichtlich, dass die wortlautgetreue Auslegung des § 62 Abs. 1a Satz 4 EStG zu einem sinnwidrigen Ergebnis führt, wie gerade der Streitfall zeigt. Nachdem die Klägerin der Ausländerbehörde Nachweise ihrer Erwerbstätigkeit auch für den hier vorliegenden Streitzeitraum vorgelegt hat, hob die Ausländerbehörde die Verlustfeststellung der Freizügigkeit auf. Dass dies lediglich mit Wirkung ex nunc geschah, ändert nichts daran, dass die Voraussetzungen für die Freizügigkeit im gesamten Streitzeitraum erfüllt waren, so dass der Kindergeldanspruch insoweit ebenfalls zu bejahen ist.
c) Entgegen der Auffassung der Familienkasse hat die Entscheidung der Ausländerbehörde zur Feststellung des Verlustes der Freizügigkeitsberechtigung gemäß § 5 Abs. 4 FreizügG/EU jedenfalls bei der Prüfung des Kindergeldanspruchs auch keine (echte) Tatbestandswirkung (vgl. Wendl in Herrmann/Heuer/Raupach, § 62 EStG Rz 13; vgl. Helmke/Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A, I. Kommentierung, § 62 Rz 48.5; a.A. Avvento in Kirchhof/Seer, EStG, 22. Aufl., § 62 Rz 5; Bauhaus in Korn, § 62 EStG Rz 31.4). Eine solche Feststellung kann zwar regelmäßig ausreichen, um Zweifel an dem Bestehen der Freizügigkeit zu begründen (s. II.3.b cc). Aufgrund der eigenen Prüfungskompetenz der Familienkasse kann diese eine Versagung des Kindergeldanspruchs aber nicht allein auf die Entscheidung der Ausländerbehörde stützen. Entscheidend abzustellen ist vielmehr darauf, ob der Kindergeldberechtigte tatsächlich nach § 2 FreizügG/EU freizügigkeitsberechtigt ist.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 2 FGO.