ECLI:DE:BFH:2023:BA.130923.XIB52.22.0
BFH XI. Senat
AO § 240 Abs 1 S 1, AO § 238, FGO § 69, FGO § 128, GG Art 3 Abs 1, GG Art 20 Abs 3
vorgehend FG Münster, 06. May 2022, Az: 12 V 30/22
Leitsätze
NV: Es bestehen auch nach dem 31.12.2018 keine ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlich festgelegten Höhe des Säumniszuschlags (Bestätigung der BFH-Rechtsprechung).
Tenor
Auf die Beschwerde des Antragsgegners wird der Beschluss des Finanzgerichts Münster vom 06.05.2022 - 12 V 30/22 aufgehoben, soweit die Vollziehung des Abrechnungsbescheides vom 19.08.2021 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 29.04.2022 ausgesetzt wurde.
Die Beschwerde der Antragstellerin gegen den vorgenannten Beschluss wird als unbegründet zurückgewiesen.
Der Antrag auf Aufhebung der Vollziehung des Abrechnungsbescheides vom 19.08.2021 in der Fassung des Änderungsbescheides vom 29.04.2022 wird abgelehnt.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Antragstellerin zu tragen.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten über die Aussetzung der Vollziehung (AdV) eines Abrechnungsbescheides über Säumniszuschläge.
Gegen den Abrechnungsbescheid vom 19.08.2021, in dem Säumniszuschläge zur Lohnsteuer und zur Umsatzsteuer ausgewiesen worden waren, legte die Antragstellerin, Beschwerdeführerin und Beschwerdegegnerin (Antragstellerin) Einspruch ein und beantragte die AdV.
Der Antragsgegner, Beschwerdeführer und Beschwerdegegner (Finanzamt ‑‑FA‑‑) lehnte die begehrte AdV mit Bescheid vom 22.12.2021 ab. Hierauf beantragte die Antragstellerin beim Finanzgericht (FG) Münster die AdV des Abrechnungsbescheides über Säumniszuschläge in voller Höhe. Das FA erließ am 29.04.2022 einen geänderten Abrechnungsbescheid.
Das FG gab dem Antrag auf AdV mit seinem Beschluss vom 06.05.2022 - 12 V 30/22 teilweise statt. Es war der Auffassung, die Rechtmäßigkeit der in dem geänderten Abrechnungsbescheid ausgewiesenen Säumniszuschläge sei ernstlich zweifelhaft, soweit die Säumniszuschläge ‑‑wie im Streitfall teilweise‑‑ nach dem 31.12.2018 entstanden seien. Die ernstlichen Zweifel ergäben sich unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) zur Verfassungsmäßigkeit der Verzinsung von Steuernachforderungen und -erstattungen nach § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) daraus, dass auch Säumniszuschlägen nicht nur die Funktion eines Druckmittels, sondern auch die einer Gegenleistung oder eines Ausgleichs für das Hinausschieben der Zahlung fälliger Steuern, mithin auch eine zinsähnliche Funktion zukomme. Hinsichtlich der Säumniszuschläge zur Umsatzsteuer 2016, zur Umsatzsteuer 13/2017 und zur Umsatzsteuer für 06/2018 hatte das FG keine ernstlichen Zweifel an der Rechtmäßigkeit des Abrechnungsbescheides, da diese sämtlich vor dem 01.01.2019 entstanden sind.
Den hiergegen vom FG zugelassenen Beschwerden des FA und der Antragstellerin hat das FG mit Beschluss vom 23.05.2022 nicht abgeholfen.
Das FA macht mit der Beschwerde geltend, die AdV sei im Streitfall bereits deswegen abzulehnen, weil der Antragstellerin das besondere Aussetzungsinteresse fehle. Ein solches besonderes Aussetzungsinteresse sei erforderlich, wenn die Zweifel an der Rechtmäßigkeit des angefochtenen Verwaltungsaktes auf Bedenken gegen die Verfassungsmäßigkeit des zugrunde liegenden Gesetzes beruhten. Zwar werde auch in diesen Fällen dem Aussetzungsinteresse des Steuerpflichtigen der Vorrang vor dem öffentlichen Vollzugsinteresse eingeräumt, wenn das BVerfG eine ähnliche Vorschrift für nichtig erklärt habe. Das sei vorliegend jedoch nicht der Fall. Die Entscheidung des BVerfG vom 08.07.2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 (BVerfGE 158, 282) zur Höhe der Verzinsung von Steuernachforderungen und -erstattungen nach § 233a i.V.m. § 238 Abs. 1 Satz 1 AO sei nicht auf Säumniszuschläge übertragbar, weil sich unter anderem der Normzweck des § 240 AO erheblich von dem des § 233a AO unterscheide. Bei Säumniszuschlägen handele es sich nicht in erster Linie um Zinsen, sondern um ein Sanktionsmittel eigener Art.
Die Antragstellerin macht mit ihrer Beschwerde insbesondere geltend, dass die Erhebung von Säumniszuschlägen gemäß § 240 AO auch für Zeiträume vor dem 01.01.2019 verfassungswidrig sei und gegen den unionsrechtlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz verstoße.
Das FA beantragt,
den Beschluss des FG vom 06.05.2022 - 12 V 30/22 aufzuheben und die AdV abzulehnen und die Beschwerde der Antragstellerin zurückzuweisen.Die Antragstellerin beantragt,
die Vollziehung auch derjenigen Säumniszuschläge, die vor dem 01.01.2019 verwirkt wurden, in voller Höhe auszusetzen und die Beschwerde des FA zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Auf die Beschwerde des FA hin ist die Vorentscheidung, soweit das FG die Vollziehung ausgesetzt hat, aufzuheben. Die Beschwerde der Antragstellerin ist dagegen unbegründet; sie ist daher durch Beschluss zurückzuweisen (§ 132 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).
1. Nach § 128 Abs. 3 i.V.m. § 69 Abs. 3 Satz 1, Abs. 2 Satz 2 FGO ist die Vollziehung eines angefochtenen Verwaltungsaktes ganz oder teilweise auszusetzen, wenn ernstliche Zweifel an der Rechtmäßigkeit dieses Verwaltungsaktes bestehen.
a) Ernstliche Zweifel im Sinne von § 69 Abs. 2 Satz 2 FGO liegen dann vor, wenn bei summarischer Prüfung des angefochtenen Bescheides neben für seine Rechtmäßigkeit sprechenden Umständen gewichtige Gründe zutage treten, die Unentschiedenheit oder Unsicherheit in der Beurteilung von Rechtsfragen oder Unklarheit in der Beurteilung entscheidungserheblicher Tatfragen bewirken. Es ist nicht erforderlich, dass die für die Rechtswidrigkeit sprechenden Gründe im Sinne einer Erfolgswahrscheinlichkeit überwiegen. Ernstliche Zweifel können auch verfassungsrechtliche Zweifel hinsichtlich einer dem angefochtenen Verwaltungsakt zugrunde liegenden Norm sein (ständige Rechtsprechung, z.B. Beschlüsse des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 26.09.2022 - XI B 9/22 (AdV), BFHE 276, 467, Rz 16 und vom 23.05.2022 - V B 4/22 (AdV), BFHE 276, 535, Rz 28, jeweils m.w.N.).
b) Unter Berücksichtigung dieser Grundsätze bestehen im Streitfall keine ernstlichen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit der gesetzlich festgelegten Höhe des Säumniszuschlags. Der Antrag auf AdV war daher abzulehnen.
aa) Gemäß § 240 Abs. 1 Satz 1 AO ist, wenn eine Steuer nicht bis zum Ablauf des Fälligkeitstages entrichtet wird, für jeden angefangenen Monat der Säumnis ein Säumniszuschlag von 1 % des abgerundeten rückständigen Steuerbetrags zu entrichten; abzurunden ist auf den nächsten durch 50 € teilbaren Betrag.
bb) Diese Regelung verstößt nach der hier gebotenen summarischen Prüfung weder gegen den Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes ‑‑GG‑‑) noch gegen das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 3 GG) oder gegen unionsrechtliche Grundsätze.
(1) Der VII. Senat des BFH hat mit Urteilen vom 23.08.2022 - VII R 21/21 (BFHE 278, 1, BStBl II 2023, 304, Rz 38 ff.) und vom 15.11.2022 - VII R 55/20 (BFHE 278, 403, BStBl II 2023, 621, Rz 19 ff.) entschieden, dass auch bei einem strukturellen Niedrigzinsniveau gegen die in § 240 Abs. 1 Satz 1 AO festgelegte Höhe des Säumniszuschlags keine verfassungsrechtlichen Bedenken bestehen.
Insbesondere lassen sich den genannten Urteilen zufolge weder die vom BVerfG in seinem Beschluss in BVerfGE 158, 282 herausgearbeiteten Grundsätze, nach denen die Verzinsung von Steuernachforderungen und -erstattungen nach §§ 233a, 238 AO in Höhe von 0,5 % pro Monat für Verzinsungszeiträume ab dem 01.01.2014 mit Art. 3 Abs. 1 GG unvereinbar ist, auf den Säumniszuschlag übertragen, noch verstößt die Höhe des Säumniszuschlags gegen das Übermaßverbot und verletzt daher auch nicht das Rechtsstaatsprinzip nach Art. 20 Abs. 3 GG.
(2) Der beschließende Senat folgt dieser Rechtsprechung und nimmt wegen der Einzelheiten darauf Bezug. Zwar betreffen die genannten Entscheidungen des VII. Senats Zeiträume vor dem 31.12.2018. Die tragenden Gründe der vom VII. Senat vorgenommenen ‑‑eigenständigen‑‑ verfassungsrechtlichen Prüfung gelten aber gleichermaßen für Zeiträume ab dem 01.01.2019.
(3) Des Weiteren ist weder dargelegt noch für den erkennenden Senat ersichtlich, dass die Verwirkung von Säumniszuschlägen auf der Grundlage des § 240 AO die Ausübung der durch die Unionsrechtsordnung verliehenen Rechte praktisch unmöglich macht oder übermäßigt erschwert (vgl. BFH-Beschluss vom 23.05.2022 - V B 4/22 (AdV), BFHE 276, 535, Rz 35 f.). Der Senat folgt insoweit der Argumentation des V. Senats des BFH und nimmt darauf Bezug.
Die vom VIII. Senat des BFH im AdV-Verfahren insoweit geäußerten Zweifel (BFH-Beschluss vom 11.11.2022 - VIII B 64/22 (AdV), BFHE 278, 36) sind nach Auffassung des beschließenden Senats durch die ‑‑im Hauptsacheverfahren ergangenen‑‑ Entscheidungen des VII. Senats überholt.
2. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 und Abs. 2 FGO.