ECLI:DE:BFH:2023:U.261023.IIIR16.22.0
BFH III. Senat
FGO § 44 Abs 2, FGO § 63 Abs 1 Nr 1, FGO § 67
vorgehend FG Köln, 10. March 2022, Az: 10 K 2288/21
Leitsätze
NV: Es ist nicht zu beanstanden, wenn das Finanzgericht in einem den Erlass einer Kindergeldrückforderung betreffenden Verfahren das besondere Rechtsschutzbedürfnis für die isolierte Anfechtung der Einspruchsentscheidung der zuständigen Familienkasse bejaht, nachdem zuvor die unzuständige Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse den Erlass durch Bescheid abgelehnt hatte.
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Finanzgerichts Köln vom 10.03.2022 - 10 K 2288/21 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Beklagte zu tragen.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten um die isolierte Aufhebung einer Einspruchsentscheidung, mit der die Familienkasse Nordrhein-Westfalen West (Beklagte und Revisionsklägerin ‑‑Revisionsklägerin‑‑) den Einspruch gegen die Ablehnung eines Erlassantrags durch die Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse (Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse) zurückgewiesen hat.
Der Erlassantrag bezieht sich auf einen bestandskräftigen Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid der Revisionsklägerin vom 13.06.2013 (Rückforderung in Höhe von 3.496 € für den Zeitraum Mai 2011 bis November 2012). Aufgrund einer Ratenzahlungsvereinbarung zahlte die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) zunächst monatlich 10 € zurück.
Nach Widerruf der Vereinbarung und Ablehnung der weiteren Stundung durch die Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse legte die Klägerin gegen die Ablehnung der Stundung Einspruch ein, den die Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord (nach einem längeren Schriftwechsel) mit bestandskräftig gewordener Einspruchsentscheidung vom 11.02.2020 zurückwies.
Mit Schreiben vom 21.08.2020 stellte die Klägerin hinsichtlich der verbliebenen Forderung in Höhe von 2.833,50 € (2.536 € Kindergeld-Rückforderung und 297,50 € Säumniszuschläge) einen Erlassantrag gemäß § 227 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO). Die Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse lehnte diesen Antrag mit Bescheid vom 30.07.2021 bezüglich einer Teilforderung von 2.679,50 € ab. Lediglich eine Forderung von 154 € für den Monat Mai 2011 wurde wegen sachlicher Unbilligkeit erlassen.
Den Einspruch der Klägerin gegen die Erlassablehnung wies die Revisionsklägerin mit Einspruchsentscheidung vom 04.11.2021 als unbegründet zurück.
Die Klägerin erhob Klage, die sie gemäß der Rechtsbehelfsbelehrung in der Einspruchsentscheidung gegen die Revisionsklägerin richtete. In der Klageschrift formulierte sie zunächst den Antrag, die Revisionsklägerin unter Aufhebung des Bescheids vom 30.07.2021 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 04.11.2021 zum Erlass zu verurteilen.
Nach einem richterlichen Hinweis auf das Urteil des erkennenden Senats vom 25.02.2021 - III R 36/19 (BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712) schränkte die Klägerin ihr Klagebegehren mit Schreiben vom 08.02.2022 dahingehend ein, dass sie nur noch die isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung beantragte.
Die Revisionsklägerin teilte mit Schreiben vom 03.03.2022 mit, sie werde angesichts der unveränderten Weisungslage nicht an der mündlichen Verhandlung teilnehmen, hätte allerdings keine Einwände, wenn das Klageverfahren bis zum Abschluss eines der Revisionsverfahren III R 2/22, III R 3/22, III R 4/22 und III R 6/22 ruhe. Die Frage der Heilung durch die Einspruchsentscheidung der sachlich zuständigen Familienkasse sei höchstrichterlich noch nicht geklärt.
Das Finanzgericht (FG) Köln gab der Klage mit Urteil vom 10.03.2022 - 10 K 2288/21 (juris) statt. Es hob die Einspruchsentscheidung der Revisionsklägerin vom 04.11.2021 auf und erlegte ihr die Kosten des Verfahrens auf.
Mit ihrer Revision rügt die Revisionsklägerin eine Verletzung von Bundesrecht in Gestalt einer unzutreffenden Auslegung der §§ 126, 127, 367 Abs. 2 AO.
Die Revisionsklägerin beantragt,
das Urteil des FG Köln vom 10.03.2022 - 10 K 2288/21 aufzuheben und die Klage abzuweisen.Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist unbegründet und deshalb gemäß § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Ausgehend von der Wirksamkeit der Beschränkung des Klageantrags (1.) hat das FG zu Recht entschieden, dass die isolierte Anfechtung der Einspruchsentscheidung zulässig (2.) und begründet (3.) ist.
1. Das FG hat in zutreffender Weise unterstellt, dass die Antragsänderung der Klägerin zulässig war.
a) Die Klägerin hatte im Klageverfahren vor dem FG zunächst nicht nur die Aufhebung der Einspruchsentscheidung vom 04.11.2021, sondern auch die Aufhebung des (Teil-)Ablehnungsbescheids vom 30.07.2021 und die Verurteilung der Revisionsklägerin zum Erlass beantragt. Nach einem Hinweis des Gerichts schränkte sie den Klageantrag ein und beantragte nur noch die isolierte Aufhebung der Einspruchsentscheidung.
b) Bei der von der Klägerin vorgenommenen Einschränkung des Klageantrags handelte es sich nicht um eine Klageänderung im Sinne des § 67 Abs. 1 FGO. Wird in einem Klageverfahren nämlich ein zu Beginn weiter gefasster Antrag beschränkt und nur noch die Aufhebung der Einspruchsentscheidung beantragt, wird kein neuer Streitgegenstand in das Verfahren eingeführt, so dass keine an § 67 FGO zu messende Klageänderung vorliegt (vgl. § 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 264 Nr. 2 der Zivilprozessordnung und Paetsch in Gosch, FGO § 67 Rz 21).
2. Die Entscheidung des FG, dass die auf die Aufhebung der Einspruchsentscheidung beschränkte Klage zulässig ist, ist nicht zu beanstanden. Die sachlich zuständige Revisionsklägerin war (nur) insoweit passiv prozessführungsbefugt (siehe unter a), ferner hatte die Klägerin für die Beschränkung des Klageantrags auch ein besonderes Rechtsschutzbedürfnis (siehe unter b).
a) Gemäß § 63 Abs. 1 FGO sind Klagen gegen die Behörde zu richten, die den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen hat (Nr. 1) oder die den beantragten Verwaltungsakt unterlassen oder abgelehnt hat (Nr. 2). Danach ist gemäß der Rechtsprechung des Senats die richtige Beklagte bei der Ablehnung eines Billigkeitsantrags (§§ 163, 227 AO) durch die Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse allein diese Behörde, soweit sich die Klage auch gegen den ursprünglichen Ablehnungsbescheid richtet. Dies gilt ungeachtet der fehlenden sachlichen Zuständigkeit der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse auch dann, wenn die anschließende Einspruchsentscheidung von der zuständigen Familienkasse erlassen wird und mit der Klage der Ablehnungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung angefochten wird. Da auch die Voraussetzungen des § 63 Abs. 2, Abs. 3 FGO nicht vorliegen, ist die sachlich zuständige Einspruchsbehörde in diesem Fall nicht passiv prozessführungsbefugt (vgl. die Senatsurteile vom 25.02.2021 - III R 36/19, BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712, Rz 14 ff.; vom 19.01.2023 - III R 2/22, BFHE 279, 20, BStBl II 2023, 626, Rz 11 ff. und vom 16.02.2023 - III R 4/22, BFH/NV 2023, 838, Rz 10 ff.).
Bei der isolierten Anfechtungsklage gegen die Einspruchsentscheidung ist die von der Ausgangsbehörde verschiedene Einspruchsbehörde hingegen gemäß § 63 Abs. 1 Nr. 1 FGO passiv prozessführungsbefugt. Grund hierfür ist, dass die Einspruchsbehörde bezüglich der Einspruchsentscheidung als des alleinigen Streitgegenstands diejenige Behörde ist, die "den ursprünglichen Verwaltungsakt" im Sinne des § 63 Abs. 1 Nr. 1 FGO erlassen hat. Denn der ursprüngliche Verwaltungsakt im Sinne dieser Vorschrift ist bei der isolierten Anfechtung der Einspruchsentscheidung nicht der Ausgangsbescheid, sondern die Einspruchsentscheidung selbst (vgl. Brandis in Tipke/Kruse, § 63 FGO Rz 5; Paetsch in Gosch, FGO § 63 Rz 18; Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 63 FGO Rz 20).
b) Gegenstand der Anfechtungsklage nach einem Vorverfahren ist gemäß § 44 Abs. 2 FGO zwar der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf gefunden hat. Die isolierte Anfechtung der Einspruchsentscheidung ist gleichwohl nicht generell unzulässig, sondern erfordert nach ständiger Rechtsprechung ein besonderes Rechtsschutzinteresse oder eine sich ausschließlich aus der Einspruchsentscheidung ergebende eigenständige Beschwer (vgl. die Nachweise in den Beschlüssen des Bundesfinanzhofs vom 20.02.2018 - XI B 129/17, BFH/NV 2018, 641, Rz 22 ff. und vom 16.12.2020 - VIII B 141/19, BFH/NV 2021, 534, Rz 11).
Vor dem Hintergrund der Senatsrechtsprechung zur fehlenden sachlichen Zuständigkeit der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse für Entscheidungen über Billigkeitsanträge (z.B. Senatsurteile vom 19.01.2023 - III R 2/22, BFHE 279, 20, BStBl II 2023, 626, Rz 15 f. und vom 16.02.2023 - III R 4/22, BFH/NV 2023, 838, Rz 14 f.; vgl. das vom FG beim Hinweis an die Klägerin genannte Senatsurteil vom 25.02.2021 - III R 36/19, BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712, Rz 19 ff.) durfte das FG im Streitfall ein derartiges besonderes Rechtsschutzinteresse der Klägerin anerkennen, den Klageantrag gemäß der vom FG selbst gegebenen Empfehlung auf die isolierte Anfechtung der Einspruchsentscheidung zu beschränken.
Die Klägerin war durch die fehlerhafte Rechtsbehelfsbelehrung in der Einspruchsentscheidung der Revisionsklägerin vom 04.11.2021 zur Klage gegen diese veranlasst worden. Das allein rechtfertigt zwar noch nicht, die Voraussetzungen einer isolierten Anfechtung der Einspruchsentscheidung als erfüllt anzusehen. Allerdings war zum Zeitpunkt des FG-Urteils noch unklar, wie der erkennende Senat in den damals anhängigen Revisionsverfahren (z.B. III R 2/22, III R 3/22, III R 4/22 und III R 6/22) entscheiden würde. Die Klägerin hatte ein berechtigtes Interesse, dass die Revisionsklägerin als die sachlich zuständige Familienkasse über den Erlassantrag vom 21.08.2020 nicht nur im Rahmen eines Einspruchsverfahrens, sondern durch einen Ausgangsbescheid entscheidet, gegen den der Einspruch eröffnet ist.
Unter den Umständen des Streitfalls lag daher eine eigenständige Beschwer der Klägerin insofern vor, als die für den Erlassantrag sachlich zuständige Revisionsklägerin lediglich eine Einspruchsentscheidung erlassen hatte. Aus prozessökonomischen Gründen und im Interesse effektiven Rechtsschutzes der Klägerin ist es im Ergebnis nicht zu beanstanden, dass das FG die Zulässigkeit der isolierten Anfechtungsklage bejaht hat.
3. Ebenfalls zutreffend hat das FG entschieden, dass die isolierte Anfechtungsklage aus verfahrensrechtlichen Gründen begründet ist. Das FG hat die Einspruchsentscheidung zu Recht aufgehoben. Sein Urteil beruht nicht auf einer unzutreffenden Auslegung der §§ 126, 127, 367 Abs. 2 AO.
Nach der in mittlerweile zahlreichen Senatsurteilen etablierten Rechtsprechung ist die Einspruchsentscheidung einer sachlich zuständigen Familienkasse in Fällen wie dem Streitfall ebenso rechtswidrig wie der Ausgangsbescheid der sachlich unzuständigen Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse. Entgegen der Auffassung der Revisionsklägerin bewirkt die Einspruchsentscheidung insbesondere keine Heilung des rechtswidrigen Ausgangsbescheids der unzuständigen Ausgangsbehörde. Zur Vermeidung von Wiederholungen wird auf die Erläuterungen des Senats in den Urteilen vom 19.01.2023 - III R 2/22 (BFHE 279, 20, BStBl II 2023, 626, Rz 17 ff.) und vom 16.02.2023 - III R 4/22 (BFH/NV 2023, 838, Rz 16 ff.) verwiesen.
Aufgabe der Revisionsklägerin ist es nun, nach Aufhebung des rechtswidrigen Ausgangsbescheids der unzuständigen Behörde über den Erlassantrag vom 21.08.2020 durch einen neuen Ausgangsbescheid zu entscheiden.
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.