ECLI:DE:BFH:2023:U.100823.VIR36.20.0
BFH VI. Senat
EStG § 33 Abs 1, EStDV § 64 Abs 1 Nr 2 S 1 Buchst f, EStG VZ 2016
vorgehend Thüringer Finanzgericht , 07. July 2020, Az: 3 K 54/20
Leitsätze
NV: Aufwendungen für eine Liposuktion zur Behandlung eines Lipödems können jedenfalls ab dem Jahr 2016 ohne vorherige Vorlage eines vor den Operationen erstellten amtsärztlichen Gutachtens oder einer ärztlichen Bescheinigung eines Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung als außergewöhnliche Belastung zu berücksichtigen sein.
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Thüringer Finanzgerichts vom 07.07.2020 - 3 K 54/20 aufgehoben.
Die Sache wird an das Thüringer Finanzgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen.
Tatbestand
I. Streitig ist, ob Aufwendungen für eine Liposuktion ohne die Nachweiserfordernisse des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. f der Einkommensteuer-Durchführungsverordnung (EStDV) als außergewöhnliche Belastung gemäß § 33 des Einkommensteuergesetzes (EStG) zu berücksichtigen sind.
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) machte in ihrer Einkommensteuererklärung für das Streitjahr (2016) Aufwendungen für eine operative Fettabsaugung an den Armen infolge eines Lipödems (krankhafte Ansammlung von Fettdepots) als außergewöhnliche Belastung geltend. Die Krankheit und die Erforderlichkeit der Operation bestätigte unter anderem ein Arztbrief der Doktoren A und B der Fachklinik C vom 20.02.2015. Die Krankenkasse der Klägerin erstattete die Kosten nicht.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt ‑‑FA‑‑) ließ die geltend gemachten Kosten nicht zum Abzug nach § 33 EStG zu, da die Klägerin kein vor der Behandlung ausgestelltes amtsärztliches Gutachten oder eine ärztliche Bescheinigung eines Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung (§ 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. f EStDV) vorgelegt habe.
Das Vorverfahren, in dem die Klägerin eine nach der Operation eingeholte amtsärztliche Stellungnahme vorlegte, nach der die Liposuktion aufgrund des progredienten Verlaufs und der präoperativen Erschöpfung aller konservativen Therapieansätze medizinisch gerechtfertigt gewesen sei, blieb erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage mit den in Entscheidungen der Finanzgerichte 2021, 211 veröffentlichten Gründen ab. Aufwendungen für die Durchführung der Liposuktion seien im Streitjahr ohne ein vor Beginn der Heilmaßnahme ausgestelltes amtsärztliches Gutachten oder eine vorherige ärztliche Bescheinigung eines Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung nicht als außergewöhnliche Belastung nach § 33 EStG abziehbar. Denn die Liposuktion sei (noch) eine wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethode im Sinne des § 64 Abs. 1 Nr. 2 Satz 1 Buchst. f EStDV.
Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts.
Sie beantragt,
das Urteil des Thüringer FG vom 07.07.2020 - 3 K 54/20 aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid für 2016 vom 17.01.2019 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 02.01.2020 dahingehend zu ändern, dass Aufwendungen für die Liposuktion in Höhe von 5.193 € als außergewöhnliche Belastung gemäß § 33 EStG berücksichtigt werden.Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision der Klägerin ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG hat die geltend gemachten Aufwendungen für eine Liposuktion wegen eines Lipödems zu Unrecht nicht als außergewöhnliche Belastung gemäß § 33 EStG berücksichtigt (dazu 1.). Die Sache ist nicht spruchreif, da das FG keine Feststellungen zu der Höhe der Aufwendungen getroffen hat (dazu 2.).
1. Entgegen der Auffassung des FG handelt es sich bei einer Liposuktion jedenfalls seit dem Streitjahr nicht um eine wissenschaftlich nicht anerkannte Behandlungsmethode zur Behandlung eines Lipödems, unabhängig vom Stadium der Erkrankung. Das Fehlen eines vor der Operation erstellten amtsärztlichen Gutachtens oder einer ärztlichen Bescheinigung eines Medizinischen Dienstes der Krankenversicherung steht der Anerkennung der streitigen Kosten als außergewöhnliche Belastung daher nicht entgegen. Vielmehr kann die Zwangsläufigkeit der Behandlungskosten durch eine "einfache" ärztliche Verordnung nachgewiesen werden (§ 64 Abs. 1 Nr. 1 EStDV), soweit sich aus dieser ergibt, dass die Liposuktion nicht kosmetischen Zwecken gedient hat, sondern wegen des Lipödems und der damit einhergehenden Beeinträchtigungen medizinisch indiziert war. Zur Begründung verweist der Senat auf sein Urteil vom 23.03.2023 - VI R 39/20 (BFHE 280, 175).
Dass die Liposuktion bei der Klägerin nicht kosmetischen Zwecken gedient hat, sondern medizinisch indiziert war, wird durch den Arztbrief vom 20.02.2015 sowie durch die nach der Operation eingeholte amtsärztliche Stellungnahme hinreichend nachgewiesen. Die Vorentscheidung ist deshalb aufzuheben.
2. Die Sache ist nicht spruchreif. Denn das FG hat zur Höhe der dem Grunde nach abzugsfähigen Behandlungskosten ‑‑von seinem Standpunkt aus zu Recht‑‑ keine belastbaren Feststellungen getroffen. Diese sind im zweiten Rechtsgang nachzuholen. Dabei hat sich das FG zu vergegenwärtigen, dass Aufwendungen für die eigentliche Heilbehandlung typisierend als außergewöhnliche Belastung berücksichtigt werden, ohne dass es im Einzelfall der nach § 33 Abs. 2 Satz 1 EStG an sich gebotenen Prüfung der Zwangsläufigkeit des Grundes und der Höhe nach bedarf, wenn die Maßnahmen medizinisch indiziert sind. Weiter ist zu beachten, dass davon nicht nur das medizinisch Notwendige im Sinne einer Mindestversorgung erfasst wird. Medizinisch indiziert (angezeigt) ist vielmehr jedes diagnostische oder therapeutische Verfahren, dessen Anwendung in einem Erkrankungsfall hinreichend gerechtfertigt (angezeigt) ist. Dieser medizinischen Wertung hat die steuerliche Beurteilung zu folgen (Senatsurteil vom 11.11.2010 - VI R 17/09, BFHE 232, 40, BStBl II 2011, 969, Rz 26, m.w.N.).
3. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.