ECLI:DE:BFH:2023:U.170823.IIIR11.22.0
BFH III. Senat
FGO § 63, FGO § 122 Abs 1, FGO § 126 Abs 3 S 1 Nr 2
vorgehend FG Münster, 25. January 2022, Az: 4 K 1545/19
Leitsätze
NV: Ein infolge fehlender passiver Prozessführungsbefugnis gegen die falsche Beklagte ergangenes Urteil des Finanzgerichts beinhaltet einen im Revisionsverfahren von Amts wegen zu berücksichtigenden Verfahrensmangel und ist deshalb ohne Sachprüfung aufzuheben.
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 25.01.2022 - 4 K 1545/19 aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Münster zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten, ob die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) einen Anspruch auf den Erlass einer Rückforderung von Kindergeld (2.240 €) nebst Hinterziehungszinsen (118 €) hat.
Die Klägerin ist Mutter von drei Kindern. Sie kam im Jahr ... in die Bundesrepublik Deutschland (Deutschland). Der ihrem Erlassantrag zugrunde liegende Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 25.06.2015 (Einspruchsentscheidung vom 28.10.2015) betrifft die am 02.10.1996 geborene Tochter A und den Kindergeld-Zeitraum September 2013 bis Oktober 2014.
Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse Nordrhein-Westfalen ‑‑NRW‑‑ Nord), forderte das bereits ausbezahlte Kindergeld in Höhe von insgesamt 2.608 € nach § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) zurück. Zur Begründung führte sie aus, die Klägerin habe keinen Anspruch auf Kindergeld, da die Tochter wegen ihrer langjährigen Ausbildung in einem Drittland (B) und der seltenen Anwesenheit in der Wohnung der Klägerin keinen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt mehr in Deutschland gehabt habe.
Mit Schreiben vom 29.03.2016 beantragte die Klägerin bei der Familienkasse Z den Erlass der Rückforderung aus Billigkeitsgründen (§ 227 AO). Sie begründete den Erlassantrag mit der Anrechnung des zurückgeforderten Kindergeldes auf das Arbeitslosengeld II nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II).
Die Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse (Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse) gewährte zunächst einen Zahlungsaufschub wegen der persönlichen und wirtschaftlichen Verhältnisse der Klägerin und wegen eines von ihr beim Sozialgericht (SG) F geführten Klageverfahrens betreffend die Gewährung von weiteren SGB II-Leistungen.
Im Verfahren vor dem SG F machte die Klägerin unter anderem geltend, sie habe dem Jobcenter bereits im September 2013 mitgeteilt, dass ihre Tochter plane, in B eine Ausbildung zu absolvieren, und sie habe dem Jobcenter auch eine Bescheinigung vorgelegt, nach der die Ausbildung voraussichtlich bis ... 2017 dauern werde. Am xx.xx.2017 schloss die Klägerin mit dem Jobcenter vor dem SG F einen Vergleich, nach dem ihr für den Zeitraum September 2013 bis Oktober 2014 ein Anspruch in Höhe von 250 € zustand.
Mit Bescheid vom 21.08.2017 setzte die Familienkasse NRW Nord Hinterziehungszinsen in Höhe von 118 € fest.
Mit Bescheid vom 26.09.2017 erließ die Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse einen Teilbetrag des zurückgeforderten Kindergeldes in Höhe von 184 € mit der Begründung, dass die Überzahlung für den ersten Monat (September 2013) auch bei rechtzeitiger Mitteilung nicht vermeidbar gewesen wäre. Bezüglich der weiteren Rückforderung, der Säumniszuschläge und der Hinterziehungszinsen (im Bescheid als "Stundungs-/Aussetzungszinsen" bezeichnet) lehnte sie den Erlass unter Hinweis auf die Verletzung der Mitwirkungspflichten der Klägerin ab.
Den hiergegen gemäß der Rechtsbehelfsbelehrung an die Familienkasse NRW Nord gerichteten Einspruch begründete die Klägerin damit, dass ihr seitens des Jobcenters nicht mitgeteilt worden sei, dass der Wegzug ihrer Tochter ins Ausland den Wegfall des Kindergeldanspruchs begründen könnte. Ferner verwies sie laut dem Urteil des Finanzgerichts (FG) auf die damals schwierige Situation, die sie veranlasst habe, ihre Tochter nach B zu schicken, und darauf, dass sie finanziell nicht in der Lage sei, die Rückforderung zu begleichen. Am 09.07.2018 leistete die Klägerin eine Zahlung in Höhe von 250 € an die Familienkasse NRW Nord.
Mit Einspruchsentscheidung vom 11.04.2019 wies die Familienkasse NRW Nord den Einspruch der Klägerin gegen die Erlassablehnung als unbegründet zurück. Sie führte aus, es lägen weder sachliche noch persönliche Billigkeitsgründe vor, die den Erlass der Forderungen rechtfertigten.
Die Klägerin erhob daraufhin gemäß der Rechtsbehelfsbelehrung in der Einspruchsentscheidung Klage gegen die Familienkasse NRW Nord.
Nach einem weiteren Teilerlass für den Monat Oktober 2014 und für Säumniszuschläge erklärten die Beteiligten den Rechtsstreit insoweit für erledigt. Bezüglich des verbliebenen Streitgegenstands wies das FG die Klage mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2022, 1013 veröffentlichten Urteil vom 25.01.2022 - 4 K 1545/19 als unbegründet ab.
Die Klage sei zulässig. Sie richte sich gegen die Familienkasse NRW Nord als sachlich und örtlich zuständige Behörde. Zwar habe die unzuständige Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse den Ausgangsbescheid erlassen. Abweichend von dem Grundsatz, dass die Klage gegen die Behörde zu richten sei, die den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen habe, sei die Familienkasse NRW Nord entsprechend § 63 Abs. 2 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) die richtige Beklagte.
Die Klage sei jedoch unbegründet, da die Ablehnung des Antrags auf Erlass der Rückforderung rechtmäßig sei. Der Bescheid sei nicht bereits deshalb aufzuheben, weil die sachlich unzuständige Behörde den Ausgangsbescheid erlassen habe. Denn dieser Fehler sei dadurch geheilt worden, dass die Familienkasse NRW Nord als sachlich und örtlich zuständige Behörde im Rahmen des Einspruchsverfahrens die Sache in vollem Umfang überprüft und die Einspruchsentscheidung erlassen habe (§ 367 Abs. 2 Satz 1 AO). Die Erlassablehnung sei rechtmäßig und insbesondere ermessensfehlerfrei.
Mit ihrer Revision beantragt die Klägerin,
das Urteil des FG Münster aufzuheben und die Familienkasse NRW Nord unter Aufhebung des Bescheides vom 26.09.2017 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 11.04.2019 zu verpflichten, die Rückforderung des Kindergeldes für die Monate Oktober 2013 bis September 2014 in Höhe von 2.240 € nebst Hinterziehungszinsen in Höhe von 118 € zu erlassen.Die Familienkasse NRW Nord beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist zulässig und begründet. Sie führt zur Aufhebung des gegen die Familienkasse NRW Nord als die falsche Beklagte ergangenen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO). Das Urteil des FG verletzt § 63 FGO.
1. Die Revision ist zulässig. Die Klägerin hat sie gemäß § 120 FGO form- und fristgerecht eingelegt und begründet. Ferner hat die Klägerin sie in zulässiger Weise gegen die Familienkasse NRW Nord als die in dem angegriffenen Urteil genannte Beklagte erhoben (§ 122 Abs. 1 FGO).
2. Die Revision ist aus verfahrensrechtlichen Gründen begründet, soweit die Klägerin die Aufhebung der Vorentscheidung beantragt. Das Urteil des FG ist mit § 63 FGO unvereinbar, weil die Familienkasse NRW Nord nicht passiv prozessführungsbefugt ist. Dieser Verfahrensmangel führt zur Aufhebung des Urteils.
a) Die Prozessführungsbefugnis der beklagten Behörde ist eine Sachurteilsvoraussetzung des finanzgerichtlichen Verfahrens, deren fehlerhafte Beurteilung durch das FG einen Verfahrensmangel darstellt. Das Vorliegen der Sachurteilsvoraussetzungen hat der Bundesfinanzhof (BFH) als Revisionsgericht in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu prüfen (vgl. BFH-Urteile vom 03.04.2008 - IV R 54/04, BFHE 220, 495, BStBl II 2008, 742, unter II.1.a; vom 02.12.2015 - I R 3/15, BFH/NV 2016, 939, Rz 9 und vom 13.12.2022 - VIII R 33/20, BFHE 278, 422, BStBl II 2023, 663, Rz 15).
b) § 63 FGO bestimmt, welche Behörde als Beklagte (§ 57 Nr. 2 FGO) am finanzgerichtlichen Verfahren zu beteiligen ist. Nach § 63 Abs. 1 FGO ist die Klage grundsätzlich gegen die Behörde zu richten, die den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen (§ 63 Abs. 1 Nr. 1 FGO) oder die den beantragten Verwaltungsakt oder die andere Leistung unterlassen oder abgelehnt hat (§ 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO). Die Bezugnahme auf den "ursprünglichen" Verwaltungsakt in § 63 Abs. 1 FGO bedeutet, dass nur die Ausgangsbehörde und nicht die Rechtsmittelbehörde beteiligt sein soll (vgl. z.B. Senatsurteile vom 25.02.2021 - III R 36/19, BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712, Rz 14; vom 19.01.2023 - III R 2/22, BFHE 279, 20, BStBl II 2023, 626, Rz 11 und vom 16.02.2023 - III R 4/22, BFH/NV 2023, 838, Rz 10). Ausnahmen von diesem Grundsatz sieht das Gesetz für die Fälle vor, dass vor dem Ergehen der Einspruchsentscheidung eine andere Behörde örtlich zuständig geworden ist (§ 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO) oder dass auf Grund einer gesetzlichen Berechtigung statt der zuständigen Behörde eine andere Behörde die Ausgangsentscheidung getroffen hat (§ 63 Abs. 3 FGO).
c) Nach diesen Maßstäben ist die richtige Beklagte im Streitfall gemäß § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO allein die Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse, da sie den ursprünglichen (Teil-)Ablehnungsbescheid vom 26.09.2017 erlassen hat und die Voraussetzungen des § 63 Abs. 2 und 3 FGO nicht vorliegen (vgl. dazu ausführlich die Senatsurteile vom 25.02.2021 - III R 36/19, BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712, Rz 14 ff.; vom 19.01.2023 - III R 2/22, BFHE 279, 20, BStBl II 2023, 626, Rz 11 ff. und vom 16.02.2023 - III R 4/22, BFH/NV 2023, 838, Rz 10 ff.). Die Familienkasse NRW Nord, die als Rechtsmittelbehörde die Einspruchsentscheidung vom 11.04.2019 erlassen hat, ist unter den Umständen des Streitfalls gemäß § 63 FGO trotz ihrer sachlichen Zuständigkeit nicht passiv prozessführungsbefugt.
d) Entgegen der Ansicht des FG ist insbesondere § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO nicht entsprechend anzuwenden (vgl. Senatsurteile vom 25.02.2021 - III R 36/19, BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712, Rz 17; vom 19.01.2023 - III R 2/22, BFHE 279, 20, BStBl II 2023, 626, BFHE 279, 20, BStBl II 2023, 626, Rz 12 und vom 16.02.2023 - III R 4/22, BFH/NV 2023, 838, Rz 11). Der Streitfall unterscheidet sich von der in den BFH-Beschlüssen vom 28.01.2002 - VII B 83/01 (BFH/NV 2002, 934, unter II.1.a) und vom 27.08.2007 - IV B 98/06 (BFH/NV 2007, 2322, unter 2.) beschriebenen Fallkonstellation insofern, als vorliegend nicht eine örtliche Unzuständigkeit, sondern eine von Beginn an fehlende sachliche Zuständigkeit der Ausgangsbehörde gegeben war. Die Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse war weder die ursprünglich zuständige Behörde noch trat eine Veränderung der örtlichen Zuständigkeit ein.
e) Die Klage war auch nicht deshalb gegen die Familienkasse NRW Nord zu richten, weil die von ihr erlassene Einspruchsentscheidung zu einer Heilung des Zuständigkeitsmangels geführt hat. Denn eine solche Heilung ist nicht erfolgt (vgl. die Senatsurteile vom 19.01.2023 - III R 2/22, BFHE 279, 20, BStBl II 2023, 626, Rz 17 ff. und vom 16.02.2023 - III R 4/22, BFH/NV 2023, 838, Rz 16 ff.).
3. a) Das FG, das von anderen Rechtsgrundsätzen ausgegangen ist, durfte gegen die als Beklagte angesehene Familienkasse NRW Nord nicht zur Sache entscheiden. Sein Urteil enthält insofern einen Verfahrensmangel und ist ohne Sachprüfung aufzuheben (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO).
b) Im zweiten Rechtsgang wird das FG zu berücksichtigen haben (§ 126 Abs. 5 FGO), dass die Familienkasse NRW Nord nicht passiv prozessführungsbefugt ist. Hiervon ausgehend weist der Senat darauf hin, dass er mittlerweile in mehreren vergleichbaren Fällen bestätigt hat, dass gegen die Familienkasse NRW Nord als Rechtsmittelbehörde erhobene Klagen bei rechtsschutzgewährender Auslegung als gegen die Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse gerichtet verstanden und auf diese Weise als zulässig angesehen werden können (vgl. z.B. die Senatsurteile vom 25.02.2021 - III R 36/19, BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712, Rz 11 ff.; vom 19.01.2023 - III R 2/22, BFHE 279, 20, BStBl II 2023, 626, Rz 9 ff. und vom 16.02.2023 - III R 4/22, BFH/NV 2023, 838, Rz 8 ff.). Nach dieser Rechtsprechung des Senats sind Entscheidungen der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse über Anträge auf Billigkeitsmaßnahmen wegen deren fehlender sachlicher Zuständigkeit rechtswidrig; durch die ebenfalls rechtswidrige Einspruchsentscheidung der sachlich zuständigen Familienkasse NRW Nord kann keine Heilung eintreten. Nach Aufhebung des Bescheides vom 26.09.2017 und der Einspruchsentscheidung vom 11.04.2019 wird die Familienkasse NRW Nord deshalb noch einmal, und zwar erstmals durch einen Ausgangsbescheid, über den Erlassantrag der Klägerin vom 29.03.2016 zu entscheiden haben.
4. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO (vgl. dazu das Senatsurteil vom 07.04.2022 - III R 33/20, BFH/NV 2022, 824, Rz 19).