ECLI:DE:BFH:2023:B.300823.XB58.23.0
BFH X. Senat
FGO § 6 Abs 1, FGO § 40 Abs 2, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 116 Abs 6, AO § 165 Abs 1 S 2 Nr 3, EStG § 22 Nr 1 S 3 Buchst a DBuchst aa, EStG VZ 2020
vorgehend Hessisches Finanzgericht , 25. April 2023, Az: 11 K 286/22
Leitsätze
1. NV: Die Klagebefugnis ist gegeben, wenn es nach dem Klagevorbringen als zumindest möglich erscheint, dass das Behördenhandeln eigene subjektiv-öffentliche Rechte des Klägers verletzt.
2. NV: Trotz eines Vorläufigkeitsvermerks nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 der Abgabenordnung besteht ein Rechtsschutzbedürfnis für eine Klage, wenn die darin aufgeworfene Frage nicht Gegenstand desjenigen Musterverfahrens ist, das Grund für die Aufnahme des Vorläufigkeitsvermerks in den Bescheid ist.
3. NV: Ist der Rechtsstreit beim Finanzgericht (FG) auf den Einzelrichter übertragen worden und verweist der Bundesfinanzhof den Rechtsstreit im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde nach § 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung (FGO) an das FG zurück, muss an den Vollsenat zurückverwiesen werden, wenn die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 FGO nicht erfüllt sind.
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Hessischen Finanzgerichts vom 25.04.2023 - 11 K 286/22 aufgehoben.
Die Sache wird an das Hessische Finanzgericht ‑‑Vollsenat‑‑ zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Tatbestand
I.
Die Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin) bezog im Streitjahr 2020 eine Hinterbliebenenrente aus der Basisversorgung nach ihrem im Jahr 2019 verstorbenen Ehemann (E) in Höhe von 5.699 €. Der Beklagte und Beschwerdegegner (Finanzamt ‑‑FA‑‑) legte im angefochtenen Einkommensteuerbescheid 2020 einen Besteuerungsanteil von 78 % zugrunde und setzte einen steuerpflichtigen Teilbetrag der Rente von 4.445 € an. Der Einkommensteuerbescheid erging nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 der Abgabenordnung (AO) vorläufig unter anderem hinsichtlich der Besteuerung von Leibrenten und anderen Leistungen aus der Basisversorgung nach § 22 Nr. 1 Satz 3 Buchst. a Doppelbuchst. aa des Einkommensteuergesetzes.
Mit ihrem Einspruch rügte die Klägerin eine verfassungswidrige doppelte Besteuerung der Hinterbliebenenrente, da E seine Altersvorsorgeaufwendungen nur teilweise habe abziehen können. Das FA teilte der Klägerin mit, es sehe den Einspruch im Hinblick auf den Vorläufigkeitsvermerk als erledigt an.
Während des anschließenden Klageverfahrens erließ das FA am 02.01.2023 die Einspruchsentscheidung, mit der es den Einspruch als unzulässig verwarf. Zur Begründung führte es aus, dem Einspruch fehle aufgrund des Vorläufigkeitsvermerks das Rechtsschutzbedürfnis, weil die Klägerin ausschließlich die Verfassungswidrigkeit der Rentenbesteuerung rüge.
Mit dem angefochtenen Urteil verwarf das Finanzgericht (FG) auch die Klage als unzulässig. Es fehle bereits an der Klagebefugnis, weil eine mögliche Rechtsverletzung von vornherein ausgeschlossen sei. Der Streitfall sei grundverschieden von dem Sachverhalt, über den der Bundesfinanzhof (BFH) im Urteil vom 19.05.2021 - X R 33/19 (BFHE 273, 266) entschieden habe. Gegenstand des dortigen Verfahrens sei die Ermittlung des Umfangs einer doppelten Besteuerung bei einer auf eigenen Altersvorsorgeaufwendungen beruhenden Rente gewesen. Vorliegend beruhe die Hinterbliebenenrente aber auf Beiträgen, die aus Sicht der Klägerin von einem Fremden geleistet worden seien. Nach dem Grundsatz der Individualbesteuerung sei eine Zurechnung dieser Beiträge an die Klägerin ausgeschlossen. Auch verfassungsrechtlich könne sie nur die Verletzung eigener Grundrechte geltend machen.
Darüber hinaus sei die Klage auch wegen des Fehlens des erforderlichen Rechtsschutzbedürfnisses unzulässig. Insoweit nahm das FG gemäß § 105 Abs. 5 der Finanzgerichtsordnung (FGO) auf die Einspruchsentscheidung Bezug.
Die Klägerin begehrt die Zulassung der Revision wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache, zur Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung, wegen eines qualifizierten Rechtsanwendungsfehlers und wegen Verfahrensmängeln.
Das FA hält die Beschwerde für unbegründet.
Entscheidungsgründe
II.
Die Beschwerde ist begründet. Für beide jeweils selbständig tragenden Begründungen des angefochtenen Urteils liegen von der Klägerin geltend gemachte Verfahrensmängel vor, auf denen die Entscheidung des FG beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
1. Das FG hat zunächst die Klagebefugnis in verfahrensfehlerhafter Weise verneint.
a) Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung stellt es einen Verfahrensmangel dar, wenn über eine zulässige Klage nicht in der Sache, sondern durch Prozessurteil entschieden wird (BFH-Beschlüsse vom 07.12.2010 - X B 212/09, BFH/NV 2011, 564, Rz 5, m.w.N. und vom 23.05.2016 - X B 174/15, BFH/NV 2016, 1297, Rz 12).
Für die formgerechte Geltendmachung von Verfahrensmängeln genügt es, wenn in der Beschwerdebegründung die Tatsachen vorgetragen werden, die den Verfahrensmangel ergeben; die verletzte Vorschrift des Verfahrensrechts muss hingegen nicht zwingend ausdrücklich bezeichnet werden (Senatsbeschluss vom 19.09.2012 - X B 138/11, BFH/NV 2013, 63, Rz 13).
b) Gemäß § 40 Abs. 2 FGO ist die (Anfechtungs-)Klage nur zulässig, wenn der Kläger geltend macht, durch den Verwaltungsakt in seinen Rechten verletzt zu sein. Nach ständiger höchstrichterlicher Rechtsprechung ist die Klagebefugnis gegeben, wenn es nach dem Klagevorbringen als zumindest möglich erscheint, dass das Behördenhandeln eigene subjektiv-öffentliche Rechte des Klägers verletzt (Möglichkeitstheorie). Umgekehrt gewendet fehlt die Klagebefugnis nur dann, wenn offensichtlich und eindeutig nach keiner Betrachtungsweise die vom Kläger geltend gemachten Rechte bestehen oder ihm zustehen können (zum Ganzen BFH-Urteil vom 25.09.2019 - I R 82/17, BFHE 266, 516, BStBl II 2020, 229, Rz 29, mit zahlreichen weiteren Nachweisen).
c) Nach diesen Grundsätzen ist die Klagebefugnis im Streitfall offensichtlich gegeben. Die Klägerin hat bereits im Klageverfahren zutreffend auf das Senatsurteil vom 19.05.2021 - X R 33/19 (BFHE 273, 266, Rz 60) hingewiesen. Darin hat der Senat ausgeführt, im Rahmen der Vergleichsrechnung zur Überprüfung, ob es in Bezug auf eine Hinterbliebenenrente zu einer doppelten Besteuerung komme, seien dem Hinterbliebenen auch die steuerfreien Rententeilbeträge und die aus versteuertem Einkommen geleisteten Beitragszahlungen des ursprünglichen Rentenbeziehers zuzurechnen.
Auch wenn es sich hierbei nur um eine nicht entscheidungstragende Erwägung handelt, erscheint es danach als zumindest möglich, dass der Klägerin die Beitragszahlungen des E zuzurechnen sein können und sich auf dieser Grundlage eine doppelte Besteuerung der von ihr bezogenen Hinterbliebenenrente ergeben kann.
2. Darüber hinaus hat das FG auch das Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin zu Unrecht verneint, so dass ihm insoweit ebenfalls ein Verfahrensfehler unterlaufen ist.
a) Zu den ungeschriebenen Sachentscheidungsvoraussetzungen einer jeden Anrufung des Gerichts gehört das Vorhandensein eines Rechtsschutzbedürfnisses. Dieses fehlt unter anderem dann, wenn es für den Rechtsbehelfsführer einen verfahrensmäßig einfacheren und/oder schnelleren Weg gibt, das angestrebte Rechtsschutzziel zu erreichen (Senatsurteil vom 21.08.2018 - X S 23/18, BFH/NV 2019, 35, Rz 12 f., m.w.N.).
b) Nach § 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO kann eine Steuer vorläufig festgesetzt werden, wenn die Vereinbarkeit eines Steuergesetzes mit höherrangigem Recht Gegenstand eines Verfahrens unter anderem beim Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ist.
Ist ein auf diese Norm gestützter Vorläufigkeitsvermerk bereits vor Erhebung der Klage in den angefochtenen Steuerbescheid aufgenommen worden, besteht nach der höchstrichterlichen Rechtsprechung grundsätzlich kein Rechtsschutzbedürfnis für eine Klage, mit der dieselbe Rechtsfrage wie in dem anhängigen Musterverfahren aufgeworfen wird, da der Steuerpflichtige die Klärung im Musterverfahren abwarten kann (BFH-Beschlüsse vom 10.11.1993 - X B 83/93, BFHE 172, 197, BStBl II 1994, 119 und vom 22.03.1996 - III B 173/95, BFHE 180, 217, BStBl II 1996, 506).
Diese Rechtsprechung gilt allerdings nicht ohne Ausnahmen. Vielmehr kann trotz einer auf anhängige Musterverfahren gestützten vorläufigen Festsetzung ein Rechtsschutzbedürfnis für ein Klageverfahren anzunehmen sein, wenn der Steuerpflichtige besondere Gründe materiell-rechtlicher oder verfahrensrechtlicher Art substantiiert geltend macht (BFH-Urteil vom 30.09.2010 - III R 39/08, BFHE 231, 7, BStBl II 2011, 11, Rz 50, m.w.N.).
c) Solche Gründe hat die Klägerin hier geltend gemacht.
§ 165 Abs. 1 Satz 2 Nr. 3 AO setzt nach seinem klaren Wortlaut die Anhängigkeit eines Verfahrens vor einem der in dieser Vorschrift genannten Gerichte voraus. Im Streitfall kann es sich ‑‑auch wenn im angefochtenen Steuerbescheid keine konkreten Verfahren genannt sind‑‑ nur um die Verfassungsbeschwerdeverfahren 2 BvR 1140/21 und 2 BvR 1143/21 handeln. Diese richten sich gegen die Senatsurteile vom 19.05.2021 - X R 33/19 (BFHE 273, 266) und vom 19.05.2021 - X R 20/19 (BFHE 273, 237).
Das FG hat im angefochtenen Urteil selbst ausdrücklich darauf hingewiesen, dass der Streitfall "grundverschieden" von dem Sachverhalt ist, über den der Senat im Urteil vom 19.05.2021 - X R 33/19 (BFHE 273, 266) entschieden hat. Dort ging es ‑‑ebenso wie im Senatsurteil vom 19.05.2021 - X R 20/19 (BFHE 273, 237)‑‑ um die Ermittlung der doppelten Besteuerung bei einer auf eigenen Altersvorsorgeaufwendungen des dortigen Klägers beruhenden Rente; hier geht es hingegen um die Frage, ob und in welchem Umfang die Bezieherin einer Hinterbliebenenrente, die dafür keine eigenen Beiträge geleistet hat, eine doppelte Besteuerung geltend machen kann. Diese Frage ist schon wegen der im entscheidenden Punkt unterschiedlich gelagerten Sachverhalte nicht Gegenstand der vom FA angeführten, beim BVerfG anhängigen Verfassungsbeschwerdeverfahren 2 BvR 1140/21 und 2 BvR 1143/21. Sie kann daher dort nicht geklärt werden.
Zwar kann das BVerfG aufgrund der Breitenwirkung seiner Entscheidungen über den dort anhängigen Fall hinausgreifen und allgemeine Grundsätze auch zu verwandten, aber im konkreten Verfassungsbeschwerdeverfahren nicht konkret entscheidungserheblichen Rechtsfragen aufstellen. Allein der Umstand, dass diese Möglichkeit theoretisch besteht, macht eine Klage, mit der eine andere als die beim BVerfG anhängige Frage aufgeworfen wird, jedoch nicht unzulässig. Ansonsten würde es jedenfalls in dem Fall, dass das BVerfG sich auf die Klärung derjenigen Frage beschränkt, die im dort anhängigen Verfassungsbeschwerdeverfahren zu entscheiden ist, zu einer unzumutbaren Verzögerung der Klärung der davon zu unterscheidenden, von der Klägerin aufgeworfenen Rechtsfrage ‑‑und letztlich zu einer Rechtsschutzverweigerung zumindest auf Zeit‑‑ kommen.
d) Die Klägerin hat diesen Verfahrensfehler zwar unter der Überschrift der Darlegung einer grundsätzlichen Bedeutung der Rechtssache und zudem nur sinngemäß geltend gemacht. Sie hat aber alle Tatsachen vorgetragen, aus denen sich der Verfahrensfehler ergibt. Dies reicht nach der unter II.1.a angeführten Rechtsprechung für die Erfüllung der an eine Verfahrensrüge zu stellenden Darlegungsanforderungen aus.
3. Der Senat hält es für angezeigt, nach § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen. Die Durchführung eines Revisionsverfahrens wäre im derzeitigen Verfahrensstadium noch nicht sinnvoll, da das FG zunächst tatsächliche Feststellungen zum Vorliegen und gegebenenfalls zum Umfang einer doppelten Besteuerung treffen muss.
4. Die Zurückverweisung erfolgt ‑‑unter Aufhebung des Beschlusses betreffend die Übertragung der Entscheidung des Streitfalls auf den Einzelrichter‑‑ an den Vollsenat des FG, da die Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 FGO im Streitfall nicht erfüllt sind (vgl. Senatsurteil vom 16.03.2021 - X R 37/19, BFHE 272, 432, BStBl II 2021, 810, Rz 39, m.w.N.). Die Sache weist erhebliche Schwierigkeiten tatsächlicher und rechtlicher Art auf und hat zudem grundsätzliche Bedeutung.
5. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
6. Von einer weiteren Darstellung des Sachverhalts sowie einer weiteren Begründung sieht der Senat gemäß § 116 Abs. 5 Satz 2 Halbsatz 2 FGO ab.