ECLI:DE:BFH:2023:U.190123.IIIR2.22.0
BFH III. Senat
FGO § 44 Abs 2, FGO § 63 Abs 1 Nr 1, FGO § 63 Abs 1 Nr 2, FGO § 63 Abs 2 Nr 1, AO § 19 Abs 1 S 1, AO § 126, AO § 127, AO § 128, AO § 367 Abs 2 S 1
vorgehend FG Münster, 21. December 2021, Az: 1 K 2235/18 Kg,AO
Leitsätze
1. Wird ein Erlassantrag von einer sachlich unzuständigen Behörde abgelehnt, ist die Klage auch dann gemäß § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO gegen diese Ausgangsbehörde zu richten, wenn die Einspruchsentscheidung von der für die Ausgangsentscheidung sachlich und örtlich zuständigen Behörde getroffen wird.
2. Der Heilungstatbestand des § 126 AO erfasst nicht den Mangel der fehlenden sachlichen Zuständigkeit.
3. Die rechtswidrige Ablehnung des Erlasses einer Kindergeldrückforderung durch eine sachlich unzuständige Behörde wird nicht dadurch rechtmäßig, dass die für die Prüfung des Erlasses sachlich und örtlich zuständige Familienkasse den Einspruch gegen den Ausgangsbescheid als unbegründet zurückweist.
4. Stellt die Einspruchsbehörde im Rahmen der gemäß § 367 Abs. 2 Satz 1 AO durchzuführenden umfassenden Prüfung der Erlassablehnung fest, dass die Ausgangsbehörde sachlich unzuständig war, hat sie deren Ausgangsbescheid aufzuheben und durch einen neuen Ausgangsbescheid erstmals selbst über den Erlassantrag zu entscheiden. Im Falle der Erlassablehnung steht dem Antragsteller dagegen der Einspruch offen.
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 21.12.2021 - 1 K 2235/18 Kg,AO wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Beklagte zu tragen.
Tatbestand
I.
Streitig ist der Erlass einer Kindergeldrückforderung.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) erhielt aufgrund eines Abzweigungsbescheids vom 08.05.2014 laufend Kindergeld für sich selbst. Im Oktober 2014 beendete sie ihre Ausbildung vorzeitig, wovon die zuständige Familienkasse Nordrhein-Westfalen (NRW) Nord erst im Jahr 2016 Kenntnis erlangte. Die Familienkasse NRW Nord hob deshalb gegenüber dem Vater der Klägerin die Kindergeldfestsetzung auf und forderte mit Bescheid vom 08.12.2016 von der Klägerin als Abzweigungsempfängerin das für den Zeitraum November 2014 bis einschließlich Juli 2016 gezahlte Kindergeld zurück. Beide Bescheide wurden bestandskräftig.
Die Durchführung des Rückforderungsverfahrens übernahm die Beklagte und Revisionsklägerin (Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse ‑‑Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse‑‑).
Am 15.11.2017 beantragte die Klägerin den Erlass dieser Rückforderung. Zur Begründung gab sie an, dass sie während des Rückforderungszeitraums Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch bezogen habe, bei denen die Kindergeldzahlungen in vollem Umfang angerechnet worden seien. Mit Bescheid vom 21.02.2018 erließ die Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse eine Teilforderung in Höhe von 184 € und lehnte den Erlassantrag im Übrigen unter Hinweis auf die Verletzung der Mitwirkungspflicht der Klägerin ab. Den hiergegen eingelegten Einspruch wies die Familienkasse NRW Nord mit Einspruchsentscheidung vom 17.05.2018, bekanntgegeben mit Schreiben vom 21.06.2018, als unbegründet zurück. Zur Begründung führte sie an, die Klägerin habe die vorzeitige Beendigung ihrer Ausbildung trotz entsprechender Hinweise der Familienkasse NRW Nord nicht mitgeteilt. Hierdurch sei die Rückforderung verursacht worden. Eine sachliche Unbilligkeit sei wegen der Verletzung der Mitwirkungspflicht zu verneinen. Aus demselben Grund sei die Klägerin auch persönlich nicht erlasswürdig.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage insoweit statt, als die Klägerin die Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 21.02.2018 und der Einspruchsentscheidung vom 17.05.2018 begehrte. Soweit die Klägerin darüber hinaus die Verpflichtung der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse zum Ausspruch des begehrten Erlasses beantragte, wies das FG die Klage als unbegründet ab.
Mit der hiergegen gerichteten Revision rügt die Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts.
Die Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse beantragt,
das angefochtene Urteil insoweit aufzuheben, als der Klage stattgegeben wurde, und die Klage auch insoweit abzuweisen.Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG ist in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise davon ausgegangen, dass sich die Klage gegen die Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse richtet (dazu unter 1.). Ferner ist das FG zu Recht davon ausgegangen, dass die Ablehnung des Erlasses durch eine sachlich unzuständige Behörde ausgesprochen wurde (dazu unter 2.) und dass dieser Mangel nicht aufgrund der nachfolgenden Einspruchsentscheidung geheilt wurde oder unbeachtlich ist (dazu unter 3.).
1. Die Klage richtet sich infolge rechtsschutzgewährender Auslegung gegen die Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse.
a) Nach § 63 Abs. 1 FGO ist die Klage gegen die Behörde zu richten, die den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen (§ 63 Abs. 1 Nr. 1 FGO) oder die den beantragten Verwaltungsakt oder die andere Leistung unterlassen oder abgelehnt hat (§ 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO). Dabei bedeutet die Bezugnahme auf den "ursprünglichen" Verwaltungsakt, dass nur die Ausgangsbehörde und nicht etwa die Rechtsmittelbehörde beteiligt sein soll. Daher ist sie und nicht die Familienkasse NRW Nord als Rechtsmittelbehörde beteiligt (Senatsurteil vom 25.02.2021 - III R 36/19, BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712, Rz 13 ff.; Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler ‑‑HHSp‑‑, § 63 FGO Rz 20, 24 f.).
b) Es liegt auch kein Fall des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO vor. Diese Vorschrift erfordert einen Wechsel der örtlichen Zuständigkeit (z.B. durch Wohnsitzwechsel) vor Erlass der Einspruchsentscheidung (Schallmoser in HHSp, § 63 FGO Rz 36). Zwar hat es der Bundesfinanzhof (BFH) für möglich gehalten, die Vorschrift auch für den Fall analog anzuwenden, dass die örtliche Zuständigkeit bereits vor Erlass des Ausgangsbescheids auf eine andere Behörde übergegangen und die Einspruchsentscheidung von der örtlich zuständigen Behörde getroffen worden ist (BFH-Beschluss vom 28.01.2002 - VII B 83/01, BFH/NV 2002, 934, unter II.1.a). Insofern kann der erkennende Senat dahingestellt lassen, ob er sich dem anschließen könnte. Denn diese Sachverhaltskonstellation lag im Streitfall nicht vor. Bei der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse trat vor Erlass des Ausgangsbescheids kein Wechsel in der örtlichen Zuständigkeit ein. Vielmehr hat diese als von Beginn an sachlich unzuständige Behörde entschieden (z.B. Senatsurteil vom 07.07.2021 - III R 21/18, BFH/NV 2021, 1457, Rz 19). Damit war keine der in § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO geforderten Voraussetzungen gegeben. Die Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse war nicht die ursprünglich zuständige Behörde, es trat keine Veränderung der örtlichen Zuständigkeit ein und es kam zu keiner Zuständigkeitsveränderung zwischen dem Erlass des Ausgangsbescheids und dem Erlass der Einspruchsentscheidung.
Die Klage richtete sich ‑‑entgegen der Auffassung der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse‑‑ auch nicht deshalb gegen die Familienkasse NRW Nord, weil die durch letztere erlassene Einspruchsentscheidung zu einer Heilung des Zuständigkeitsmangels geführt hat. Denn eine solche Heilung trat nicht ein (dazu unter 3.).
Überdies erscheint es für die Klägerin auch nicht als zumutbar, dass sie bereits bei der Erhebung der Klage das Ergebnis der erst im Rahmen der Begründetheit der Klage vorzunehmenden Prüfung der formellen Rechtmäßigkeit des Ausgangsbescheids vorwegnehmen und aufgrund einer mehrfach analogen Anwendung des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO den richtigen Beklagten bestimmen muss. Daher bleibt es bei der gesetzlichen Grundregel des § 63 Abs. 1 Nr. 2 FGO, wonach die Klage gegen die Behörde zu richten ist, die den beantragten Verwaltungsakt abgelehnt hat.
2. Das FG hat den Bescheid vom 21.02.2018, durch den der beantragte Erlass von der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse abgelehnt wurde, zu Recht aufgehoben, weil dieser rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt (§ 101 Satz 1 FGO). Denn dieser Bescheid wurde von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen.
Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass die Konzentration der Aufgaben des Erhebungsverfahrens ‑‑insbesondere der Erlass und die Stundung von Kindergeldrückforderungen‑‑ bei der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse und der Familienkasse NRW Nord rechtswidrig ist (Senatsurteile in BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712; vom 25.02.2021 - III R 28/20, BFH/NV 2021, 1100, und in BFH/NV 2021, 1457). Hierauf wird zur Vermeidung von Wiederholungen verwiesen.
3. Zu Recht ist das FG weiter davon ausgegangen, dass der Mangel der sachlichen Zuständigkeit der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse nicht durch die nachfolgende Einspruchsentscheidung der Familienkasse NRW Nord geheilt wird und dass auch diese Einspruchsentscheidung rechtswidrig ist und die Klägerin in ihren Rechten verletzt (§ 101 Satz 1 FGO).
a) Eine Heilung des Mangels der fehlenden sachlichen Zuständigkeit der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse ergibt sich nicht aus § 126 der Abgabenordnung (AO). § 126 Abs. 1 Nrn. 1 bis 5 AO enthält einen Katalog von Verfahrens- und Formvorschriften, deren Verletzung einer Heilung durch Nachholung des unterbliebenen Verfahrensschritts oder der nicht beachteten Formanforderung zugänglich ist. Da der Katalog nicht nur beispielhaft formuliert wurde und die Vorschrift Ausnahmecharakter hat, ist die Aufzählung als abschließend zu betrachten (von Wedelstädt in Gosch, AO § 126 Rz 1, 5; Rozek in HHSp, § 126 AO Rz 16; Seer in Tipke/Kruse, § 126 AO Rz 3; vgl. auch Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ‑‑BVerwG‑‑ vom 29.09.1982 - 8 C 138/81, BVerwGE 66, 178, zum Fall des nachträglichen Zuwachses der Verwaltungskompetenz).
b) Der Mangel der sachlichen Zuständigkeit wurde auch nicht durch die Gesamtüberprüfung des Streitfalls im Einspruchsverfahren geheilt.
aa) Nach § 44 Abs. 2 FGO ist Gegenstand der Anfechtungsklage nach einem Vorverfahren der ursprüngliche Verwaltungsakt in der Gestalt, die er durch die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf gefunden hat. Obwohl diese Regelung nur die Anfechtungsklage nennt, ist sie nach ständiger Rechtsprechung und Praxis des BFH auch auf die Verpflichtungsklage anzuwenden, wenn diese die Anfechtung eines ablehnenden Verwaltungsakts in sich aufgenommen hat (BFH-Urteil vom 10.05.1983 - VII R 130/81, juris, unter II.1.a, m.w.N.; z.B. Senatsurteil vom 23.10.2019 - III R 14/18, BFHE 266, 526, BStBl II 2020, 785, Rz 8; ebenso Steinhauff in HHSp, § 44 FGO Rz 311; Krumm in Tipke/Kruse, § 44 FGO Rz 24). Diese Voraussetzung liegt im Streitfall vor, da die Verpflichtungsklage auch die Anfechtung der Ablehnung des Erlasses mitumfasst.
bb) Der Gesetzgeber geht daher nicht davon aus, dass die Einspruchsentscheidung an die Stelle des Ausgangsbescheids tritt. Vielmehr bleibt der Ausgangsbescheid Verfahrensgegenstand und es sind nur die Änderungen zu berücksichtigen, die der Ausgangsbescheid durch die Einspruchsentscheidung erfahren hat. Obwohl es sich formal weiter um zwei Verwaltungsakte handelt, bilden der Ausgangsbescheid und die Einspruchsentscheidung einen Verbund (BFH-Beschluss vom 29.06.1999 - VII B 303/98, BFH/NV 1999, 1585, unter 1.) und eine Verfahrenseinheit (BFH-Urteil vom 19.05.1998 - I R 44/97, BFH/NV 1999, 314, unter II.1.).
cc) Zur "Gestalt" des Verwaltungsakts i.S. des § 44 Abs. 2 FGO gehören der Verfügungssatz und die tragenden Gründe (von Beckerath in Gosch, FGO § 44 Rz 172). Da sich die nach § 367 Abs. 2 Satz 1 AO durchzuführende Prüfung auch auf die örtliche und sachliche Zuständigkeit der Ausgangsbehörde erstreckt (Senatsurteil vom 19.01.2017 - III R 31/15, BFHE 256, 502, BStBl II 2017, 642, Rz 20), kann auch ein Mangel der sachlichen Zuständigkeit im Einspruchsverfahren korrigiert werden. Eine Korrektur muss jedoch auch tatsächlich durchgeführt werden. Diese erfolgt dadurch, dass die Einspruchsbehörde den Bescheid der sachlich unzuständigen Ausgangsbehörde aufhebt und erstmals selbst entscheidet. Diese Entscheidung hat jedenfalls dann, wenn es sich ‑‑wie im vorliegenden Fall‑‑ um eine Ermessensentscheidung handelt, in Form eines Ausgangsbescheids zu erfolgen, damit dem Betroffenen (bzw. im Streitfall der Klägerin als Abzweigungsempfängerin) der volle außergerichtliche Rechtsschutz mit einer Prüfung durch zwei Stellen der Verwaltung erhalten bleibt.
dd) Soweit sich die Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse zur Begründung ihrer Auffassung auf Stimmen aus der Rechtsprechung (Urteile des FG Berlin-Brandenburg vom 17.06.2020 - 7 K 14045/18, Entscheidungen der Finanzgerichte ‑‑EFG‑‑ 2020, 1284; des FG Münster vom 03.12.2020 - 3 K 2344/20, EFG 2021, 337; des FG Düsseldorf vom 14.06.2021 - 9 K 2976/20 AO, juris, und vom 28.09.2021 - 9 K 465/21 AO, Anwalt/Anwältin im Sozialrecht 2021, 273) und der Literatur (Wackerbeck in HHSp, § 16 AO Rz 55; Schmieszek in Gosch, AO § 16 Rz 17) beruft, vermag der Senat hieraus keine für diese Auffassung sprechenden Argumente abzuleiten.
Soweit das FG Berlin-Brandenburg von einer Zuständigkeit der Einspruchsbehörde aufgrund der entsprechenden Vorstandsbeschlüsse der Bundesagentur für Arbeit ausgeht, widerspricht dies bereits dem Senatsurteil in BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712, Rz 41. Dass die Einspruchsbehörde nach § 367 Abs. 2 AO eine umfassende Prüfung vorzunehmen hat, ist zwar zutreffend, hilft aber nicht für den Fall, dass die Einspruchsbehörde dieser Verpflichtung ‑‑wie im Streitfall in Bezug auf die sachliche Zuständigkeit der Ausgangsbehörde‑‑ nicht entsprochen hat. Dass Ermessenserwägungen in der Einspruchsentscheidung nachgeholt werden können, ist ohne Belang, da die sachliche Zuständigkeit zum einen nicht im Ermessen der Behörde liegt und zum anderen von einer "Nachholung" ohnehin nicht ausgegangen werden könnte, wenn sich die Einspruchsbehörde mit der Frage der sachlichen Zuständigkeit der Ausgangsbehörde gar nicht befasst.
Die Ablehnung einer Heilung beinhaltet in einem Fall wie dem vorliegenden auch keinen bloßen Formalismus, sondern folgt aus dem Gebot effektiver Rechtsschutzgewährung. Für den von einer solchen Entscheidung betroffenen Kläger muss aus der Entscheidung der für den Einspruch zuständigen Behörde hervorgehen, wogegen er sein Rechtsschutzbegehren richten soll. Kommt die Einspruchsbehörde aufgrund ihrer umfassenden Prüfung zu dem Ergebnis, dass die Ausgangsbehörde sachlich unzuständig war, hebt sie den Ausgangsbescheid auf, erlässt selbst einen Ausgangsbescheid und belehrt den Betroffenen über die ihm dagegen zustehende Einspruchsmöglichkeit. Geht die Einspruchsbehörde dagegen von einer bestehenden sachlichen Zuständigkeit der Ausgangsbehörde aus und prüft sie deshalb deren Sachentscheidung, kann sich der Betroffene darauf beschränken, die Ausgangsbehörde zu verklagen, und die Klage ‑‑mithilfe der Rüge der fehlenden sachlichen Zuständigkeit‑‑ nur auf eine Aufhebung des Ablehnungsbescheids richten. Folgte man dagegen der Auffassung der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse, dass auch eine "zufällige" sachliche Zuständigkeit der Einspruchsbehörde ohne weitere Erläuterung in den Gründen der Einspruchsentscheidung zu einer Heilung führen kann, wird für den Betroffenen zum einen nicht klar, gegen welche Behörde er Rechtsschutz begehren soll. Zum anderen läuft er ‑‑wie das erstinstanzliche Urteil im Streitfall zeigt‑‑ Gefahr, wegen des zu weit gefassten Rechtsschutzziels einen Teil der Kosten auferlegt zu bekommen, ob-wohl die Ursache für die Zuständigkeitsunklarheit und die fehlende Möglichkeit des FG, über die eigentliche Sache entscheiden zu können, von der Verwaltung gesetzt wurde.
ee) Übertragen auf die Verhältnisse des Streitfalls bedeutet dies, dass die Familienkasse NRW Nord den Mangel der sachlichen Zuständigkeit durch die Einspruchsentscheidung nicht geheilt hat. Die Familienkasse NRW Nord hat den Ablehnungsbescheid der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse vom 21.02.2018 weder aufgehoben noch erstmals selbst einen Ausgangsbescheid erlassen. Sie hat den Ausgangsbescheid nur auf seine materielle Rechtmäßigkeit hin überprüft und ihn dann in vollem Umfang als rechtmäßig bestätigt.
Bestätigt die Einspruchsentscheidung den ursprünglichen Verwaltungsakt, so bleibt es bei der "ursprünglichen Gestalt", dem ursprünglichen Inhalt des Ausgangsbescheids (Krumm in Tipke/Kruse, § 44 FGO Rz 24). Die Einspruchsentscheidung vom 17.05.2018 bedeutet deshalb nicht, dass die Familienkasse NRW Nord selbst den von der Klägerin begehrten Erlass abgelehnt hat. Indem sie durch die Zurückweisung des Einspruchs den Ausgangsbescheid der Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse gebilligt hat, hat sie die Entscheidung nicht zu ihrer eigenen gemacht (vgl. BVerwG-Urteil vom 16.07.1968 - I C 81.67, BVerwGE 30, 138; Verwaltungsgerichtshof ‑‑VGH‑‑ Baden-Württemberg vom 18.12.2012 - 10 S 2058/11, Verwaltungsblätter für Baden-Württemberg 2013, 301, Rz 30). Insoweit kommt auch keine nach § 128 Abs. 1 AO mögliche Umdeutung der Einspruchsentscheidung in eine "eigene Ablehnung des Erlasses" in Betracht, da die Einspruchsbehörde dann zusätzlich auch den Ausgangsbescheid hätte aufheben müssen (vgl. Beschluss des Bayerischen VGH vom 22.05.2012 - 11 BV 11.964, juris, Rz 3). Die von der Ausgangsbehörde zu Unrecht (mutmaßlich) aus Nr. 2.4. des Vorstandsbeschlusses Nr. 15/2016 vom 14.04.2016 (Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit Nr. 5/2016) abgeleitete sachliche Zuständigkeit wurde daher nicht korrigiert, sodass der Ausgangsbescheid auch in Gestalt der Einspruchsentscheidung rechtswidrig blieb.
4. Schließlich hat der Senat in den Urteilen in BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712 und in BFH/NV 2021, 1100 bereits entschieden, dass auch § 127 AO einer Aufhebung des angegriffenen Verwaltungsakts, der von der ‑‑sachlich unzuständigen‑‑ Agentur für Arbeit Recklinghausen, Inkasso-Service Familienkasse im Erhebungsverfahren getroffen wurde, nicht entgegensteht und es sich bei der Entscheidung über einen Erlass zudem um eine Ermessensentscheidung handelt, auf die § 127 AO grundsätzlich keine Anwendung findet.
5. Für das weitere Verfahren weist der Senat ergänzend darauf hin, dass nach seiner Auffassung die örtliche Zuständigkeit der Familienkasse für die Entscheidung über den Erlass einer gegenüber einem Abzweigungsempfänger geltend gemachten Rückforderung an den Wohnort des Kindergeldberechtigten anknüpft, dessen Kindergeld abgezweigt wird. Dies ergibt sich aus § 19 Abs. 1 Satz 1 AO. Danach bestimmt sich die örtliche Zuständigkeit nach dem Wohnsitz oder in Ermangelung eines Wohnsitzes nach dem gewöhnlichen Aufenthalt des Betroffenen. Dem Betroffenen steht im Fall der Steuervergütung Kindergeld (§ 31 Satz 3 des Einkommensteuergesetzes) der Kindergeldberechtigte gleich. Die örtliche Gesamtzuständigkeit der Wohnsitzfamilienkasse (s. dazu Senatsurteil in BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712, Rz 23) umfasst daher Erhebungsfragen auch dann, wenn Dritte, wie z.B. der Abzweigungsempfänger, betroffen sind. Auf den Wohnort des Abzweigungsempfängers kommt es daher nicht an.
6. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.