ECLI:DE:BFH:2023:U.180123.XIR29.22.0
BFH XI. Senat
UStG § 2 Abs 1, UStG § 2 Abs 2 Nr 2, EWGRL 388/77 Art 4 Abs 1, EWGRL 388/77 Art 4 Abs 4 UAbs 2, FGO § 11 Abs 2, UStG § 1, UStG VZ 2005
vorgehend Schleswig-Holsteinisches Finanzgericht , 06. February 2018, Az: 4 K 35/17
Leitsätze
1. Die sich aus § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG ergebende Steuerschuldnerschaft des Organträgers für die Umsätze der Organschaft ist unionsrechtskonform (Anschluss an EuGH-Urteil Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie vom 01.12.2022 - C-141/20, EU:C:2022:943).
2. Zwar erfordert die finanzielle Eingliederung i.S. des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG im Grundsatz, dass dem Organträger die Mehrheit der Stimmrechte an der Organgesellschaft zusteht. Eine finanzielle Eingliederung liegt aber auch dann vor, wenn die erforderliche Willensdurchsetzung dadurch gesichert ist, dass der Gesellschafter zwar über nur 50 % der Stimmrechte verfügt, er aber eine Mehrheitsbeteiligung am Kapital der Organgesellschaft hält und er den einzigen Geschäftsführer der Organgesellschaft stellt (Änderung der Rechtsprechung).
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Schleswig-Holsteinischen Finanzgerichts vom 06.02.2018 - 4 K 35/17 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Tatbestand
I.
Streitig ist, ob im Jahr 2005 (Streitjahr) eine umsatzsteuerrechtliche Organschaft zwischen A, einer Körperschaft des öffentlichen Rechts, als Organträgerin und der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) als Organgesellschaft bestand.
Die Klägerin ist eine GmbH, die durch notarielle Urkunde vom 29.08.2005 errichtet wurde. Gesellschafter der Klägerin waren A zu 51 % und C, ein eingetragener Verein, zu 49 %. Alleiniger Geschäftsführer der Klägerin war im Streitjahr Herr E, der zugleich Alleingeschäftsführer der A und geschäftsführender Vorstand des C war.
Vor der Gründung der Klägerin waren dem Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt ‑‑FA‑‑) zwei Entwürfe des Gesellschaftsvertrags zur Stellungnahme im Hinblick auf das Vorliegen einer umsatzsteuerrechtlichen Organschaft vorgelegt worden. Hierbei handelte es sich um den Gesellschaftsvertrag "Stand ..." (Version 1) und den Gesellschaftsvertrag "Stand ..." (Version 2). Mit Schreiben vom 29.12.2004 teilte das FA mit, dass nur die Version 2 die Anforderungen an die finanzielle Eingliederung erfülle.
Am 29.08.2005 notariell beurkundet wurde jedoch Version 1. § 7 Abs. 2 dieses Gesellschaftsvertrags enthielt zur Gesellschafterversammlung folgende Regelung:
"Die Gesellschafterversammlung wird gebildet aus den Mitgliedern des Hilfswerksausschusses der [A] und des Hauptausschusses des [C]. Jeder Gesellschafter hat 7 Stimmen und entsendet in die Gesellschafterversammlung bis zu 7 Vertreter/innen, die für diese Gesellschaft ausschließlich ehrenamtlich tätig sind. Vorbehaltlich der nachfolgenden Regelungen hat jeder/e Vertreter/in eine Stimme und entscheidet nach eigenem pflichtgemäßen Ermessen und ist dabei nicht an Vorgaben des ihn entsendenden Gesellschafters gebunden.
...
Eine Ausnahme gilt nur für Entscheidungen, die unmittelbar das jeweils von einem Gesellschafter der Gesellschaft zur Verfügung gestellte Anlagevermögen betreffen; in diesem Fall können die Stimmen nur pro Gesellschafter einheitlich abgegeben werden und die Vertreter/innen sind an die Anweisungen des entsendenden Gesellschafters gebunden. Können sie sich untereinander nicht einigen, gelten alle 7 Stimmen des betroffenen Gesellschafters als in der Weise abgegeben, wie die Mehrheit der von ihm entsandten Vertreter/innen abgestimmt hat."
Die Klägerin wurde am 17.10.2005 unter Verweis auf den am 29.08.2005 geschlossenen Gesellschaftsvertrag (in der Version 1) in das Handelsregister eingetragen.
In der gemeinsamen Sitzung des Hilfswerksausschusses der A, des Hauptausschusses des C und der Gesellschafterversammlung der Klägerin vom 01.12.2005 beschlossen der Hilfswerksausschuss und der Hauptausschuss jeweils einstimmig, den Beschluss der Geschäftsführung zu genehmigen und den Gesellschaftsvertrag der Klägerin "gemäß Version 2 abzuändern". Zur Begründung der Änderung enthielt die Niederschrift die Angabe, dass aufgrund der sich abzeichnenden Probleme mit dem FA, die Organschaft der A nicht zuerkennen zu wollen, der Gesellschaftsvertrag gemäß Version 2 abgeändert werden müsse. Eine notarielle Beurkundung und Eintragung in das Handelsregister unterblieben jedoch zunächst. Erst in der Gesellschafterversammlung vom 09.12.2010 bestätigten die Erschienenen den Beschluss vom 01.12.2005. § 7 Abs. 2 Unterabs. 2 des Gesellschaftsvertrags wurde gemäß der Version 2 wie folgt abgeändert:
"Eine Ausnahme gilt nur für Entscheidungen, die unmittelbar das jeweils von einem Gesellschafter der Gesellschaft zur Verfügung gestellte Anlagevermögen betreffen oder für die ein Gesellschafter einheitliche Stimmabgabe beantragt. In diesem Fall können die Stimmen nur pro Gesellschafter einheitlich abgegeben werden und die Vertreter/innen sind an die Anweisungen des entsendenden Gesellschafters gebunden. Können sie sich untereinander nicht einigen, gelten alle 7 Stimmen des betroffenen Gesellschafters als in der Weise abgegeben, wie die Mehrheit der von ihm entsandten Vertreter/innen abgestimmt hat. Bei einheitlicher Stimmabgabe werden die Stimmen gemäß dem Gesellschaftsanteil gewertet."
Im Rahmen einer Außenprüfung bei der Klägerin nahm der Prüfer an, dass es im Streitjahr an einer finanziellen Eingliederung der Klägerin in das Unternehmen der A gefehlt habe. A sei zwar mit 51 % mehrheitlich am Gesellschaftskapital der Klägerin beteiligt gewesen, habe aber aufgrund der Regelungen in § 7 des Gesellschaftsvertrags nicht über eine Stimmrechtsmehrheit verfügt und sei damit nicht in der Lage gewesen, Beschlüsse bei der Klägerin durchzusetzen. Die im Streitjahr von der Klägerin ausgeführten Umsätze zum Regelsteuersatz gegenüber Dritten und ihre Leistungen gegenüber A seien damit bei der Klägerin als Unternehmerin zu erfassen und ihr der Vorsteuerabzug zu gewähren.
Am 30.12.2013 reichte die Klägerin beim FA eine Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr ein, die einer Steuerfestsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleichsteht (§ 168 Satz 1 der Abgabenordnung ‑‑AO‑‑). Das FA folgte der Auffassung des Prüfers und hob mit Bescheid vom 30.05.2014 den Vorbehalt der Nachprüfung auf.
Am 30.06.2014 legte die Klägerin Einspruch gegen den Bescheid ein. Im Laufe des Einspruchsverfahrens zog das FA gemäß § 174 Abs. 5 Satz 2 AO A zum Einspruchsverfahren hinzu.
Mit Einspruchsentscheidung vom 03.02.2017 wies das FA den Einspruch der Klägerin als unbegründet zurück. Zwischen der Klägerin und A bestehe keine Organschaft, da die Voraussetzungen der finanziellen Eingliederung nicht erfüllt seien. Die Klägerin könne sich auch nicht mit Erfolg darauf berufen, dass der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) eine finanzielle Eingliederung in Form eines Über- und Unterordnungsverhältnisses für die Anerkennung einer Organschaft nicht mehr voraussetze.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte 2018, 1138 veröffentlichten Urteil statt. Das FA habe zu Unrecht das Vorliegen einer Organschaft zwischen der Klägerin als Organgesellschaft und A als Organträgerin abgelehnt. Die finanzielle Eingliederung ergebe sich zwar (noch) nicht aus der ‑‑im Streitjahr noch nicht wirksamen‑‑ Version 2 des § 7 Abs. 2 Unterabs. 2 des Gesellschaftsvertrags. Die Version 2 sei gemäß § 54 Abs. 3 des Gesetzes betreffend die Gesellschaften mit beschränkter Haftung (GmbHG) erst mit der Eintragung der Abänderung des Gesellschaftsvertrags in das Handelsregister rechtlich wirksam geworden und für die Beurteilung des für die finanzielle Eingliederung maßgeblichen Stimmrechts komme es auf die im (Außen-)Verhältnis gegenüber Dritten geltenden Regelungen des Gesellschaftsvertrags an. Die Klägerin sei jedoch auch auf der Grundlage der Version 1 des § 7 Abs. 2 Unterabs. 2 des Gesellschaftsvertrags finanziell in das Unternehmen der A eingegliedert gewesen. Der EuGH habe entschieden, dass ein Über- und Unterordnungsverhältnis zwischen dem Organträger und der Organgesellschaft keine notwendige Voraussetzung für die Bildung einer Mehrwertsteuergruppe sei. Die Mehrheitsbeteiligung der A an der Klägerin ermögliche die rechtssichere Bestimmung der A als Organträgerin, da C als Minderheitsgesellschafter von der Stellung als Organträger ausgeschlossen sei. Das über die Mehrheitsbeteiligung hinausgehende Erfordernis einer Stimmrechtsmehrheit gehe damit über das hinaus, was erforderlich sei.
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes ‑‑UStG‑‑). Es macht geltend, die für eine Organschaft erforderliche finanzielle Eingliederung liege nicht vor.
Das FA beantragt,
die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.Die Klägerin beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.Sie verteidigt die angefochtene Vorentscheidung. Hilfsweise trägt sie vor, die Unwirksamkeit des Beschlusses vom 01.12.2005 sei gemäß § 41 Abs. 1 Satz 1 AO unbeachtlich.
Der erkennende Senat hat dem EuGH mit Beschluss vom 11.12.2019 - XI R 16/18 (BFHE 268, 240) folgende Rechtsfragen zur Auslegung der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17.05.1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern (Richtlinie 77/388/EWG) zur Vorabentscheidung vorgelegt:
"1. Sind Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 in Verbindung mit (i.V.m.) Art. 21 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 der Richtlinie 77/388/EWG dahingehend auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat gestatten, anstelle der Mehrwertsteuergruppe (des Organkreises) ein Mitglied der Mehrwertsteuergruppe (den Organträger) zum Steuerpflichtigen zu bestimmen?
2. Falls die Frage 1 verneint wird: Sind Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 i.V.m. Art. 21 Abs. 1 Buchst. a und Abs. 3 der Richtlinie 77/388/EWG insoweit berufbar?
3. Ist bei der nach Rz 46 des EuGH-Urteils Larentia + Minerva vom 16.07.2015 - C-108/14 und C-109/14 (EU:C:2015:496, Rz 44 f.) vorzunehmenden Prüfung, ob das in § 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 1 des Umsatzsteuergesetzes enthaltene Erfordernis der finanziellen Eingliederung eine zulässige Maßnahme darstellt, die für die Erreichung der Ziele der Verhinderung missbräuchlicher Praktiken oder Verhaltensweisen und der Vermeidung von Steuerhinterziehung oder -umgehung erforderlich und geeignet ist, ein strenger oder ein großzügiger Maßstab anzulegen?
4. Sind Art. 4 Abs. 1, Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG dahingehend auszulegen, dass sie es einem Mitgliedstaat gestatten, im Wege der Typisierung eine Person als nicht selbständig im Sinne des Art. 4 Abs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG anzusehen, wenn sie in der Weise finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen eines anderen Unternehmers (Organträgers) eingegliedert ist, dass der Organträger seinen Willen bei der Person durchsetzen und dadurch eine abweichende Willensbildung bei der Person verhindern kann?"
Der EuGH hat darauf mit Urteil Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie vom 01.12.2022 - C-141/20 (EU:C:2022:943) Folgendes geantwortet:
"1. Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388/EWG des Rates vom 17. Mai 1977 zur Harmonisierung der Rechtsvorschriften der Mitgliedstaaten über die Umsatzsteuern - Gemeinsames Mehrwertsteuersystem: einheitliche steuerpflichtige Bemessungsgrundlage in der durch die Richtlinie 2000/65/EG des Rates vom 17. Oktober 2000 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht verwehrt, zum einzigen Steuerpflichtigen einer Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, den Organträger dieser Gruppe zu bestimmen, wenn dieser in der Lage ist, seinen Willen bei den anderen Mitgliedern dieser Gruppe durchzusetzen, und unter der Voraussetzung, dass diese Bestimmung nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führt.
2. Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388 in der durch die Richtlinie 2000/65 geänderten Fassung ist dahin auszulegen, dass er einer nationalen Regelung entgegensteht, die die Möglichkeit einer Einheit, mit dem Unternehmen des Organträgers eine Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zu bilden, an die Bedingung knüpft, dass der Organträger zusätzlich zu einer Mehrheitsbeteiligung an dieser Einheit über eine Stimmrechtsmehrheit bei ihr verfügt.
3. Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten Richtlinie 77/388 in der durch die Richtlinie 2000/65 geänderten Fassung ist in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 Unterabs. 1 der Richtlinie 77/388 in geänderter Fassung dahin auszulegen, dass er es einem Mitgliedstaat nicht gestattet, Einheiten im Wege der Typisierung als nicht selbständig anzusehen, wenn sie finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in den Organträger einer Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, eingegliedert sind."
Die Klägerin sieht sich durch das EuGH-Urteil in ihrer Rechtsauffassung bestätigt. Das FA hält es für angezeigt, die nationale Rechtslage unionsrechtskonform auszulegen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des FA ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Da es sich bei der Klägerin um eine Organgesellschaft gemäß § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG handelt, hat nicht sie, sondern ihr Organträger die von ihr ausgeführten Umsätze zu versteuern, wie das FG zutreffend entschieden hat.
1. Die sich aus § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG ergebende Steuerschuldnerschaft des Organträgers für die Umsätze der Organschaft ist unionsrechtskonform.
a) Nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG wird die gewerbliche oder berufliche Tätigkeit nicht selbständig ausgeübt, wenn eine juristische Person nach dem Gesamtbild der tatsächlichen Verhältnisse finanziell, wirtschaftlich und organisatorisch in das Unternehmen des Organträgers eingegliedert ist (Organschaft). Die Wirkungen der Organschaft sind auf Innenleistungen zwischen den im Inland gelegenen Unternehmensteilen beschränkt. Diese Unternehmensteile sind als ein Unternehmen zu behandeln. Hat der Organträger seine Geschäftsleitung im Ausland, gilt der wirtschaftlich bedeutendste Unternehmensteil im Inland als der Unternehmer.
Dies beruhte im Streitjahr unionsrechtlich auf Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG. Danach steht es vorbehaltlich der Konsultation nach Art. 29 der Richtlinie 77/388/EWG jedem Mitgliedstaat frei, im Inland ansässige Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, zusammen als einen Steuerpflichtigen zu behandeln.
b) § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG bestimmt den Organträger zum einzigen Steuerpflichtigen der Organschaft. Die Organgesellschaft ist unselbständiger Teil des Unternehmens des Organträgers, so dass beide als ein Unternehmen zu behandeln sind (§ 2 Abs. 2 Nr. 2 Satz 3 UStG). Grundsätzlich werden jegliche Umsätze der Organgesellschaften dem Organträger zugerechnet. Der Organträger ist Schuldner der auf diese Umsätze entfallenden Umsatzsteuer. Er hat alle Pflichten zu erfüllen, die sich aus § 18 UStG für das gesamte Unternehmen unter Einschluss der Organgesellschaft ergeben (vgl. z.B. Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 22.02.2017 - XI R 13/15, BFHE 257, 160, BStBl II 2021, 782, Rz 45).
c) Dies ist unionsrechtskonform.
aa) Unionsrechtlich kann der nationale Gesetzgeber den Organträger zum einzigen Steuerpflichtigen einer Gruppe von Personen, die zwar rechtlich unabhängig, aber durch gegenseitige finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Beziehungen eng miteinander verbunden sind, bestimmen, wenn der Organträger in der Lage ist, seinen Willen bei den anderen Mitgliedern dieser Gruppe durchzusetzen, und wenn diese Bestimmung nicht zur Gefahr von Steuerverlusten führt (EuGH-Urteil Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie, EU:C:2022:943, Tenor 1 und Rz 60).
bb) Diese beiden Voraussetzungen erfüllt das nationale Recht.
Zum einen setzt § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG nach der Rechtsprechung des BFH voraus, dass der Organträger bei der Organgesellschaft seinen Willen durchsetzen kann (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 07.07.2011 - V R 53/10, BFHE 234, 548, BStBl II 2013, 218, Rz 24; vom 08.08.2013 - V R 18/13, BFHE 242, 433, BStBl II 2017, 543, Rz 30, und vom 27.11.2019 - XI R 35/17, BFHE 267, 542, BStBl II 2021, 252, Rz 38).
Zum anderen kommt es durch die Bestimmung des Organträgers zum einzigen Steuerpflichtigen nicht zur Gefahr von Steuerverlusten, da alle Organgesellschaften nach § 73 AO für solche Steuern des Organträgers haften, für welche die Organschaft zwischen der jeweiligen Organgesellschaft und dem Organträger steuerlich von Bedeutung ist. Dies bezieht sich insbesondere auf die Umsatzsteuer (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 05.04.2022 - VII R 18/21, BFHE 276, 328, BStBl II 2023, 3). Tatsächliche Steuerausfälle z.B. als Folge einer Insolvenz beim Organträger als Steuerschuldner oder zusätzlich bei der Organgesellschaft als Haftungsschuldner stehen dem nicht entgegen, da sich insoweit lediglich das allgemeine Gläubigerrisiko verwirklicht, das den Steuergläubiger wie jeden anderen Gläubiger auch treffen kann.
2. Im Streitfall hat die Klägerin zwar dem Grunde nach eine selbständige Tätigkeit i.S. des § 2 Abs. 1 UStG ausgeübt. Es liegen aber die Voraussetzungen des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG vor, so dass die Klägerin die von ihr ausgeführten Umsätze nicht zu versteuern hat.
a) Der EuGH geht davon aus, dass Organgesellschaften die mit ihrer jeweiligen wirtschaftlichen Tätigkeit einhergehenden wirtschaftlichen Risiken selbst tragen, sie daher selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeiten nachgehen und sie nicht im Wege der Typisierung aufgrund ihrer bloßen Zugehörigkeit zu einer Mehrwertsteuergruppe als "nicht selbständig" i.S. von Art. 4 Abs. 1 und Abs. 4 Unterabs. 1 der Richtlinie 77/388/EWG eingestuft werden können (EuGH-Urteil Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie, EU:C:2022:943, Rz 79). Auch Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG sehe nicht vor, dass ein Mitglied der Mehrwertsteuergruppe, das nicht der Organträger ist, eine nicht selbständige wirtschaftliche Tätigkeit ausübe. Somit ergebe sich aus dieser Regelung nicht, dass dieses Mitglied aufgrund seiner bloßen Zugehörigkeit zur Mehrwertsteuergruppe keine selbständigen wirtschaftlichen Tätigkeiten i.S. von Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 1 dieser Richtlinie mehr ausübe (EuGH-Urteil Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie, EU:C:2022:943, Rz 80). Dem folgt der erkennende Senat. Danach ist die Klägerin im Streitfall dem Grunde nach selbständig i.S. des § 2 Abs. 1 UStG.
b) Das FG hat neben der unstreitig erfüllten organisatorischen und wirtschaftlichen Eingliederung in das Unternehmen der A auch die finanzielle Eingliederung im Ergebnis zutreffend bejaht, so dass die Klägerin nach § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG unselbständig tätig war.
aa) Zwar erfordert die finanzielle Eingliederung i.S. des § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG im Grundsatz, dass dem Organträger die Mehrheit der Stimmrechte an der Organgesellschaft zusteht. Eine finanzielle Eingliederung liegt aber auch dann vor, wenn die erforderliche Willensdurchsetzung dadurch gesichert ist, dass der Gesellschafter zwar über nur 50 % der Stimmrechte verfügt, er aber eine Mehrheitsbeteiligung am Kapital der Organgesellschaft hält und er den einzigen Geschäftsführer der Organgesellschaft stellt, so dass die schwächer ausgeprägte finanzielle Eingliederung in dieser Weise durch eine besonders stark ausgeprägte organisatorische Eingliederung ausgeglichen wird (Änderung der Rechtsprechung).
(1) Nach der bisherigen Rechtsprechung des BFH muss der Organträger für eine finanzielle Eingliederung i.S. von § 2 Abs. 2 Nr. 2 UStG über die Mehrheit der Stimmrechte verfügen, sofern keine höhere qualifizierte Mehrheit für Beschlüsse in der Organgesellschaft erforderlich ist (vgl. insbesondere BFH-Urteile vom 22.11.2001 - V R 50/00, BFHE 197, 319, BStBl II 2002, 167, unter II.1.a; vom 19.05.2005 - V R 31/03, BFHE 210, 167, BStBl II 2005, 671, unter II.2.a dd; vom 14.02.2008 - V R 12, 13/06, BFH/NV 2008, 1365, unter II.2.e; vom 29.10.2008 - XI R 74/07, BFHE 223, 498, BStBl II 2009, 256, unter II.1.b; vom 22.04.2010 - V R 9/09, BFHE 229, 433, BStBl II 2011, 597, Rz 12 f.; vom 01.12.2010 - XI R 43/08, BFHE 232, 550, BStBl II 2011, 600, Rz 28 ff.; vom 02.12.2015 - V R 25/13, BFHE 251, 534, BStBl II 2017, 547, Rz 29; vom 02.12.2015 - V R 15/14, BFHE 252, 158, BStBl II 2017, 553, Rz 20; vom 12.10.2016 - XI R 30/14, BFHE 255, 467, BStBl II 2017, 597, Rz 21, und vom 15.12.2016 - V R 14/16, BFHE 256, 562, BStBl II 2017, 600, Rz 29). Eine Sperrminorität (von z.B. 50 % der Stimmrechte) reicht danach nicht aus (vgl. BFH-Urteil in BFHE 242, 433, BStBl II 2017, 543, Rz 29).
Weicht die kapitalmäßige Beteiligung von den Stimmrechten ab (z.B. aufgrund "stimmrechtsloser Geschäftsanteile" bei einer GmbH oder aufgrund von "Vorzugsaktien" ohne Stimmrecht bei einer AG), ist auf das Verhältnis der gesellschaftsrechtlichen Stimmrechte abzustellen (BFH-Urteil in BFHE 251, 534, BStBl II 2017, 547, Rz 29). Die Annahme des EuGH in seinem Urteil Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie (EU:C:2022:943, Rz 54), dass der Organträger nach nationalem Recht zusätzlich zu einer Stimmrechtsmehrheit über eine Mehrheitsbeteiligung verfügen müsse, erweist sich danach als unzutreffend. Erforderlich ist nach der BFH-Rechtsprechung lediglich eine Stimmrechtsmehrheit, die auch ohne Mehrheitsbeteiligung bestehen kann, aber im Regelfall nur bei einer Anteilsmehrheit bestehen wird (zum Fall der GmbH s. § 47 Abs. 1 und 2 GmbHG).
(2) Zu beachten ist aber auch, dass nach Auffassung des EuGH weder das "Erfordernis der Stimmenmehrheit" noch das der "Mehrheitsbeteiligung" als unbedingt erforderlich anzusehen ist, solange der Organträger in der Lage ist, seinen Willen bei den anderen Mitgliedern der Mehrwertsteuergruppe durchzusetzen (vgl. EuGH-Urteil Norddeutsche Gesellschaft für Diakonie, EU:C:2022:943, Rz 69 f.).
Im Zusammenhang mit der vom EuGH für möglich gehaltenen Willensdurchsetzung ohne Stimmrechtsmehrheit ist zu berücksichtigen, dass die finanzielle, wirtschaftliche und organisatorische Eingliederung nicht gleichermaßen stark ausgeprägt sein muss. Tritt auf einem der drei Gebiete die Eingliederung weniger stark in Erscheinung, hindert dies daher nicht, trotzdem eine Organschaft anzunehmen, wenn sich die Eingliederung deutlich auf den beiden anderen Gebieten zeigt (vgl. BFH-Urteile vom 01.04.2004 - V R 24/03, BFHE 204, 520, BStBl II 2004, 905, unter II.2.; in BFHE 223, 498, BStBl II 2009, 256, unter II.1.b, und vom 29.01.2009 - V R 67/07, BFHE 225, 172, BStBl II 2009, 1029, unter II.3.c aa).
Bezogen auf die mit der finanziellen Eingliederung verbundene Willensdurchsetzung folgt daraus, dass zwar im Hinblick auf das Weisungsrecht, das der Gesellschafterversammlung gegenüber der Geschäftsführung zusteht (§ 37 Abs. 1 GmbHG) und das nach Stimmrechten auszuüben ist (§ 47 Abs. 1 GmbHG), im Grundsatz an der bisherigen BFH-Rechtsprechung (s. oben unter II.2.b aa (1)) festzuhalten ist. Gleichwohl erscheint es gerechtfertigt, eine Mehrheitsbeteiligung trotz Stimmrechten von nur 50 % als lediglich schwächer ausgeprägte finanzielle Eingliederung anzusehen, wenn sie ‑‑wie im Streitfall‑‑ durch eine Personenidentität in den Geschäftsführungsorganen von Mehrheitsgesellschafter und GmbH und damit durch eine besonders stark ausgeprägte organisatorische Eingliederung (BFH-Urteile in BFHE 234, 548, BStBl II 2013, 218, Rz 24, und in BFHE 242, 433, BStBl II 2017, 543, Rz 26) ausgeglichen wird. Dann kann der Organträger seinen Willen bei der laufenden Geschäftsführung durchsetzen und mit Hilfe seiner Stimmrechte in Höhe von 50 % eine abweichende Weisung durch die Gesellschafterversammlung verhindern, so dass es ihm auch möglich ist, die Umsätze der Organgesellschaft ordnungsgemäß zu versteuern und den sich aus der wirtschaftlichen Tätigkeit der Organgesellschaft ergebenden sonstigen umsatzsteuerrechtlichen Verpflichtungen nachzukommen (vgl. BFH-Beschluss in BFHE 268, 240, Rz 47).
In diesem Zusammenhang weist der erkennende Senat klarstellend darauf hin, dass sich dadurch nichts am Erfordernis der "eigenen Mehrheitsbeteiligung" ändert, so dass eine Organschaft zwischen Schwestergesellschaften (ohne Einbeziehung des gemeinsamen Gesellschafters) auch weiterhin nicht in Betracht kommt (vgl. z.B. zuletzt BFH-Urteil vom 01.02.2022 - V R 23/21, BFHE 276, 362, Leitsatz 2 und Rz 29 ff., m.w.N. zur BFH-Rechtsprechung). Insoweit hält er an der unter II.2.b aa (1) genannten Rechtsprechung unverändert fest.
(3) Der V. Senat des BFH hat auf Anfrage durch Beschluss vom 12.01.2023 - V ER-S 1/23 (nicht veröffentlicht) mitgeteilt, dass er der vorstehend umschriebenen Abweichung von der unter II.2.b aa (1) aufgeführten Rechtsprechung zustimmt.
bb) Danach hat das FG zu Recht die finanzielle Eingliederung bejaht.
Im Streitfall hat das FG festgestellt, dass die Mehrheitsbeteiligung der A an der Klägerin die rechtssichere Bestimmung der A als Organträgerin ermöglicht, da C als Minderheitsgesellschafter von der Stellung als Organträger ausgeschlossen ist. Die für das Vorliegen einer Organschaft erforderliche Möglichkeit der A, bei der Klägerin ihren Willen durchzusetzen, ergibt sich nach den tatsächlichen Feststellungen des FG aus der Identität des Alleingeschäftsführers der A und der Klägerin, die zu einer stark ausgeprägten organisatorischen Eingliederung der Klägerin führt.
Dass E neben seiner Stellung als Alleingeschäftsführer bei A und bei der Klägerin zudem auch geschäftsführender Vorstand des C war, steht der Willensdurchsetzung durch A bei der Klägerin nicht entgegen. Es ist in keiner Weise ersichtlich, dass diese Stellung des E bei einer dritten Körperschaft für die Willensdurchsetzung der A über E bei der Klägerin von Bedeutung war.
3. Über die Frage, ob die von der Klägerin an A gegen Entgelt erbrachten Leistungen steuerbar oder nichtsteuerbar sein könnten, ist im Besteuerungsverfahren des Organträgers als einzigem Steuerschuldner für die Organschaft (s. oben unter II.1.b) zu entscheiden.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.