ECLI:DE:BFH:2022:U.270722.IIR30.21.0
BFH II. Senat
FGO § 56, FGO § 97, PUDLV § 2
vorgehend FG Köln, 30. June 2021, Az: 5 K 2704/18
Leitsätze
NV: Der Absender darf grundsätzlich darauf vertrauen, dass eine Briefsendung den Empfänger spätestens am zweiten Werktag nach dem Einwurf in einen Briefkasten erreicht, wenn der Briefkasten nach dem Einwurf noch am selben Tag geleert wird.
Tenor
Dem Kläger ist Wiedereinsetzung in die Revisionsbegründungsfrist zu gewähren.
Tatbestand
I.
Das Finanzgericht hat in seinem klageabweisenden Urteil die Revision zugelassen. Das Urteil wurde dem Prozessbevollmächtigten des Klägers und Revisionsklägers (Kläger) am 19.08.2021 zugestellt. Der Bundesfinanzhof (BFH) hat die Frist zur Begründung der ‑‑fristgerecht eingelegten‑‑ Revision zuletzt bis zum 17.01.2022, einem Montag, verlängert. Nach dem Eingangsstempel des BFH ist die Begründungsschrift am 18.01.2022 eingegangen. Deren Briefumschlag ist durch die Deutsche Post AG mit "... 140122-21 ..." gestempelt.
Nach Hinweis der Senatsgeschäftsstelle auf die Fristversäumung hat der Kläger mit einem am 27.01.2022 eingegangenen Schriftsatz Wiedereinsetzung in den vorigen Stand beantragt. Der Prozessbevollmächtigte hat an Eides Statt versichert, er sei im Hauptberuf Hochschullehrer, übe die Steuerberatertätigkeit nur im geringsten Umfang aus und unterhalte kein eigenes Büro, kein Frist- oder Postausgangsbuch. Er habe die Revisionsbegründung am Nachmittag des 14.01.2022 in seinem Büro in der Hochschule fertiggestellt, sei dann mit dem Fahrrad zum Hauptbahnhof gefahren und habe ziemlich genau um 17:40 Uhr den Umschlag in den Briefkasten auf dem Bahnhofsvorplatz geworfen. Anschließend habe er noch den gelben Sprinter der Post und die Leerung der beiden Briefkästen gesehen. Er habe deshalb darauf vertraut, dass der Brief direkt in das Postverteilungszentrum gelange, noch am Abend weitergehen und am Montag in München eingehen werde. Zeugen könne er nicht benennen, da er allein unterwegs gewesen sei.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt) hält die Fristversäumung für verschuldet. Der Prozessbevollmächtigte hätte auf weitere Zustellmöglichkeiten zurückgreifen können, sich ferner am 17.01.2022 beim BFH erkundigen müssen, ob das Schriftstück eingegangen ist, um es ggf. durch Telefax zu übermitteln oder nach München zu bringen.
Entscheidungsgründe
II.
Es ist Wiedereinsetzung nach § 56 der Finanzgerichtsordnung (FGO) in die versäumte Revisionsbegründungsfrist zu gewähren. Die Frist ist unverschuldet versäumt. Der Prozessbevollmächtigte hat die Revisionsbegründung so zur Post gegeben, dass er auf den rechtzeitigen Zugang vertrauen durfte.
1. Nach § 56 Abs. 1 FGO ist auf Antrag Wiedereinsetzung in den vorigen Stand zu gewähren, wenn jemand ohne Verschulden verhindert war, eine gesetzliche Frist einzuhalten. Gemäß § 56 Abs. 2 Satz 1 Halbsatz 2 FGO ist der Antrag bei Versäumung der Frist zur Begründung der Revision binnen eines Monats nach Wegfall des Hindernisses zu stellen. Nach § 56 Abs. 2 Satz 2 FGO sind die Tatsachen zur Begründung des Antrags bei der Antragstellung oder im Verfahren über den Antrag glaubhaft zu machen. Nach § 56 Abs. 2 Satz 3 FGO ist innerhalb der Antragsfrist die versäumte Rechtshandlung nachzuholen.
a) Verzögerungen bei der Briefbeförderung oder -zustellung, die der Rechtsmittelführer nicht zu vertreten hat und auf die er auch keinen Einfluss besitzt, dürfen nicht als dessen Verschulden gewertet werden. Er darf darauf vertrauen, dass die von der Deutschen Post AG nach ihren organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen für den Normalfall festgelegten Postlaufzeiten eingehalten werden. In der Verantwortung des Rechtsmittelführers liegt es nur, das zur Beförderung bestimmte Schriftstück den postalischen Bestimmungen entsprechend und so rechtzeitig zur Post zu geben, dass es nach den organisatorischen und betrieblichen Vorkehrungen der Deutschen Post AG bei regelmäßigem Dienstablauf den Empfänger fristgerecht erreicht. Der Rechtsmittelführer kann Rechtsmittelfristen grundsätzlich bis zum letzten Tag in Anspruch nehmen. Lediglich gegen Ende der Frist obliegt es ihm, eine Beförderungsart zu wählen, die die Einhaltung der Frist gewährleistet. Im Rahmen der üblichen Postlaufzeiten ist der Rechtsmittelführer aber nicht verpflichtet, alternative Beförderungsmittel zu nutzen. Ist die rechtzeitige Absendung eines fristwahrenden Schriftsatzes glaubhaft gemacht, bedarf es keiner Darlegung darüber, wie die Fristenkontrolle organisiert ist (BFH-Urteil vom 19.02.2020 - I R 38/17, BFH/NV 2021, 1, Rz 18, m.w.N.).
b) Darf der Absender nach diesen Maßstäben auf die Einhaltung der Postlaufzeit vertrauen, muss er sich nach Absendung nicht zusätzlich ‑‑z.B. durch telefonische Nachfrage beim Empfänger‑‑ nach dem pünktlichen Eingang des Poststücks erkundigen.
2. Die vorgeschriebene Postlaufzeit von zwei Werktagen ab Einlieferung für 95 % aller Briefsendungen stellt den "Normalfall" bzw. "regelmäßigen Dienstablauf" in diesem Sinne dar, auf den der Absender vertrauen kann, wenn nicht im Zeitpunkt der Absendung konkrete Anhaltspunkte dafür bestanden, dass die Laufzeit überschritten werde.
a) Postsendungen müssen regelmäßig jedenfalls dann den Empfänger spätestens am zweiten Werktag nach dem Einwurf in einen Briefkasten erreichen, wenn dieser nach dem Einwurf noch am selben Tage geleert wird.
aa) Nach § 2 Nr. 3 Satz 1 der Post-Universaldienstleistungsverordnung (PUDLV) müssen von den an einem Werktag eingelieferten inländischen (normalen) Briefsendungen im Jahresdurchschnitt mindestens 80 % an dem ersten auf den Einlieferungstag folgenden Werktag und 95 % bis zum zweiten auf den Einlieferungstag folgenden Werktag ausgeliefert werden. Wie sich aus § 2 Nr. 2 PUDLV ergibt, ist Werktag auch der Samstag.
bb) Der Einwurf in einen Briefkasten an einem Werktag stellt jedenfalls dann eine Einlieferung i.S. des § 2 Nr. 3 Satz 1 PUDLV dar, wenn der Briefkasten an demselben Werktag noch planmäßig und auch tatsächlich geleert wird (zur Maßgeblichkeit der Leerung vgl. auch Beschluss des Bundesgerichtshofs ‑‑BGH‑‑ vom 19.07.2007 - I ZB 100/06, unter II.2.b). Aus § 2 Nr. 2 Satz 4 PUDLV ergibt sich, dass die Einlieferung nicht erst mit Erreichen eines Verteilzentrums, sondern mit Einwurf in einen Briefkasten bewirkt werden kann.
b) Eine zu 95 % eingehaltene Postlaufzeit ist als übliche Postlaufzeit im o.g. Sinne (oben 1.a) anzusehen (ähnlich BFH-Urteil in BFH/NV 2021, 1, Rz 19, für eine Quote von 98,5 %; vgl. auch BFH-Urteil vom 21.04.2021 - XI R 42/20, BFHE 273, 149, BStBl II 2022, 20, Rz 15: ein Werktag). Die verbliebenen 5 % sind gerade diejenigen Abweichungen, die dem Konzept "regelmäßig/üblich/normal" innewohnen und ihm nicht entgegenstehen.
c) Der Absender darf auf diese Postlaufzeit jedoch nicht mehr vertrauen, wenn er konkrete Anhaltspunkte dafür besitzt, dass sie nicht eingehalten werde (vgl. BGH-Beschluss vom 17.12.2019 - VI ZB 19/19, Rz 10). Das kann der Fall sein, wenn festzustellen ist, dass die Deutsche Post AG den allgemeinen Vorgaben der PUDLV strukturell nicht mehr genügt, oder wenn im konkreten Einzelfall Besonderheiten dem üblichen Lauf entgegenstehen (Streik, höhere Gewalt).
3. Nach diesen Maßstäben durfte der Prozessbevollmächtigte darauf vertrauen, dass seine am Freitag eingeworfene Briefsendung den BFH bis zum Fristablauf am Montag, dem übernächsten Werktag, erreiche.
a) Seine Schilderung zum tatsächlichen Geschehensablauf ist glaubhaft. Das betrifft insbesondere die Darstellung, er habe am Freitag gegen 17:40 Uhr den Brief eingeworfen und kurz darauf noch das gelbe Fahrzeug der Deutschen Post AG bei der Leerung gesehen. Der von ihm benannte Briefkasten wird planmäßig freitags letztmals um 17:45 Uhr geleert (https://onlinestreet.de/briefkasten/.../...Hauptbahnhof....html). Der Poststempel auf dem Briefumschlag (zu dessen Beweiskraft Beschluss des Oberlandesgericht Celle vom 09.07.2021 - 2 Ws 194/21, Leitsatz 1) zeigt zudem, dass die Sendung noch an demselben Tag bei der Post bearbeitet wurde.
b) Es gab im Januar 2022 objektiv keine konkreten Anhaltspunkte dafür, dass die Deutsche Post AG die vorgeschriebenen allgemeinen Postlaufzeiten nicht erreichen würde. Ob der Prozessbevollmächtigte, hätte es solche gegeben, davon hätte wissen können und müssen, ist daher nicht entscheidungserheblich. Aus dem Jahresbericht 2021 der Bundesnetzagentur (zu allen Daten S. 125, 126, https://www.bundesnetzagentur.de/DE/Allgemeines/Presse/Mediathek_3/start.html) ergibt sich, dass im ersten bis dritten Quartal 2021 die bis 17:00 Uhr in einen Briefkasten oder eine Filiale eingelieferten Sendungen zu 97,1 % ihr Ziel am übernächsten Werktag erreichten, und zwar ungeachtet der tatsächlichen Leerung. Die Quote war von 99,1 % im Jahre 2012 auf den genannten Wert abgesunken, ein jedoch so langsamer Rückgang, dass ein Abfall unter den Wert von 95 % im ersten Quartal 2022 nicht zu erwarten war. Soweit die Laufzeitmessung an eine Einlieferung bis 17:00 Uhr anknüpft, besitzt dies zwar in der PUDLV keine Grundlage, rechtfertigt gleichwohl nicht die Annahme, dass die auf alle Zustellungen bezogene Vorgabe der PUDLV nicht gewahrt wäre. Im ersten bis dritten Quartal 2021 wurden mehr als die Hälfte aller Briefkästen nur noch vormittags geleert, dies mit steigender Tendenz. In die vorbezeichnete Quote von 97,1 % gehen aber auch alle Briefsendungen ein, die tatsächlich erst nach der Vormittagsleerung eingeworfen und am Folgetag abgeholt werden. Wird ein Briefkasten nach einem Nachmittagseinwurf noch am selben Tag tatsächlich geleert, ist die Wahrscheinlichkeit sogar höher, dass die Sendung binnen zwei Werktagen beim Empfänger eingeht.
Im Streitfall wurde die Briefsendung nach den glaubhaften Angaben des Prozessbevollmächtigte noch vor Leerung des Briefkastens um 17:40 Uhr eingeworfen. Besonderheiten wie etwa erwartbar streikbedingte Verzögerungen, bei denen der Prozessbevollmächtigte möglicherweise nicht damit rechnen konnte, dass die Briefsendung wie üblich am übernächsten Werktag ihr Ziel erreicht, sind nicht ersichtlich.
c) Ob die Frist im Verantwortungsbereich der Deutschen Post AG überschritten wurde oder ein Fehler bei der Posterfassung im BFH vorliegt ‑‑wofür der Senat allerdings keine Erkenntnisse besitzt‑‑, kann dahinstehen, da der Kläger beides nicht zu vertreten hätte. Auf die Büroorganisation des Prozessbevollmächtigten kommt es nicht an, weil sie nicht Ursache für die Fristversäumung war.