ECLI:DE:BFH:2022:U.270722.XR5.20.0
BFH X. Senat
AO § 227, AO § 233a, AO § 238 Abs 1 S 1
vorgehend Finanzgericht Mecklenburg-Vorpommern , 15. January 2020, Az: 2 K 245/17
Leitsätze
NV: Ungeachtet der Frage, ob die Unrichtigkeit der Zinsfestsetzung im Hinblick auf die Höhe des Zinssatzes ab dem Verzinsungszeitraum 2014 offensichtlich gewesen wäre, liefe es jedenfalls den Wertungen der Anordnung des BVerfG im Beschluss vom 08.07.2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 (BVerfGE 158, 282, Rz 249) zur Fortgeltung der §§ 233a, 238 Abs. 1 Satz 1 AO für Verzinsungszeiträume vom 01.01.2014 bis zum 31.12.2018 zuwider, wenn das für diese Zeiträume im (vorrangigen) Festsetzungsverfahren nicht erreichbare Ziel einer niedrigeren Zinsfestsetzung über ein (nachrangiges) Erlassverfahren erreicht werden könnte.
Tenor
Die Revision des Klägers gegen den Gerichtsbescheid des Finanzgerichts Mecklenburg-Vorpommern vom 15.01.2020 - 2 K 245/17 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
I.
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erzielte im Streitjahr 2011 u.a. Einkünfte aus Gewerbetrieb als Einzelunternehmer. Das Einzelunternehmen wurde zum 01.01.2012 auf eine GmbH ausgegliedert.
Aufgrund einer Prüfungsanordnung aus dem Dezember 2014, die auch das Streitjahr betraf, führte der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt ‑‑FA‑‑) bei dem Kläger mit Unterbrechungen eine Außenprüfung durch, die tatsächlich im März 2015 begann. Wegen wiederholter Krankheit der Betriebsprüferin wurde der Prüfungsbericht erst mit Datum vom 25.11.2016 erstellt. Danach war im Streitjahr 2011 ein Veräußerungsgewinn zu versteuern.
In dem entsprechend geänderten Einkommensteuerbescheid 2011 vom 09.02.2017 wurden auch Zinsen gemäß § 233a der Abgabenordnung (AO) in Höhe von 77.073 € festgesetzt. Mit Schreiben vom 22.02.2017 beantragte der Kläger einen Teilerlass der Zinsen zur Einkommensteuer 2011 in hälftiger Höhe (38.536,50 €), den er damit begründete, die Verfahrensverzögerung habe ‑‑auch wegen der zwischenzeitlich geänderten Rechtsauffassung der zur Außenprüfung hinzugezogenen Fachprüferin‑‑ zu einer höheren Zinsfestsetzung geführt. Das FA lehnte den Antrag mit Bescheid vom 22.03.2017 ab. Der hiergegen gerichtete Einspruch des Klägers blieb erfolglos.
Seine auf den begehrten Teilerlass gerichtete Klage, die der Kläger mit der fehlenden bzw. fehlerhaften Ausübung des Ermessens durch das FA sowie der von ihm angenommenen Verfassungswidrigkeit der Zinshöhe von 6 % p.a. begründete, wies das Finanzgericht (FG) ab (Entscheidungen der Finanzgerichte 2020, 1280). Das FA habe den teilweisen Erlass von Nachzahlungszinsen ermessensfehlerfrei abgelehnt. Die Frage der Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes betreffe die Rechtmäßigkeit der Zinsfestsetzung und ihrer einfach-rechtlichen Grundlagen und sei nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) vorrangig im Rechtsbehelfsverfahren gegen die Zinsfestsetzung und nicht im Erlassverfahren geltend zu machen. Sie stelle sich nicht allein in wenigen atypischen Einzelfällen, sondern bei nahezu jeder Festsetzung von Nachforderungszinsen. Im Streitfall sei die Zinsfestsetzung in Bestandskraft erwachsen und könne grundsätzlich nicht durch einen Billigkeitserlass aus sachlichen Gründen nachträglich korrigiert werden.
Mit seiner Revision rügt der Kläger die fehlerhafte Anwendung von §§ 347, 358 AO bzw. § 227 AO. Das Schreiben seiner Steuerberaterin vom 22.02.2017 sei innerhalb der für die Zinsfestsetzung vom 09.02.2017 geltenden Rechtsbehelfsfrist beim FA eingegangen und lasse deutlich erkennen, dass er sich durch die Zinsfestsetzung in Höhe von 38.536,50 € beschwert fühle und eine Nachprüfung begehre. Vor diesem Hintergrund sei die ungenaue bzw. unrichtige Bezeichnung des Rechtsbehelfs unschädlich, zumal nur durch die förmliche Anfechtung des Bescheids vom 09.02.2017 das erkennbar verfolgte Rechtsschutzziel hätte erreicht werden können. Soweit das FA die Möglichkeit einer Auslegung bzw. Umdeutung des Schreibens vom 22.02.2017 von vornherein ausgeschlossen habe, liege darin ein Ermessensausfall. Das FG lasse durch seine Auslegung den berechtigten Angriff des Klägers gegen die rechtswidrige Zinsfestsetzung ebenfalls verfahrensrechtlich ins Leere laufen. Dem stehe das BFH-Urteil vom 03.12.2019 - VIII R 25/17 (BFHE 266, 501, BStBl II 2020, 214) nicht entgegen. Von dem Grundsatz, dass bestandskräftige Festsetzungen von Steuern oder steuerlichen Nebenleistungen nicht durch einen Billigkeitserlass aus sachlichen Gründen nachträglich korrigiert werden könnten, bestehe dann eine Ausnahme, wenn eine offensichtlich und eindeutig unrichtige Steuer- bzw. Zinsfestsetzung vorliege. Dies sei vorliegend der Fall, da sich angesichts der früheren Rechtsprechungsentwicklung mindestens ab dem Jahr 2015 die Zinsfestsetzung als offensichtlich und eindeutig unrichtig erwiesen habe.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
unter Aufhebung des angefochtenen Urteils, des ablehnenden Bescheids vom 22.03.2017 und der Einspruchsentscheidung vom 23.05.2017 das FA zu verpflichten, die im Bescheid vom 09.02.2017 festgesetzten Nachzahlungszinsen zur Einkommensteuer 2011 in Höhe von 38.536,50 € zu erlassen.
Das FA beantragt,
die Revision zurückzuweisen.Mit dem Schreiben der Steuerberaterin des Klägers vom 22.02.2017 sei ausschließlich ein Teilerlass der Zinsen zur Einkommensteuer 2011 beantragt worden. Bei Würdigung des Inhalts und der Begleitumstände sei nicht erkennbar, dass die Steuerberaterin des Klägers (auch) einen Einspruch gegen die Zinsfestsetzung habe einlegen wollen.
Entscheidungsgründe
II.
Die unbegründete Revision ist nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Das Urteil des FG verstößt nicht gegen Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 Satz 1 FGO).
1. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist allein die erstinstanzliche Entscheidung, die ‑‑entsprechend dem Klagebegehren (vgl. § 96 Abs. 1 Satz 2 FGO)‑‑ zur Ablehnung des Antrags auf Teilerlass der Zinsen zur Einkommensteuer des Streitjahres ergangen ist.
Damit kann, soweit der Kläger in seiner Revisionsbegründung vorträgt, sein Antrag auf Teilerlass hätte als Einspruch gegen die Zinsfestsetzung vom 09.02.2017 gewertet werden müssen, dieser Bescheid im vorliegenden Revisionsverfahren nicht zur Prüfung gestellt werden.
2. Soweit der Kläger geltend macht, ein Ermessensfehler des FA (Ermessensausfall) liege darin, dass es die Möglichkeit einer Auslegung bzw. Umdeutung des Schreibens vom 22.02.2017 von vornherein ausgeschlossen habe, übersieht er, dass ‑‑sofern seine Rechtsauffassung zur Auslegung des Schreibens vom 22.02.2017 zuträfe‑‑ ein Einspruch gegen die Zinsfestsetzung vom 09.02.2017 vorläge, über den das FA lediglich noch nicht entschieden hätte.
Diesbezüglich ist darauf hinzuweisen, dass die Bestimmung des durch Auslegung zu ermittelnden Inhalts einer Willenserklärung sich nicht nach dem Verständnis des FA richtet, sondern nach den objektiven Gegebenheiten. Für den Fall, dass das Schreiben vom 22.02.2017 als Einspruch zu werten wäre, würde dieser Rechtsbehelf durch eine lediglich fehlerhafte Sachbehandlung des FA dem Kläger nicht verlustig gehen. Andererseits könnten sich daraus auch keine Auswirkungen auf die Rechtmäßigkeit des ‑‑hiervon zu unterscheidenden‑‑ streitgegenständlichen ablehnenden Bescheides betreffend den beantragten Teilerlass ergeben.
3. Das FG hat zutreffend erkannt, dass die Ablehnung des vom Kläger beantragten Teilerlasses der Nachzahlungszinsen zur Einkommensteuer 2011 durch das FA keine Rechts- oder Ermessensfehler ausweist.
a) Ein Erlass der Nachzahlungszinsen aus Billigkeitsgründen, der im Fall einer offensichtlich und eindeutig unrichtigen Steuer- bzw. Zinsfestsetzung unter weiteren Bedingungen ausnahmsweise möglich ist (vgl. dazu BFH-Urteil vom 11.03.1988 - III R 236/84, BFH/NV 1989, 432, unter II.2.a, m.w.N.), kommt nicht in Betracht.
aa) Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat mit Beschluss vom 08.07.2021 - 1 BvR 2237/14, 1 BvR 2422/17 (BVerfGE 158, 282) entschieden, dass der Zinssatz für die Vollverzinsung von 0,5 % Zinsen pro Monat des Zinslaufs (§§ 233a AO, 238 Abs. 1 Satz 1 AO) unter den sich seit dem Jahr 2008 fortlaufend verändernden tatsächlichen Verhältnissen noch für bis in das Jahr 2013 fallende Verzinsungszeiträume den durch die Vollverzinsung auszugleichenden Vorteil hinreichend abgebildet habe (Rz 203). Ab dem Verzinsungszeitraum 2014 sei dieser Zinssatz zwar wegen Verstoßes gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes verfassungswidrig (Rz 203), die bisherige gesetzliche Regelung gelte aber für Verzinsungszeiträume vom 01.01.2014 bis zum 31.12.2018 noch fort, ohne dass der Gesetzgeber verpflichtet wäre, auch für diesen Zeitraum rückwirkend eine verfassungsgemäße Regelung zu schaffen (Rz 249).
bb) Die Zinsfestsetzung vom 09.02.2017 betrifft ausschließlich Verzinsungszeiträume vor dem 31.12.2018. Nach dem Beschluss des BVerfG in BVerfGE 158, 282 war der bisherige Zinssatz für die Vollverzinsung für Zeiträume bis Ende des Jahres 2013 verfassungsgemäß, sodass hier insoweit schon keine unrichtige Zinsfestsetzung vorlag. Im Übrigen liefe es ‑‑ungeachtet der Frage, ob die Unrichtigkeit der Zinsfestsetzung ab dem Verzinsungszeitraum 2014 offensichtlich gewesen wäre‑‑ jedenfalls den Wertungen der Anordnung des BVerfG zur Fortgeltung der §§ 233a, 238 Abs. 1 Satz 1 AO für Verzinsungszeiträume vom 01.01.2014 bis zum 31.12.2018 zuwider, wenn das für diese Zeiträume im (vorrangigen) Festsetzungsverfahren nicht erreichbare Ziel einer niedrigeren Zinsfestsetzung nunmehr doch über ein (nachrangiges) Erlassverfahren erreicht werden könnte.
b) Soweit der Kläger zur Begründung seines Erlassbegehrens im erstinstanzlichen Verfahren auch geltend gemacht hatte, die Nachforderungszinsen gemäß § 233a AO beruhten teilweise auf einem durch das FA verzögerten Ablauf der Außenprüfung, hat das FG die Ablehnung des Teilerlassantrags zu Recht in Übereinstimmung mit der höchstrichterlichen Rechtsprechung nicht als ermessensfehlerhaft i.S. des § 102 FGO angesehen (vgl. S. 7 f. des Urteilsabdrucks).
aa) Die Verzinsungsregelung in § 233a AO bezweckt einen typisierten Ausgleich für die Liquiditätsverschiebungen, die aus dem individuell sehr unterschiedlichen Verlauf des Besteuerungsverfahrens entstehen können. Es soll ein Ausgleich dafür geschaffen werden, dass die Steuern bei den einzelnen Steuerpflichtigen zu unterschiedlichen Zeitpunkten festgesetzt und fällig werden. Insoweit beruht die Vorschrift auf der zulässig typisierenden Annahme, dass derjenige, dessen Steuer ganz oder zum Teil zu einem späteren Zeitpunkt festgesetzt wird, gegenüber demjenigen, dessen Steuer bereits frühzeitig festgesetzt wird, einen Liquiditäts- und damit auch einen potenziellen Zinsvorteil hat. Aus welchem Grund es zu einem Unterschiedsbetrag gekommen ist und ob die möglichen Zins- und Liquiditätsvorteile tatsächlich bestanden und genutzt wurden, ist grundsätzlich unbeachtlich. Der durch die Verzinsung bezweckte Vorteilsausgleich behält grundsätzlich auch dann seinen Sinn, wenn staatliche Stellen für deren Entstehung und Höhe (mit-)verantwortlich sind. Eine verzögerte Bearbeitung des Steuerfalles durch die Finanzbehörde ist deshalb für sich genommen nicht geeignet, eine abweichende Zinsfestsetzung aus Billigkeitsgründen zu begründen (vgl. BFH-Urteil in BFHE 266, 501, BStBl II 2020, 214, Rz 16 ff., m.w.N.).
bb) Diese Rechtsgrundsätze hat das FG bei seiner Entscheidung hinreichend beachtet. Ohnehin erscheint dem Senat der Zeitraum zwischen der im März 2015 beginnenden und im November 2016 mit Erstellung des Prüfungsberichts endenden Außenprüfung ‑‑insbesondere unter Berücksichtigung des Aspekts der Hinzuziehung einer Fachprüferin‑‑ im Streitfall nicht als unangemessen bzw. ungewöhnlich lang.
4. Die Anregung des Klägers, im Hinblick auf die Verfassungsbeschwerdeverfahren, die zum Beschluss des BVerfG in BVerfGE 158, 282 geführt haben, das vorliegende Revisionsverfahren gemäß § 74 FGO auszusetzen, hat sich mit Ergehen der verfassungsgerichtlichen Entscheidung und dem damit verbundenen Wegfall der Anhängigkeit dieser Verfahren beim BVerfG erledigt.
5. Der Senat hält es für angebracht, ohne Durchführung einer mündlichen Verhandlung durch Gerichtsbescheid zu entscheiden (§ 90a Abs. 1, § 121 Satz 1 FGO).
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.