ECLI:DE:BFH:2022:U.070422.IIIR33.20.0
BFH III. Senat
FGO § 137 S 2, FVG § 5 Abs 1 S 1 Nr 11 S 4, AO § 127, AO § 16, AO § 17, FGO § 135 Abs 1
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg , 20. September 2019, Az: 5 K 5255/17
Leitsätze
1. NV: Die örtlich zuständigen Familienkassen sind in Kindergeldsachen nach dem Grundsatz der Gesamtzuständigkeit auch für das Erhebungsverfahren zuständig; die Konzentration der Aufgaben des Erhebungsverfahrens (hier: Erlass einer Kindergeldrückforderung) beim Inkasso-Service Recklinghausen und der Familienkasse Nordrhein-Westfalen Nord war rechtswidrig (vgl. Senatsurteil vom 25.02.2021 - III R 36/19, BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712).
2. NV: Lehnt die hiernach unzuständige Familienkasse einen Erlassantrag ab, so hat sie die Kosten des anschließenden finanzgerichtlichen Verfahrens und des Revisionsverfahrens auch insoweit zu tragen, als der Kläger ohne Erfolg die Verpflichtung zum Erlass begehrt hat.
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 20.09.2019 - 5 K 5255/17, der Ablehnungsbescheid vom 09.06.2017 sowie die Einspruchsentscheidung vom 28.11.2017 aufgehoben.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Beklagte zu tragen.
Tatbestand
I.
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) bezog für seine im Jahr 1990 geborene Tochter J Kindergeld. Mit Bescheid vom 13.03.2014 hob die Familienkasse B die Kindergeldfestsetzung ab November 2012 auf und forderte das für den Zeitraum November 2012 bis November 2013 gezahlte Kindergeld zurück, da die Anspruchsvoraussetzungen nicht mehr erfüllt waren. Der dagegen erhobene Einspruch des Klägers hatte keinen Erfolg.
Mit Schreiben vom 10.02.2017 beantragte der Kläger bei der Familienkasse B den Erlass des zurückgeforderten Betrags aus Billigkeitsgründen. Er trug vor, das Kindergeld sei bei J auf die von ihr bezogenen Grundsicherungsleistungen angerechnet worden. J habe im Streitzeitraum nicht mehr in seinem Haushalt gelebt und er habe auch nicht gewusst, dass sie den Kontakt zum Jobcenter abgebrochen habe.
Die Familienkasse B leitete den Erlassantrag an die Bundesagentur für Arbeit, Agentur für Arbeit Recklinghausen Inkasso-Service Familienkasse (Agentur für Arbeit Recklinghausen Inkasso-Service Familienkasse) weiter. Diese erließ einen Betrag von 160,50 € und lehnte den Erlassantrag im Übrigen durch Bescheid vom 09.06.2017 ab. Zur Begründung führte sie aus, der Kläger habe seine Mitwirkungspflicht verletzt, weil er nicht mitgeteilt habe, dass J ihre Berufsausbildung abgebrochen habe. Dagegen wandte sich der Kläger mit Einspruch, den die Familienkasse Nordrhein-Westfalen (NRW) Nord durch Einspruchsentscheidung vom 28.11.2017 zurückwies.
Im anschließenden finanzgerichtlichen Verfahren behandelte das Finanzgericht (FG) die Familienkasse NRW Nord als Beklagte. Es wies die Klage ab, mit welcher der Kläger die Verpflichtung zum Erlass des Rückforderungsbetrags von 2.231,50 € begehrte. Es war der Ansicht, die Familienkasse NRW Nord sei örtlich unzuständig, was allerdings nicht zur Rechtswidrigkeit des Ablehnungsbescheids führe. Die Ablehnung eines Billigkeitserlasses sei rechtskonform.
Gegen das Urteil wendet sich der Kläger mit der Revision, mit welcher er vorträgt, die Entscheidung über den Billigkeitsantrag sei durch eine unzuständige Behörde getroffen worden, auch sei die Ablehnung des Billigkeitserlasses rechtswidrig.
Die Beteiligten sind mit Schreiben vom 07.12.2021 darauf hingewiesen worden, dass das Rubrum des Verfahrens dahin zu berichtigen ist, dass anstelle der Familienkasse NRW Nord, die über den Einspruch entschieden hat, die Agentur für Arbeit Recklinghausen Inkasso-Service Familienkasse, welche den Erlass weit überwiegend abgelehnt und damit den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen hat (§ 63 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑), die Beklagte und Revisionsbeklagte ist.
Der Kläger beantragt,
das angefochtene Urteil, den Ablehnungsbescheid vom 09.06.2017 sowie die Einspruchsentscheidung vom 28.11.2017 aufzuheben und die beklagte Familienkasse zum Erlass des Rückforderungsbetrags von 2.231,50 € zu verpflichten.Die Agentur für Arbeit Recklinghausen Inkasso-Service Familienkasse beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet. Das angefochtene Urteil wird mit der Maßgabe aufgehoben, dass anstelle der Familienkasse NRW Nord die Agentur für Arbeit Recklinghausen Inkasso-Service Familienkasse die Beklagte und Revisionsbeklagte ist. Ebenso werden der Ablehnungsbescheid vom 09.06.2017 und die Einspruchsentscheidung vom 28.11.2017 aufgehoben (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 FGO). Das FG war zu Unrecht der Ansicht, der Bescheid über die Ablehnung des Erlasses und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung seien im Ergebnis rechtlich nicht zu beanstanden.
1. Die Klage richtet sich infolge rechtsschutzgewährender Auslegung gegen die Agentur für Arbeit Recklinghausen Inkasso-Service Familienkasse. Da diese den beantragten Erlass abgelehnt hat, ist die Klage gemäß § 63 Abs. 1 FGO gegen sie zu richten, weil sie den ursprünglichen Verwaltungsakt erlassen hat. Daher ist sie und nicht die Familienkasse NRW Nord als Rechtsmittelbehörde beteiligt (Senatsurteil vom 25.02.2021 - III R 36/19, BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712, Rz 13 ff.; Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 63 FGO Rz 20), weil kein Fall des § 63 Abs. 2 Nr. 1 FGO vorliegt. Die Berichtigung des Rubrums kann daher noch im Revisionsverfahren vorgenommen werden; die Beteiligten haben keine Einwände erhoben.
2. Das FG hat es im Ergebnis zu Recht abgelehnt, eine Verpflichtung zum Erlass eines Betrags von 2.231,50 € auszusprechen. Es hat allerdings rechtsfehlerhaft den Bescheid, mit dem der begehrte Erlass weit überwiegend abgelehnt wurde, sowie die dazu ergangene Einspruchsentscheidung nicht aufgehoben. Beide Bescheide wurden von einer sachlich unzuständigen Behörde erlassen.
a) Nach § 227 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) können die Finanzbehörden Ansprüche aus dem Steuerschuldverhältnis ganz oder zum Teil erlassen, wenn deren Einziehung nach Lage des einzelnen Falles unbillig wäre. Die Zuständigkeit für die Entscheidung über den Erlass bestimmt sich nach der Verwaltungshoheit, welche sowohl die im Festsetzungsverfahren als auch die im Erhebungsverfahren zu treffenden Entscheidungen umfasst (Loose in Tipke/Kruse, § 227 AO Rz 117).
b) Der Senat hat bereits mehrfach entschieden, dass die Konzentration der Aufgaben des Erhebungsverfahrens ‑‑insbesondere der Erlass und die Stundung von Kindergeldrückforderungen‑‑ bei der Agentur für Arbeit Recklinghausen Inkasso-Service Familienkasse und der Familienkasse NRW Nord rechtswidrig ist (Senatsurteile in BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712; vom 25.02.2021 - III R 28/20, BFH/NV 2021, 1100, und vom 07.07.2021 - III R 21/18, BFH/NV 2021, 1457).
In den vorgenannten Urteilen, auf die hinsichtlich der Einzelheiten verwiesen wird, hat der Senat dargelegt, dass für die örtliche Zuständigkeit (§§ 16 ff. AO) der Grundsatz der Gesamtzuständigkeit gilt. Die Zuständigkeit der örtlich zuständigen Familienkasse umfasst daher grundsätzlich alle Verwaltungstätigkeiten der Finanzbehörde, die sich aus dem gesamten Besteuerungsverfahren ergeben (Festsetzung, Rechtsbehelfsverfahren, Erhebung und Vollstreckung); eine abweichende Regelung über die örtliche Zuständigkeit setzt mithin eine Übertragung der Gesamtzuständigkeit für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten voraus.
Der Senat hat weiter entschieden, dass § 5 Abs. 1 Satz 1 Nr. 11 Satz 4 des Finanzverwaltungsgesetzes (FVG) dem Vorstand der Bundesagentur für Arbeit nur die Befugnis einräumt, innerhalb seines Zuständigkeitsbereichs die Entscheidung über den Anspruch auf Kindergeld für bestimmte Bezirke oder Gruppen von Berechtigten abweichend von den Vorschriften der AO über die örtliche Zuständigkeit von Finanzbehörden einer anderen Familienkasse zu übertragen. Die Übertragung lediglich einzelner Sachaufgaben für bestimmte Gruppen von Berechtigten von der örtlich und damit gesamtzuständigen Familienkasse auf eine andere Familienkasse oder Behörde betrifft demgegenüber den Gegenstand und Inhalt der der Finanzbehörde zugewiesenen Aufgaben und damit eine Frage der sachlichen Zuständigkeit. Für eine derartige Aufspaltung der Gesamtzuständigkeit, wonach für Entscheidungen des Festsetzungsverfahrens weiterhin die Wohnsitz-Familienkasse, für Entscheidungen des "Inkasso-Bereichs" hingegen eine andere Familienkasse zuständig sein sollte, fehlt die erforderliche gesetzliche Grundlage.
3. Der Senat hat in den Urteilen in BFHE 272, 19, BStBl II 2021, 712 und in BFH/NV 2021, 1100 weiter entschieden, dass § 127 AO einer Aufhebung des angegriffenen Verwaltungsakts, der von der ‑‑sachlich unzuständigen‑‑ Behörde im Erhebungsverfahren getroffen wurde, nicht entgegensteht und es sich bei der Entscheidung über einen Erlass zudem um eine Ermessensentscheidung handelt, auf die § 127 AO grundsätzlich keine Anwendung findet.
4. Soweit der Kläger die Aufhebung des Ablehnungsbescheids sowie der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung begehrt, hat die Klage aus den dargelegten Gründen Erfolg. Denn das FG ist zu Unrecht von der Rechtmäßigkeit des Ablehnungsbescheids in Gestalt der dazu ergangenen Einspruchsentscheidung ausgegangen.
Soweit der Kläger darüber hinaus die Verpflichtung zum Ausspruch des begehrten Erlasses der Kindergeldrückforderung begehrt, hat die Klage dagegen keinen Erfolg, da die beklagte Agentur für Arbeit Recklinghausen Inkasso-Service Familienkasse schon wegen ihrer Unzuständigkeit einen solchen Erlass nicht aussprechen kann. Das angefochtenen Urteil war daher aufzuheben und die Klage im Übrigen abzuweisen.
5. Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Familienkasse zu tragen (§ 135 Abs. 1 FGO). Der Kläger hat obsiegt, soweit er im Ergebnis die Aufhebung des Ablehnungsbescheids sowie der Einspruchsentscheidung erreicht hat. Der Verpflichtungsantrag bleibt bei der Kostenverteilung außer Betracht. Der Senat konnte nicht beurteilen, ob das FG in materiell-rechtlicher Hinsicht zu Recht eine solche Verpflichtung abgelehnt hat. Dies hat die Verwaltungsseite zu verantworten. Ihr ist nach § 137 Satz 2 FGO ein vorprozessuales Verschulden zuzurechnen, weil der Ablehnungsbescheid und die Einspruchsentscheidung durch unzuständige Behörden erlassen wurden, sodass der Kläger, der den Erlassantrag bei der zuständigen Behörde gestellt hat, nach Abschluss des Revisionsverfahrens in die Ausgangsposition zurückversetzt wurde (vgl. Brandis in Tipke/Kruse, § 137 FGO Rz 8).