ECLI:DE:BFH:2021:U.151221.IIIR34.20.0
BFH III. Senat
AO § 357, BGB § 133
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg , 08. May 2019, Az: 10 K 10249/18
Leitsätze
NV: Ist die vom Finanzamt verwendete Bezeichnung für verbundene Bescheide unvollständig, so ist ein Einspruchsschreiben, welches diese Bezeichnung, aber keine Begründung enthält, der Auslegung zugänglich.
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 09.05.2019 - 10 K 10249/18 aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Berlin-Brandenburg zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen.
Tatbestand
I.
Streitig ist, ob die gegen Einkommensteuer-Änderungsbescheide gerichteten Einsprüche eines fachkundig vertretenen Steuerpflichtigen auch die Zinsfestsetzungen umfassen.
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) erzielte in den Streitjahren 2002 bis 2007 und 2009 (Streitjahre) u.a. Einkünfte aus einer Beteiligung. Nach der Änderung der Grundlagenbescheide über die Beteiligungseinkünfte änderte der Beklagte und Revisionsbeklagte (Finanzamt ‑‑FA‑‑) am 17.04.2018 die Bescheide über Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag für die Streitjahre und setzte jeweils Zinsen zur Einkommensteuer fest. Die Bescheide trugen jeweils die Überschrift "Bescheid für [Jahreszahl] über Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag".
Der durch eine Rechtsanwalts- und Steuerberatungskanzlei vertretene Kläger erhob gegen die "Bescheide für 2002, 2003, 2004, 2005, 2006, 2007 und 2009 über Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag vom 17.04.2018" mit Schreiben vom 17.05.2018 Einspruch und beantragte zugleich die Aussetzung der Vollziehung der angefochtenen Bescheide bzw. die Stundung der mit den Bescheiden festgesetzten Nachzahlungen. In dem durch einen Steuerberater unterzeichneten Schreiben wird weiter ausgeführt, dass die Bevollmächtigten das Mandat erst im November 2013 übernommen hätten und mit der Erstellung der Steuererklärung für die in der Betreffzeile genannten Veranlagungszeiträume bzw. deren Prüfung bislang nicht befasst gewesen seien. Dies betreffe auch die Mitteilungen der Besteuerungsgrundlagen durch die zuständigen Finanzämter, die zu den Änderungen der Bescheide geführt hätten. Zur Klärung benötigten sie daher noch Zeit.
Mit einem weiteren Schreiben vom 17.05.2018, beim FA eingegangen am 13.06.2018, teilte der Steuerberater des Klägers mit, dass die Einsprüche weiterverfolgt würden. Im Betreff des Schreibens nahm der Steuerberater Bezug auf die Einsprüche vom 17.05.2018 gegen die Bescheide für 2002, 2003, 2004, 2005, 2006, 2007 und 2009 über Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag vom 17.04.2018. Er erhob Einwendungen gegen die Verzinsung, welche die Verfassungsmäßigkeit des Zinssatzes betrafen, und warf die Frage auf, ob angesichts der (überlangen) Verfahrens-/Bearbeitungsdauer ein Anspruch auf Erlass der Zinsen wegen sachlicher Unbilligkeit bestehe.
Das FA wies den Kläger schriftlich darauf hin, dass die Einsprüche verspätet eingegangen seien. Dazu erklärte der Kläger telefonisch, dass die Einsprüche gegen die Einkommensteuerbescheide auch Einsprüche gegen die Zinsfestsetzungen darstellten.
Mit Einspruchsentscheidungen vom 10.10.2018 und 11.10.2018 verwarf das FA die Einsprüche angesichts der versäumten Einspruchsfrist als unzulässig. Die Klage blieb erfolglos.
Mit der Revision rügt der Kläger eine Verletzung des materiellen Rechts in Form der anerkannten Auslegungsregeln.
Der Kläger beantragt,
das Urteil des Finanzgerichts (FG) Berlin-Brandenburg vom 09.05.2019 aufzuheben und den Rechtsstreit an das FG zurückzuverweisen.Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des Klägers ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Rechtssache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Die Vorinstanz ist zu Unrecht davon ausgegangen, dass die Einspruchsschrift keiner Auslegung zugänglich ist. Vielmehr ist der Einspruch vom 17.05.2018 (auch) unter Berücksichtigung der nachfolgenden Äußerungen des Klägers dahingehend auszulegen, dass er sich (auch) auf die Zinsfestsetzungen bezieht. Die Sache ist nicht spruchreif.
1. Gemäß § 357 Abs. 3 Satz 1 der Abgabenordnung (AO) soll bei der Einlegung des Rechtsbehelfs der Verwaltungsakt bezeichnet werden, gegen den der Einspruch gerichtet ist. Danach ist die Rechtswirksamkeit des eingelegten Rechtsbehelfs nicht von einer genauen Bezeichnung des angefochtenen Verwaltungsakts abhängig. Es ist jedoch erforderlich, dass sich die Zielrichtung des Begehrens aus der Rechtsbehelfsschrift in der Weise ergibt, dass sich der angefochtene Verwaltungsakt entweder aus dem Inhalt der Rechtsbehelfsschrift selbst ermitteln lässt oder dass Zweifel oder Unklarheiten hinsichtlich des Gewollten beseitigt werden können. Fehlt es an einer eindeutigen und zweifelsfreien Erklärung des Gewollten, ist der wirkliche Wille des Steuerpflichtigen durch Auslegung seiner Erklärungen zu ermitteln. Dabei ist grundsätzlich davon auszugehen, dass der Steuerpflichtige denjenigen Verwaltungsakt anfechten will, der angefochten werden muss, um zu dem erkennbar angestrebten Erfolg zu kommen. Dies gilt grundsätzlich auch für Erklärungen rechtskundiger Personen (Urteile des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 28.11.2001 - I R 93/00, BFH/NV 2002, 613, unter II.1.; vom 08.05.2008 - VI R 12/05, BFHE 222, 196, BStBl II 2009, 116, unter II.1.; vom 11.02.2009 - X R 51/06, BFHE 226, 1, BStBl II 2009, 892, unter II.2.a aa; vom 19.08.2013 - X R 44/11, BFHE 243, 304, BStBl II 2014, 234, Rz 16; vom 14.06.2016 - IX R 11/15, BFH/NV 2016, 1676, Rz 22, und vom 29.10.2019 - IX R 4/19, BFHE 266, 126, BStBl II 2020, 368, Rz 12).
a) Sowohl außerprozessuale als auch prozessuale Rechtsbehelfe sind in entsprechender Anwendung des § 133 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) auszulegen. Danach ist nicht am buchstäblichen Sinn des Ausdrucks zu haften, sondern der wirkliche Wille zu erforschen. Dabei dürfen auch außerhalb der Erklärung liegende Umstände berücksichtigt werden. Die Auslegung darf jedoch nicht zur Annahme eines Erklärungsinhalts führen, für den sich in der Erklärung selbst keine Anhaltspunkte finden lassen. Eine derartige Korrektur der Einspruchserklärung kann auch mit dem Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung nicht gerechtfertigt werden (BFH-Urteil in BFHE 266, 126, BStBl II 2020, 368, Rz 13, m.w.N.).
Die Erforschung des wirklichen Willens des Steuerpflichtigen beschränkt sich nicht auf die Umstände, die bei der Einlegung des Einspruchs zutage treten. Denn im Hinblick auf den Grundsatz der rechtsschutzgewährenden Auslegung ist es ohne Bedeutung, wenn die Konkretisierung eines auslegungsbedürftigen Rechtsschutzbegehrens erst nachträglich ‑‑innerhalb oder sogar außerhalb der Einspruchsfrist‑‑ erfolgt (BFH-Urteil in BFHE 266, 126, BStBl II 2020, 368, Rz 22, m.w.N.). Zwar kann aus späteren Begründungen nicht immer mit hinreichender Sicherheit auf den maßgeblichen anfänglichen Willen geschlossen werden, da sich der Wille des Steuerpflichtigen zwischen Einlegung und Begründung des Einspruchs geändert haben kann. Bei nachträglich eingereichten Begründungen ist daher anhand objektiver Umstände zu prüfen, ob der Steuerpflichtige die Anfechtung eines bestimmten Verwaltungsakts bereits bei Erhebung des Einspruchs in seinen Willen aufgenommen hatte oder ob sich dieser Wille erst nachträglich gebildet hat. Spätere Erklärungen können insofern bei der Auslegung herangezogen werden, soweit sie (sei es wegen ihres Inhalts oder aufgrund weiterer Indizien) einen Schluss auf den ursprünglichen Willen des Einspruchsführers zulassen (BFH-Urteil in BFHE 266, 126, BStBl II 2020, 368, Rz 23).
b) Für die Auslegung von Einsprüchen gegen miteinander verbundene Bescheide ist zu unterscheiden, ob der Steuerpflichtige derartige Bescheide unter Wiedergabe der (amtlichen) Bescheidbezeichnung anficht, ohne zunächst konkrete Einwendungen gegen einen bestimmten Verwaltungsakt zu erheben, oder ob sein dem Wortlaut nach (zunächst unspezifisch) auf verbundene Bescheide bezogenes Einspruchsschreiben eine Begründung enthält. Wendet sich der Steuerpflichtige im erstgenannten Fall in einem späteren, ggf. nach Ablauf der Einspruchsfrist eingereichten Begründungsschreiben (nur noch) gegen einen bestimmten Bescheid, dann bezieht sich der Rechtsbehelf jedenfalls auch auf diesen Verwaltungsakt. Im letztgenannten Fall ist der Gegenstand der Anfechtung anhand der im Einspruchsschreiben selbst enthaltenen Begründung (einengend) zu bestimmen, sodass außerhalb der Einspruchsfrist erhobenen Einwendungen gegen einen weiteren verbundenen, aber in der ursprünglichen Begründung nicht angesprochenen Verwaltungsakt dessen Bestandskraft entgegensteht (BFH-Urteil in BFHE 266, 126, BStBl II 2020, 368, Rz 15 und 16, m.w.N.).
c) Die Auslegung des Einspruchs als vorprozessualer Rechtsbehelf ist Gegenstand der vom FG zu treffenden tatsächlichen Feststellungen, an die das Revisionsgericht grundsätzlich gebunden ist, soweit im Revisionsverfahren keine zulässigen und begründeten Revisionsrügen erhoben werden (§ 118 Abs. 2 FGO). Das Revisionsgericht kann die Auslegung nur daraufhin überprüfen, ob das FG die anerkannten Auslegungsregeln beachtet (§§ 133, 157 BGB) und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstoßen hat (BFH-Urteile in BFHE 222, 196, BStBl II 2009, 116, unter II.1., und in BFHE 266, 126, BStBl II 2020, 368, Rz 18). Revisionsrechtlich in vollem Umfang nachprüfbar ist aber, ob die Erklärung überhaupt auslegungsbedürftig ist. Hieran fehlt es, wenn die Erklärung nach Wortlaut und Zweck einen eindeutigen Inhalt hat (BFH-Urteile vom 28.11.2018 - I R 61/16, BFH/NV 2019, 898, Rz 22, m.w.N., und in BFHE 266, 126, BStBl II 2020, 368, Rz 18; Senatsurteil vom 14.04.2021 - III R 50/20, BFHE 273, 385, BStBl II 2021, 866, Rz 23).
Fehlt die Bindungswirkung, weil das FG die Erklärung überhaupt nicht oder rechtsfehlerhaft ausgelegt hat, darf das Revisionsgericht die erforderliche Auslegung selbst vornehmen, wenn das FG sowohl den vollständigen Inhalt der Erklärung(en) als auch die maßgebenden Begleitumstände (ergangene Verwaltungsakte) festgestellt hat, weitere Feststellungen nicht in Betracht kommen und auch von den Beteiligten nicht begehrt werden (BFH-Urteil in BFHE 243, 304, BStBl II 2014, 234, Rz 22 und 23, m.w.N.).
2. Nach diesen Maßstäben hält das Urteil des FG einer revisionsrechtlichen Nachprüfung nicht stand.
a) Das FG ist unter Verletzung des § 133 BGB unzutreffend davon ausgegangen, dass die Einspruchsschrift vom 17.05.2018 nicht auslegungsbedürftig ist. Es hat angenommen, dass das Schreiben einen eindeutigen Inhalt habe, da es von einem rechtskundigen Bevollmächtigten stamme und die Zinsfestsetzungen darin weder in der Betreffzeile noch in der Begründung erwähnt worden seien. Die vom FA verwendete Überschrift führe nicht zu einer anderen Beurteilung, weil sich aus dem Dokument selbst eindeutig ergebe, dass Einkommensteuer, Zinsen zur Einkommensteuer und Solidaritätszuschlag festgesetzt werden. Auch die beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung weise darauf hin, dass die Festsetzung der Einkommensteuer, der Zinsen und des Solidaritätszuschlags mit dem Einspruch angefochten werden könne.
Dabei hat das FG jedoch unberücksichtigt gelassen, dass die Einspruchsschrift vom 17.05.2018 ‑‑neben der Wiedergabe der vom FA gewählten, aber unvollständigen Überschrift für die Sammelbescheide der einzelnen Streitjahre im Betreff‑‑ keine weiteren Ausführungen dazu enthielt, welches Ziel der Kläger mit seinen Einsprüchen verfolgt. Vielmehr wurde darin lediglich dargestellt, weswegen die Bevollmächtigten des Klägers zur Begründung der Einsprüche noch Zeit benötigen. Deshalb war zunächst unklar, gegen welchen oder welche der verbundenen Verwaltungsakte der Kläger vorgehen wollte.
b) Der Senat kann die Erklärung des Klägers auf der Grundlage der nicht mit Revisionsrügen angegriffenen Feststellungen des FG, deren Ergänzung keiner der Beteiligten verlangt hat, selbst auslegen.
Unter Berücksichtigung des am 13.06.2018 beim FA eingegangenen Schriftsatzes ist danach von einem am 17.05.2018 eingelegten Einspruch auszugehen, der sich auch gegen die Zinsfestsetzungen richtet. Denn dieser Schriftsatz gestattet, auf den ursprünglichen Willen des Klägers zu schließen. Denn der Schriftsatz, mit dem der Kläger mitteilt, dass die Einsprüche weiterverfolgt werden, enthält im Betreff ‑‑wie das Einspruchsschreiben vom 17.05.2018‑‑ (lediglich) die vom FA verwendete Überschrift der verbundenen Bescheide. Inhaltlich erhebt der Kläger aber ausschließlich Einwendungen gegen die gleichfalls festgesetzten Zinsen zur Einkommensteuer. Eine einengende Auslegung des Anfechtungsgegenstands auf die Festsetzung von Einkommensteuer und/oder Solidaritätszuschlag kommt daher nicht in Betracht.
3. Die Streitsache ist nicht spruchreif und wird an das FG zurückverwiesen. Das wird zu prüfen haben, ob ‑‑ggf. unter Berücksichtigung des von § 351 Abs. 1 AO eröffneten Anfechtungsrahmens‑‑ die Zinsfestsetzungen vom 17.04.2018 rechtmäßig sind.
4. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.