ECLI:DE:BFH:2021:B.020721.XIR40.19.0
BFH XI. Senat
UStG § 6a Abs 1 S 1, UStG § 6a Abs 3, UStG § 6a Abs 4 S 1, UStG § 4 Nr 1 Buchst b, UStG § 25f Abs 1 Nr 1, UStG § 27 Abs 30, UStDV § 17, UStDV § 17ff, EGRL 112/2006 Art 131, EGRL 112/2006 Art 138 Abs 1, EGRL 112/2006 Art 138 Abs 1 Buchst b, EUV Art 4 Abs 3, AEUV Art 325, AO § 162, AO § 168, FGO § 118 Abs 2, UStG VZ 2011 , UStG § 18e
vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg , 06. November 2019, Az: 1 K 1939/18
Leitsätze
1. NV: Die Steuerfreiheit innergemeinschaftlicher Lieferungen ist ausgeschlossen, wenn zwar die Voraussetzungen für die Steuerbefreiung objektiv vorliegen, der Unternehmer jedoch wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich mit dem betreffenden Umsatz an einem anderen Umsatz der Lieferkette beteiligt, der in eine Steuerhinterziehung in einem anderen Mitgliedstaat der Europäischen Union einbezogen ist.
2. NV: In solchen Fällen kommt auch kein Vertrauensschutz nach § 6a Abs. 4 UStG in Betracht.
Tenor
Die Revision des Klägers gegen das Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 07.11.2019 - 1 K 1939/18 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
I.
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) betrieb seit dem Jahr 2004 in Y ein Einzelunternehmen im Bereich Innenausbau; seine Umsätze blieben in den Jahren vor 2011 (Streitjahr) jeweils unter 100.000 €. Von August bis Dezember des Streitjahres handelte der Kläger außerdem u.a. mit Zucker.
Der Kläger kaufte den Zucker von seinem polnischen Lieferanten A mit Sitz in X, Republik Polen (Polen), und verkaufte ihn an einen polnischen Abnehmer B mit Sitz in Z, Polen. Nach Auskunft der polnischen Steuerbehörden hat B keine innergemeinschaftlichen Erwerbe vom Kläger versteuert und sich für Mehrwertsteuerzwecke erst am 21.06.2012 registrieren lassen. Er sei aus dem Mehrwertsteuerregister am 14.09.2012 wieder entfernt worden; bei ihm handele es sich um einen sog. Missing Trader.
Nach den Feststellungen der Steuerfahndungsstelle (Steuerfahndung) wurde der Zucker von X nach W, Bundesrepublik Deutschland (Deutschland), befördert. Der Kläger hatte in W ab 15.08.2011 einen Containerstellplatz und einen Lagerraum angemietet. Die C, eine Spedition mit Sitz in V, Republik Litauen, transportierte die Ware. In den Frachtbriefen war zunächst die (Wohn-)Anschrift des Klägers in Y als Lieferanschrift angegeben; nach den berichtigten Frachtbriefen wurde die Ware dagegen nach W geliefert. Ob der Zucker in W ausgeladen und eingelagert wurde, ist nicht geklärt. Nach Einschätzung der Steuerfahndung sei dies aufgrund der transportierten Mengen und der Größe der angemieteten Halle (47,5 qm) zweifelhaft. Ein Vergleich der Kfz-Kennzeichen in den Frachtbriefen, denen zufolge der Zucker von W nach Z weiterbefördert worden sei, lasse jeweils auf einen Rücktransport nach Polen zwei bis drei Tage später mit demselben LKW schließen. Der genaue Lieferort in Z ist nicht bekannt. Nach Auskunft der polnischen Steuerbehörden handele es sich bei der angegebenen (Liefer-)Anschrift um Büros ohne Möglichkeit, größere Mengen an Ware zu lagern; unter der auf den Frachtbriefen außerdem genannten Anschrift stehe ein Mehrfamilienhaus.
Der Kläger wies in den Rechnungen über die Lieferungen an B keine Umsatzsteuer aus, sondern erteilte den Hinweis: "Gemäß § 13 [des Umsatzsteuergesetzes] UStG schulden Sie die Umsatzsteuer." Er gab die Umsatzsteuer-Identifikationsnummer des B, der in dem betreffenden Zeitraum (August bis Dezember 2011) über eine solche nicht verfügte, mit "PL .........." an. Sie entsprach der, die die polnischen Steuerbehörden im Falle der Registrierung für Mehrwertsteuerzwecke unter Verwendung der polnischen Steuernummer des B erteilt hätten. Insgesamt stellte der Kläger dem B für rund 300 LKW-Ladungen mit jeweils 24 t Zucker einen Gesamtbetrag in Höhe von (netto) 6.050.838 € in Rechnung; die erste Lieferung erfolgte am 22.08.2011 und die letzte am 29.12.2011. Die Rechnungsbeträge wurden von B auf ein Bankkonto des Klägers in Polen überwiesen, von dem regelmäßig Geld in bar abgehoben wurde.
Der Kläger erklärte in seinen Umsatzsteuervoranmeldungen für das dritte und vierte Kalendervierteljahr 2011 zunächst weder innergemeinschaftliche Erwerbe noch innergemeinschaftliche Lieferungen. Eine Zusammenfassende Meldung gab er innerhalb der gesetzlichen Fristen ebenfalls nicht ab.
Nachdem der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) auf einen Hinweis der polnischen Steuerbehörden hin tätig geworden war, gab der Kläger am 27.04.2012 in den Zusammenfassenden Meldungen für die Monate August bis Dezember 2011 erstmals innergemeinschaftliche Lieferungen an. Außerdem erklärte er am 22.05.2012 und 23.05.2012 in seinen berichtigten Umsatzsteuervoranmeldungen für das dritte und vierte Kalendervierteljahr 2011 nunmehr innergemeinschaftliche Erwerbe und innergemeinschaftliche Lieferungen.
Der Kläger führte am 15.07.2012 zu der dem B inzwischen kurzzeitig erteilten Umsatzsteuer-Identifikationsnummer das Bestätigungsverfahren durch; ihm wurde mitgeteilt, die Nummer sei gültig.
Die Steuerfahndung leitete am 15.11.2012 gegen den Kläger ein Strafverfahren wegen des Verdachts der Hinterziehung von Umsatzsteuer ein. Der Kläger gab im Rahmen einer Vernehmung an, D habe bei ihm angefragt, ob er sich ein zweites Standbein mit dem Zuckerhandel schaffen wolle. Er, D, habe auch schon einen Abnehmer in Polen. D habe auf seine Frage, warum dieser sich den Zucker nicht direkt in Polen besorge, geantwortet, dass der Abnehmer sich durch die Lieferung nach Deutschland und wieder zurück nach Polen die Mehrwertsteuer sparen könne. Er, der Kläger, habe D, der angeboten habe, sich um alles zu kümmern, eine Generalvollmacht für alle Geschäfte, Behördengänge und das Bankkonto in Polen erteilt. Um die Zuckereinkäufe und den Transport nach Deutschland habe sich D gekümmert; den Rücktransport nach Polen habe B auf Zuruf des D organisiert. B habe für die erste Lieferung aus Polen einen Vorschuss geleistet, so dass er, der Kläger, kein Risiko getragen und kein eigenes Geld zu investieren gehabt habe. Dem Kläger sei ein monatlicher Gewinn in Höhe von rund 3.000 € in Aussicht gestellt worden.
Das FA schätzte zunächst die Besteuerungsgrundlagen nach § 162 der Abgabenordnung (AO) und setzte die Umsatzsteuer für das Streitjahr mit Umsatzsteuerbescheid vom 01.04.2014 auf 8.811,67 € fest.
Am 11.08.2014 gab der Kläger die Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr ab, die i.S. des § 168 AO einer Festsetzung unter dem Vorbehalt der Nachprüfung gleichstand. Er erklärte darin u.a. steuerfreie innergemeinschaftliche Lieferungen in Höhe von 6.393.802 € und ermittelte Umsatzsteuer für das Streitjahr in Höhe von 9.180,74 €.
Nach Abschluss der Steuerfahndungsprüfung erkannte das FA die Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen nicht mehr an. Dementsprechend änderte es mit Bescheid vom 25.04.2017 die Umsatzsteuerfestsetzung vom 11.08.2014 und setzte für das Streitjahr Umsatzsteuer in Höhe von nunmehr 503.127,75 € fest. Der Einspruch hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 04.05.2018).
Das Finanzgericht (FG) Baden-Württemberg wies die hiergegen erhobene Klage mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2020, 1014 veröffentlichten Urteil vom 07.11.2019 - 1 K 1939/18 ab.
Der Kläger rügt mit seiner Revision die Verletzung materiellen Rechts. Er macht geltend, dass das angefochtene Urteil rechtsfehlerhaft sei und gegen § 6a UStG in der für das Streitjahr gültigen Fassung (a.F.), Art. 138 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL) a.F. sowie ‑‑im Hinblick auf die aus seiner Sicht unzutreffende Sachverhaltswürdigung durch das FG‑‑ § 96 Abs. 1 Satz 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) verstoße.
Die im Streitjahr geltenden materiellen Voraussetzungen für die Steuerbefreiung innergemeinschaftlicher Lieferungen seien erfüllt und nicht wegen der mangelnden umsatzsteuerrechtlichen Registrierung des B im Lieferzeitraum zu versagen. Diese sei, wie sich aus der Neuregelung des Art. 138 Abs. 1 Buchst. b MwStSystRL ergebe, im Streitjahr keine materielle Voraussetzung für die Steuerbefreiung gewesen. Bei der Aufzeichnung einer gültigen Umsatzsteuer-Identifikationsnummer habe es sich ebenso wenig um eine unverzichtbare formelle Anforderung gehandelt. Da sich aus den Feststellungen des FG ergebe, dass der Zucker ausweislich der Frachtbriefe zwei bis drei Tage nach der Anlieferung in W nach Z geliefert worden sei, sei weder der Bestimmungsort noch der Verbleib des Zuckers unklar; die Ware habe Deutschland verlassen und sei nach Polen gelangt. Es komme nicht darauf an, ob der polnische Abnehmer in Z in der Lage gewesen sei, den Zucker zu lagern. Die Unternehmereigenschaft des B, die angesichts des Umfangs der an ihn erfolgten Lieferungen außer Frage stehe, ergebe sich nicht konstitutiv aus der umsatzsteuerrechtlichen Registrierung, sondern sei anhand der objektiven Gegebenheiten zu beurteilen.
Aus der unterlassenen Prüfung der Umsatzsteuer-Identifikationsnummer lasse sich auch nicht ableiten, dass er, der Kläger, bei Ausführung der Umsätze hätte wissen müssen, dass B eine Steuerhinterziehung begehe oder zu begehen beabsichtige. Gleiches gelte im Hinblick auf die fehlende Aufzeichnung einer bei Ausführung der Umsätze gültigen Umsatzsteuer-Identifikationsnummer, abweichende Großhandelspreise und anfängliche unzutreffende Angaben des Lieferorts in den Frachtbriefen des innergemeinschaftlichen Erwerbs.
Der Kläger beantragt sinngemäß, die Vorentscheidung und die Einspruchsentscheidung vom 04.05.2018 sowie den Umsatzsteueränderungsbescheid vom 25.04.2017 aufzuheben.
Das FA beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Entscheidung ergeht gemäß § 126a FGO. Der Senat hält einstimmig die Revision für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Beteiligten sind davon unterrichtet worden und hatten Gelegenheit zur Stellungnahme.
Das FG hat zu Recht entschieden, dass die Zuckerlieferungen nach Polen nicht als innergemeinschaftliche Lieferungen nach § 4 Nr. 1 Buchst. b unter den Voraussetzungen des § 6a UStG a.F. steuerfrei sind (s. zu 1.). Die streitgegenständlichen Lieferungen sind auch nicht nach § 6a Abs. 4 Satz 1 UStG steuerfrei (s. zu 2.).
1. Innergemeinschaftliche Lieferungen waren im Streitjahr gemäß § 4 Nr. 1 Buchst. b UStG nach Maßgabe des § 6a UStG a.F. steuerfrei. Die entsprechenden Voraussetzungen waren nicht erfüllt.
a) Die Steuerfreiheit setzte voraus, dass der Unternehmer oder der Abnehmer den Gegenstand der Lieferung in das übrige Gemeinschaftsgebiet befördert oder versendet hat (§ 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG a.F.), der Abnehmer u.a. ein Unternehmer war, der den Gegenstand der Lieferung für sein Unternehmen erworben hat (§ 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a UStG a.F.), und der Erwerb des Gegenstands der Lieferung beim Abnehmer in einem anderen Mitgliedstaat den Vorschriften der Umsatzbesteuerung unterlag (§ 6a Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG a.F.). Diese Voraussetzungen mussten vom Unternehmer nachgewiesen werden (§ 6a Abs. 3 Satz 1 UStG a.F.). Das Bundesministerium der Finanzen konnte mit Zustimmung des Bundesrates durch Rechtsverordnung bestimmen, wie der Unternehmer den Nachweis zu führen hatte (§ 6a Abs. 3 Satz 2 UStG a.F.); diese Nachweisanforderungen ergaben sich aus §§ 17a ff. der Umsatzsteuer-Durchführungsverordnung (UStDV) a.F.
Diese Steuerfreiheit der innergemeinschaftlichen Lieferung beruhte im Streitjahr unionsrechtlich auf Art. 131 und Art. 138 Abs. 1 MwStSystRL a.F. Danach stellten die Mitgliedstaaten die Lieferungen von Gegenständen, die durch den Verkäufer, den Erwerber oder für ihre Rechnung nach Orten außerhalb ihres jeweiligen Gebiets, aber innerhalb der Gemeinschaft versandt oder befördert worden waren, von der Steuer frei, wenn diese Lieferung u.a. an einen anderen Steuerpflichtigen bewirkt worden war, der in einem anderen Mitgliedstaat als dem des Beginns der Versendung oder Beförderung der Gegenstände handelte.
b) Es bedarf vorliegend keiner Entscheidung darüber, ob ‑‑wie der Kläger meint‑‑ die materiellen Voraussetzungen für die Steuerfreiheit nach § 6a Abs. 1 Satz 1 UStG a.F. objektiv erfüllt sind. Selbst wenn diese Voraussetzungen erfüllt wären, wäre ‑‑wie das FG zu Recht erkannt hat‑‑ die Steuerbefreiung zu versagen. Denn der Kläger hätte jedenfalls wissen müssen, dass die von ihm bewirkten Umsätze mit einer Steuerhinterziehung des Erwerbers verknüpft waren.
aa) Zwar findet § 25f Abs. 1 Nr. 1 UStG, nach dem die Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen nach § 4 Nr. 1 Buchst. b i.V.m. § 6a UStG zu versagen ist, sofern der Unternehmer wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich u.a. mit der von ihm erbrachten Leistung an einem Umsatz beteiligt, bei dem ein anderer Beteiligter auf einer nachfolgenden Umsatzstufe in eine begangene Hinterziehung von Umsatzsteuer einbezogen war, im Streitfall keine Anwendung. Denn diese Regelung ist gemäß § 27 Abs. 30 UStG erstmals auf Voranmeldungs- und Besteuerungszeiträume anzuwenden, die nach dem 31.12.2019 enden.
(1) Jedoch war auch bereits vor Einführung dieser Vorschrift die Steuerbefreiung für die innergemeinschaftliche Lieferung auf der Grundlage des Unionsrechts zu versagen, wenn der Lieferer wusste oder hätte wissen müssen, dass er sich durch seine Lieferung an einer im Rahmen der Lieferkette begangenen Mehrwertsteuerhinterziehung beteiligt (vgl. Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union ‑‑EuGH‑‑ R vom 07.12.2010 - C-285/09, EU:C:2010:742, Rz 52; Schoenimport "Italmoda" Mariano Previti vom 18.12.2014 - C-131, 163, 164/13, EU:C:2014:2455, Rz 62; Euro Tyre vom 09.02.2017 - C-21/16, EU:C:2017:106, Rz 40; s.a. Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 16.06.2011 - 2 BvR 542/09, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2011, 1145, Rz 62 [keine "Steuerbefreiung ..., wenn die Erwerbsbesteuerung im anderen Mitgliedstaat unterlaufen wird"]; Urteile des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 17.02.2011 - V R 30/10, BFHE 233, 341, BStBl II 2011, 769; vom 11.08.2011 - V R 50/09, BFHE 235, 32, BStBl II 2012, 151; vom 11.08.2011 - V R 19/10, BFHE 235, 50, BStBl II 2012, 156; Senatsurteil vom 14.12.2011 - XI R 33/10, BFH/NV 2012, 1009, Rz 26 ff.). Denn ein Steuerpflichtiger, der sich vorsätzlich an einer das Funktionieren des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems gefährdenden Steuerhinterziehung beteiligt, kann sich für die Zwecke der Mehrwertsteuerbefreiung nicht auf den Grundsatz der Steuerneutralität berufen (vgl. z.B. EuGH-Urteile Euro Tyre, EU:C:2017:106, Rz 39; Cartrans Spedition vom 08.11.2018 - C-495/17, EU:C:2018:887, Rz 41). Die Bekämpfung von Betrug, Steuerhinterziehung und etwaigen Missbräuchen ist ein Ziel, das mit der MwStSystRL anerkannt und gefördert wird; eine betrügerische oder missbräuchliche Berufung auf das Unionsrecht ist nicht erlaubt (vgl. z.B. zur Versagung des Vorsteuerabzugs EuGH-Urteile Vikingo Fővállalkozó vom 03.09.2020 - C-610/19, EU:C:2020:673, Rz 50; Finanzamt Wilmersdorf vom 14.04.2021 - C-108/20, EU:C:2021:266, Rz 21).
(2) Außerdem verstößt es nach der Rechtsprechung des EuGH nicht gegen das Unionsrecht, von einem Wirtschaftsteilnehmer zu fordern, dass er in gutem Glauben handelt und alle Maßnahmen ergreift, die vernünftigerweise verlangt werden können, um sicherzustellen, dass der von ihm getätigte Umsatz nicht zu seiner Beteiligung an einer Steuerhinterziehung führt (vgl. z.B. zur Versagung des Vorsteuerabzugs EuGH-Urteile Vikingo Fővállalkozó, EU:C:2020:673, Rz 54; Finanzamt Wilmersdorf, EU:C:2021:266, Rz 28). Sollte der betreffende Steuerpflichtige gewusst haben oder hätte er wissen müssen, dass der von ihm bewirkte Umsatz mit einer Steuerhinterziehung des Erwerbers verknüpft war, und hat er nicht alle ihm zur Verfügung stehenden zumutbaren Maßnahmen ergriffen, um diese zu verhindern, muss ihm der Anspruch auf Mehrwertsteuerbefreiung versagt werden (vgl. z.B. EuGH-Urteile Euro Tyre, EU:C:2017:106, Rz 40; Cartrans Spedition, EU:C:2018:887, Rz 41). Dies steht im Einklang mit der sich aus Art. 4 Abs. 3 des Vertrags über die Europäische Union (EUV) bzw. Art. 325 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV) ergebenden Verpflichtung der Mitgliedstaaten, alle Rechts- und Verwaltungsvorschriften zu erlassen, die geeignet sind, die Erhebung der gesamten in ihrem Hoheitsgebiet geschuldeten Mehrwertsteuer zu gewährleisten und den Betrug zu bekämpfen (vgl. EuGH-Urteile Paper Consult vom 19.10.2017 - C-101/16, EU:C:2017:775, Rz 43 und 47; M.A.S. und M.B. vom 05.12.2017 - C-42/17, EU:C:2017:936, Rz 30 ff.).
(3) Soweit der erkennende Senat mit Beschluss vom 29.07.2009 - XI B 24/09 (BFHE 226, 449) zu § 6a UStG in Bezug auf die sog. Missbrauchs-Rechtsprechung des EuGH noch ernstliche Zweifel bejaht hatte, sind diese inzwischen beseitigt worden (vgl. Senatsbeschluss vom 16.05.2019 - XI B 13/19, BFHE 264, 521, Rz 21, m.w.N.).
bb) Das FG hat den Sachverhalt in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise dahingehend gewürdigt, dass der Kläger hätte wissen müssen, dass er sich mit dem betreffenden Umsatz an einem Umsatz beteiligte, der in eine vom Lieferer oder von einem anderen Wirtschaftsteilnehmer auf einer vorhergehenden oder nachfolgenden Umsatzstufe der Lieferkette begangene Steuerhinterziehung einbezogen war.
(1) Dabei machte sich das FG die Feststellungen der polnischen Steuerbehörden zu eigen, nach denen B ‑‑abgesehen von einem Zwischenzeitraum im Jahr 2012‑‑ nicht als umsatzsteuerrechtlicher Unternehmer registriert war, keine Steuererklärungen und/oder Zusammenfassende Meldungen abgegeben hatte und als sog. Missing Trader unter den bekannten Adressen nicht aufzufinden war. Es gelangte danach zu der Überzeugung, dass B den objektiven und subjektiven Tatbestand einer Steuerhinterziehung sowohl hinsichtlich des innergemeinschaftlichen Erwerbs, der allerdings durch den korrespondierenden Vorsteuerabzug nach der dem § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3 UStG entsprechenden polnischen Vorschrift kompensiert worden sei, als auch hinsichtlich der Weiterlieferung des Zuckers in Polen verwirklicht habe.
(2) Zu den der Bindung nach § 118 Abs. 2 FGO unterliegenden Feststellungen gehören auch die Schlussfolgerungen tatsächlicher Art des FG. Der BFH als Revisionsgericht kann solche Tatsachenwürdigungen nur daraufhin überprüfen, ob sie verfahrensfehlerfrei zustande gekommen sind und mit den Denkgesetzen und den allgemeinen Erfahrungssätzen im Einklang stehen. Ist das ‑‑wie hier‑‑ zu bejahen, ist die Tatsachenwürdigung selbst dann bindend, wenn sie nicht zwingend, sondern nur möglich wäre (vgl. z.B. BFH-Urteile in BFH/NV 2012, 1009, Rz 31, m.w.N.; vom 22.02.2017 - III R 9/16, BFHE 257, 135, BStBl II 2017, 698, Rz 20). Danach ist es revisionsrechtlich jedenfalls nicht zu beanstanden, dass das FG zu der Überzeugung gelangt ist, dass B in Polen im Zusammenhang mit den betreffenden innergemeinschaftlichen Lieferungen des Klägers Steuern hinterzogen hat.
(3) Wenn sich auf dieser Grundlage mittels Gesamtschau der Indizien für das FG ergab, dass der Kläger jedenfalls hätte wissen müssen, dass er sich mit den in Rede stehenden innergemeinschaftlichen Lieferungen an Umsätzen beteiligte, die in der Lieferkette in Steuerhinterziehungen einbezogen waren, ist dies revisionsrechtlich ebenso wenig zu beanstanden. Seine Schlussfolgerungen tatsächlicher Art hat das FG auf folgende Indizien gestützt: Keine Überprüfung der Umsatzsteuer-Identifikationsnummer des mutmaßlichen Abnehmers in Polen vor der Ausführung der Umsätze, Nichterfüllung der steuerlichen Pflichten durch anfängliche Nichtabgabe der Zusammenfassenden Meldungen und Nichtangabe innergemeinschaftlicher Lieferungen, Aufnahme einer neuen Geschäftsbeziehung in einem mit Blick auf seine bisherige unternehmerische Tätigkeit nicht vertrauten Geschäftsbereich mit einer Größenordnung von mehreren Mio. €, Überlassen der Abwicklung der Geschäfte an eine andere Person, monatliche Gewinnaussicht von rund 3.000 €, Rücklieferungen nach Polen und die zunächst unzutreffende Lieferanschrift Y in den Frachtbriefen.
(4) Dabei ist die vom FG getroffene Tatsachenwürdigung, auch wenn sie der Kläger für materiell rechtsfehlerhaft hält, jedenfalls möglich, ohne dass es darauf ankäme, ob ‑‑wie der Kläger im erstinstanzlichen Verfahren noch behauptet hat und dem FG nicht plausibel erschien‑‑ polnische Lieferanten ihren Großhandelspreis bei Lieferungen nach Deutschland auf das niedrigere deutsche Niveau absenken würden. Außerdem war dem Kläger bekannt, dass sich ‑‑wie er im Rahmen seiner Vernehmung durch die Steuerfahndung angegeben hat und was die Würdigung des FG stützt‑‑ der polnische Abnehmer durch die Lieferungen nach Deutschland und wieder zurück nach Polen die Mehrwertsteuer "sparen" könne. Als Unternehmer hätte er jedoch wissen müssen, dass die polnische Mehrwertsteuer nur zu umgehen war, soweit seine Rücklieferungen mit Steuerhinterziehungen des Erwerbers verknüpft waren.
c) Ob die Steuerbefreiung für innergemeinschaftliche Lieferungen auch deshalb zu versagen ist, weil ‑‑wie das FG außerdem meint‑‑ der Verstoß gegen die formellen Anforderungen den sicheren Nachweis verhindert hat, dass die materiellen Anforderungen der Steuerbefreiung erfüllt wurden, kann danach dahinstehen.
2. Darüber hinaus sind die streitgegenständlichen Lieferungen nicht nach § 6a Abs. 4 Satz 1 UStG steuerfrei. Diese Befreiung ist, wenn die sog. Missbrauchs-Rechtsprechung eingreift, ausgeschlossen.
a) Hat der Unternehmer eine Lieferung als steuerfrei behandelt, obwohl die Voraussetzungen des § 6a Abs. 1 Satz 1 UStG (a.F.) nicht vorliegen, ist die Lieferung gleichwohl als steuerfrei anzusehen, wenn die Inanspruchnahme der Steuerbefreiung auf unrichtigen Angaben des Abnehmers beruht und der Unternehmer die Unrichtigkeit dieser Angaben auch bei Beachtung der Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns nicht erkennen konnte (§ 6a Abs. 4 Satz 1 UStG). Dabei stellt sich die Frage des Gutglaubensschutzes allerdings erst dann, wenn der Unternehmer seinen Nachweispflichten ‑‑bezogen auf den Streitfall gemäß § 6a Abs. 3 UStG a.F. i.V.m. §§ 17a ff. UStDV a.F.‑‑ "ihrer Art nach" nachgekommen ist (vgl. BFH-Urteile vom 15.02.2012 - XI R 42/10, BFH/NV 2012, 1188, Rz 32; vom 22.07.2015 - V R 23/14, BFHE 250, 559, BStBl II 2015, 914, Rz 43; vom 13.06.2018 - XI R 20/14, BFHE 262, 174, BStBl II 2018, 800, Rz 64; vom 11.03.2020 - XI R 38/18, BFHE 268, 376, Rz 68; Senatsbeschluss vom 12.10.2018 - XI B 65/18, BFH/NV 2019, 129, Rz 12, jeweils m.w.N.).
b) Der Kläger kann die Steuerbefreiung unter dem Gesichtspunkt des Gutglaubensschutzes i.S. des § 6a Abs. 4 UStG selbst dann nicht beanspruchen, wenn er seinen Nachweispflichten nachgekommen wäre.
Denn die Frage, ob die "Sorgfalt eines ordentlichen Kaufmanns" beachtet wurde, ist durch eine Würdigung der tatsächlichen Umstände des jeweiligen Einzelfalls, ggf. nach Durchführung einer entsprechenden Beweisaufnahme, zu entscheiden (vgl. Senatsbeschlüsse vom 28.09.2009 - XI B 103/08, BFH/NV 2010, 73, Rz 5; in BFH/NV 2019, 129, Rz 11; Senatsurteil in BFHE 268, 376, Rz 71, m.w.N. zur EuGH-Rechtsprechung). Dabei ist schon die Nichtabfrage der Umsatzsteuer-Identifikationsnummer des Empfängers zeitnah zur ersten innergemeinschaftlichen Lieferung und darauffolgend in regelmäßigen Abständen während der laufenden Lieferbeziehung nach den Umständen des Einzelfalls als Sorgfaltspflichtverletzung anzusehen, die einen Vertrauensschutz nach § 6a Abs. 4 UStG ausschließt (vgl. Senatsurteil in BFHE 268, 376, Rz 62 ff.). Diese Voraussetzung ist im Hinblick auf die Anbahnung des Geschäftes und das ungewöhnliche Geschäftsmodell (einschließlich der "ad-hoc" hohen Umsätze und der unmittelbaren Rücklieferung nach Polen) erfüllt.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.