ECLI:DE:BFH:2021:B.260221.XB108.20.0
BFH X. Senat
AO § 122 Abs 2 Nr 1, FGO § 47 Abs 1, FGO § 96 Abs 1 S 1 Halbs 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 116 Abs 6
vorgehend Hessisches Finanzgericht , 23. September 2020, Az: 6 K 727/18
Leitsätze
1. NV: Die Drei-Tages-Bekanntgabefiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO findet nur dann Anwendung, wenn feststeht, wann der Verwaltungsakt durch die Finanzbehörde zur Post aufgegeben wurde. Hierzu bedarf es der vollen richterlichen Überzeugungsbildung (§ 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO).
2. NV: Versäumnisse des Steuerpflichtigen bei der Substantiierung seines Vorbringens zu einem von der Fiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO abweichenden späteren Zugang des Verwaltungsakts beeinflussen den Grad der Überzeugungsbildung über den Zeitpunkt der Postaufgabe des Verwaltungsakts nicht.
Tenor
Auf die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Hessischen Finanzgerichts vom 24.09.2020 - 6 K 727/18 aufgehoben.
Die Sache wird an das Hessische Finanzgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Tatbestand
I.
Der Beklagte und Beschwerdegegner (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) erließ unter dem Datum des 03.04.2018 eine gegenüber den Prozessbevollmächtigten des Klägers und Beschwerdeführers (Kläger) bekanntgegebene Einspruchsentscheidung, die einen Kanzlei-Posteingangsstempel des 10.04.2018 trägt. Die hiergegen gerichtete Klage ging am 11.05.2018, dem Christi Himmelfahrt nachfolgenden Werktag, beim Finanzgericht (FG) ein.
Der Kläger trug im Klageverfahren unter Benennung von Zeugen vor, dass Briefpost, die das Büro seiner Prozessbevollmächtigten erreiche, nach dortiger Weisungslage regelmäßig täglich dem Briefkasten entnommen und sogleich mit einem Eingangsstempel versehen werde; zudem werde der Eingang ‑‑wie auch im Streitfall geschehen‑‑ digital erfasst. Hierzu legte der Kläger Auszüge ("Screenshots") aus der digitalen Posteingangs- und Fristendokumentation sowie das analoge Fristenkontrollbuch für den 09.05.2018 vor. Das FA trug vor, die Einspruchsentscheidung sei am 29.03.2018 (Gründonnerstag) von der zuständigen Sachgebietsleiterin unterzeichnet und durch diese noch am selben Tag der internen Poststelle übergeben worden. Im Hinblick auf die anstehenden Osterfeiertage und des zu erwartenden erhöhten Postaufkommens sei als Absendedatum bewusst der erste Werktag nach Ostern (03.04.2018) vermerkt worden.
Das FG hielt die Klage für verfristet und daher für unzulässig. Der Kläger habe keinen schlüssigen und substantiierten Sachverhalt vorgebracht, der es erlaube, von einer Bekanntgabe außerhalb der gesetzlichen Drei-Tages-Fiktion auszugehen. Hiergegen richtet sich die Nichtzulassungsbeschwerde des Klägers, der das FA entgegentritt.
Entscheidungsgründe
II.
Die Beschwerde ist begründet. Das Urteil der Vorinstanz ist aufzuheben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückzuverweisen (§ 116 Abs. 6 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Es liegt ein vom Kläger geltend gemachter Verfahrensfehler vor, auf dem die angefochtene Entscheidung beruhen kann (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO).
1. Ein Verfahrensmangel ist u.a. dann gegeben, wenn dem angefochtenen Urteil eine fehlerhafte Handhabung der für den Lauf der Klagefrist gemäß § 47 Abs. 1 FGO maßgeblichen Bekanntgabenorm zugrunde liegt (Beschlüsse des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 06.07.1988 - II B 183/87, BFHE 153, 509, BStBl II 1988, 897; vom 21.12.2001 - VIII B 132/00, BFH/NV 2002, 661, unter 1.; vom 30.11.2006 - XI B 13/06, BFH/NV 2007, 389, unter 3.a).
Dies ist vorliegend der Fall. Das FG hat die Vorschrift des § 122 Abs. 2 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO) insoweit rechtsfehlerhaft angewandt, als es die hierfür geltenden Regelungen über die Verteilung der Darlegungs- und Beweislasten verkannt hat. Aus diesem Grund könnte das FG ‑‑was im zweiten Rechtsgang zu klären sein wird‑‑ zu Unrecht durch Prozess- anstelle durch Sachurteil entschieden haben.
a) Gemäß § 122 Abs. 2 Nr. 1 Halbsatz 1 AO gilt ein schriftlicher Verwaltungsakt, der durch die Post übermittelt wird, am dritten Tag nach der Aufgabe zur Post als bekannt gegeben, außer wenn er nicht oder ‑‑was im Streitfall in Betracht kommt‑‑ zu einem späteren Zeitpunkt zugegangen ist.
aa) Durch die höchstrichterliche Rechtsprechung ist hinreichend geklärt, dass ein Steuerpflichtiger, der nicht den Zugang des Verwaltungsakts an sich bestreitet, sondern lediglich behauptet, ihn nicht innerhalb des Drei-Tages-Zeitraums des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO erhalten zu haben, sein Vorbringen im Rahmen des Möglichen zu substantiieren hat, um Zweifel an der gesetzlichen Bekanntgabefiktion zu begründen. Er muss Tatsachen vortragen, die den Schluss zulassen, dass ein anderer Geschehensablauf als der typische ‑‑Zugang binnen dreier Tage nach Aufgabe zur Post‑‑ ernstlich in Betracht zu ziehen ist (statt vieler BFH-Urteil vom 14.06.2018 - III R 27/17, BFHE 262, 193, BStBl II 2019, 16, Rz 9, m.w.N.). Kommt der Steuerpflichtige dieser Substantiierungspflicht nach, hat das FG den Zeitpunkt des Zugangs des Verwaltungsakts gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO nach seiner freien, aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnenen Überzeugung festzustellen; beweisbelastet ist die Behörde (§ 122 Abs. 2 Nr. 1 Halbsatz 2 AO).
bb) Geklärt ist ebenso, dass die Drei-Tages-Bekanntgabefiktion nur dann eingreift, wenn feststeht, wann der mit einfachem Brief übersandte Verwaltungsakt tatsächlich zur Post aufgegeben worden ist (u.a. BFH-Beschluss vom 26.02.2020 - VIII B 56/19, BFH/NV 2020, 1074, Rz 8, m.w.N.; Klein/Ratschow, AO, 15. Aufl., § 122 Rz 58). Im Hinblick darauf, dass dieser Zeitpunkt allein dem Wissens- und Verantwortungsbereich der Finanzbehörde zuzuordnen ist, bedarf es insoweit keines substantiierten Bestreitens durch den Steuerpflichtigen. Lässt sich das Datum der Aufgabe zur Post nicht zur vollen Überzeugung des Gerichts feststellen, ist die Fiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO nicht anwendbar (BFH-Urteil vom 09.12.2009 - II R 52/07, BFH/NV 2010, 824, unter II.2.b aa).
b) Diesen rechtlichen Erwägungen ist das FG in der angefochtenen Entscheidung zwar grundsätzlich gefolgt. Allerdings geht es verfahrensfehlerhaft davon aus, dass eine volle gerichtliche Überzeugungsbildung über den Zeitpunkt der Aufgabe zur Post nur dann erforderlich sei, wenn der Steuerpflichtige seiner Substantiierungslast hinsichtlich eines verspäteten Zugangs des Verwaltungsakts nachgekommen sei. Ein solcher Rechtssatz ist insbesondere nicht der vom FG in diesem Zusammenhang zitierten BFH-Entscheidung V B 169/06 (Beschluss vom 16.05.2007, BFH/NV 2007, 1454) zu entnehmen. Vielmehr betrifft die Rechtsprechung, derzufolge nicht jedes beliebige Bestreiten des Zugangszeitpunkts die Fiktion des § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO außer Kraft setzt, sondern der Steuerpflichtige einen verspäteten Zugang schlüssig darlegen muss, ausschließlich Fälle, in denen der Postaufgabetag feststeht und sich deshalb Beginn und Ende der Drei-Tages-Frist bestimmen lassen (BFH-Urteil in BFH/NV 2010, 824, unter II.2.b aa). Demzufolge beeinflussen etwaige Versäumnisse des Steuerpflichtigen bei der Substantiierung des Zeitpunkts des Zugangs des Verwaltungsakts nicht den Grad der gerichtlichen Überzeugungsbildung für dessen Aufgabe zur Post; beide für die Anwendung von § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO maßgeblichen Ereignisse sind unabhängig voneinander zu beurteilen.
c) Der Senat hält es für angezeigt, gemäß § 116 Abs. 6 FGO zu verfahren, um dem FG eine am Maßstab des § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO auszurichtende Würdigung dazu zu ermöglichen, ob der vom FA bislang mitgeteilte Sachverhalt zur Übergabe der Einspruchsentscheidung an die interne Poststelle der Behörde überhaupt den Schluss zulässt, dass die Entscheidung ‑‑wie behauptet‑‑ tatsächlich am 03.04.2018 zur Post aufgegeben wurde. Sollte dies nicht der Fall sein, bliebe für die Anwendung von § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO kein Raum. Sollte dies dagegen zu bejahen sein, dürfte das FG ‑‑erneut‑‑ zu berücksichtigen haben, dass an die Substantiierung eines abweichend zu § 122 Abs. 2 Nr. 1 AO späteren Zugangs des Verwaltungsakts keine allzu hohen Anforderungen zu stellen sind. Keinesfalls dürfen die Erfordernisse an einen substantiierten Tatsachenvortrag letztlich dazu führen, die Regelung über die objektive Beweislast, die nach dem Gesetz die Finanzbehörde trifft, zu Lasten des Steuerpflichtigen umzukehren (BFH-Urteil vom 03.05.2001 - III R 56/98, BFH/NV 2001, 1365, unter II.1., m.w.N.). Insofern könnte das FG erneut in den Blick nehmen, dass sich der bisherige Sachvortrag des Klägers nicht auf das Datum des Kanzlei-Eingangsstempels seiner Prozessbevollmächtigten beschränkte, sondern er darüber hinaus u.a. eine Terminsdokumentation aus der elektronisch geführten Mandantenakte und einen Auszug aus dem analogen Fristenkontrollbuch vorgelegt hat. Das dort jeweils ausgewiesene Datum des 09.05.2018 dürfte vor dem Hintergrund des nachfolgenden gesetzlichen Feiertags jedenfalls nicht ohne Weiteres ungeeignet sein, einen Rückschluss auf den vom Kläger behaupteten Zeitpunkt des Zugangs der Einspruchsentscheidung zuzulassen.
2. Über die weiteren vom Kläger geltend gemachten Revisionszulassungsgründe musste der Senat nicht mehr befinden.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.