ECLI:DE:BFH:2021:B.050221.VIIIB70.20.0
BFH VIII. Senat
FGO § 47 Abs 1 S 1, FGO § 55 Abs 2 S 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, AO § 164 Abs 4 S 1, AO § 164 Abs 2, FGO § 96 Abs 1 S 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 1
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg , 17. May 2020, Az: 7 K 7090/18
Leitsätze
NV: Eine der Einspruchsentscheidung beigefügte Rechtsbehelfsbelehrung ist nicht unrichtig i.S. des § 55 Abs. 2 Satz 1 FGO, wenn darin ausgeführt wird, gegen die Entscheidung könne nur Klage beim FG erhoben werden, und das FA in der Einspruchsentscheidung sowohl über den Einspruch entschieden als auch den Vorbehalt der Nachprüfung aufgehoben hat.
Tenor
Die Beschwerde des Klägers wegen Nichtzulassung der Revision gegen das Urteil des Finanzgerichts Berlin-Brandenburg vom 18.05.2020 - 7 K 7090/18 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Beschwerdeverfahrens hat der Kläger zu tragen.
Gründe
Die Beschwerde ist unbegründet.
Die Voraussetzungen der vom Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) dargelegten Zulassungsgründe gemäß § 115 Abs. 2 Nrn. 1 bis 3 der Finanzgerichtsordnung (FGO) sind jeweils nicht erfüllt.
1. Die vom Kläger i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO geltend gemachten Verfahrensfehler des Finanzgerichts (FG) liegen nicht vor.
a) Wird wie im Streitfall eine Nichtzulassungsbeschwerde damit begründet, das FG habe zu Unrecht durch Prozessurteil entschieden, weil es unzutreffenderweise von einer Versäumung der Klagefrist ausgegangen sei, liegt darin die Rüge eines Verfahrensmangels (Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 01.06.2011 - IV B 33/10, BFH/NV 2011, 1888, Rz 17, 18). Das FG hat die Klage im Streitfall jedoch zu Recht als erst nach Ablauf der Klagefrist gemäß § 47 Abs. 1 Satz 1 FGO erhoben angesehen und durch Prozessurteil abgewiesen.
aa) Die Frist zur Erhebung einer Anfechtungsklage beträgt nach § 47 Abs. 1 Satz 1 FGO einen Monat. Voraussetzung dafür ist, dass der Beteiligte über den Rechtsbehelf, das zuständige Gericht und die einzuhaltende Frist nach § 55 Abs. 1 FGO zutreffend belehrt worden ist. Ist die Belehrung unterblieben oder unrichtig erteilt, so ist die Einlegung des Rechtsbehelfs grundsätzlich innerhalb eines Jahres seit Bekanntgabe zulässig (§ 55 Abs. 2 Satz 1 FGO). Sie ist unrichtig, wenn sie in einer der gemäß § 55 Abs. 1 FGO wesentlichen Aussagen unzutreffend bzw. derart unvollständig oder missverständlich gefasst ist, dass hierdurch ‑‑bei objektiver Betrachtung‑‑ die Möglichkeit zur Fristwahrung gefährdet erscheint. Ob das der Fall ist, bestimmt sich danach, wie der Erklärungsempfänger die Rechtsbehelfsbelehrung oder ergänzende Angaben nach Treu und Glauben und unter Berücksichtigung der ihm bekannten Umstände verstehen musste, wobei Unklarheiten oder Mehrdeutigkeiten zu Lasten der Behörde gehen (BFH-Beschluss in BFH/NV 2011, 1888, Rz 24; Senatsbeschluss vom 26.05.2010 - VIII B 228/09, BFH/NV 2010, 2080, Rz 14, zu über den gesetzlich erforderlichen Mindestinhalt hinausgehenden missverständlichen Informationen).
bb) Im Streitfall war die Rechtsbehelfsbelehrung nach diesem Maßstab nicht unrichtig. Sie enthielt die nach der Rechtsprechung des BFH (Urteile vom 03.09.2009 - IV R 17/07, BFHE 227, 293, BStBl II 2010, 631, unter B.I.1.; vom 04.08.1983 - IV R 216/82, BFHE 139, 135, BStBl II 1984, 85) zutreffende Aussage, dass der Kläger zur Fristwahrung die Entscheidung (die durch die Einspruchsentscheidung für vorbehaltlos erklärten Steuerfestsetzungen der Streitjahre) nur innerhalb der Klagefrist mit der Klage anfechten konnte. Dass die Rechtsbehelfsbelehrung nicht auch den gesonderten Hinweis enthielt, der Kläger müsse bei Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung im Rahmen einer Einspruchsentscheidung auch insoweit unmittelbar Klage erheben und könne nach Ablauf der Klagefrist nicht mehr gemäß § 164 Abs. 4 Satz 1 i.V.m. Abs. 2 der Abgabenordnung (AO) eine Änderung der Bescheide beantragen, führt weder zu einer unzutreffenden noch zu einer unvollständigen oder missverständlichen Rechtsbehelfsbelehrung, die die Möglichkeit des Klägers zur Fristwahrung gefährdet hätte. Der Kläger musste nach der Rechtsbehelfsbelehrung vielmehr davon ausgehen, dass es der Klageerhebung bedurfte, um die Einkommensteuerfestsetzungen der Streitjahre "offen" zu halten.
cc) Soweit der Kläger geltend macht, das BFH-Urteil in BFHE 227, 293, BStBl II 2010, 631 verhalte sich zu der hier streitigen Frage der richtigen Rechtsbehelfsbelehrung gemäß § 55 FGO nicht und Stellen aus dem Schrifttum anführt, führt dies zu keiner anderen Beurteilung. Der Senat vermag der vom Kläger zitierten Kommentierung von Seer in Tipke/Kruse, § 164 AO Rz 54, 59 nur zu entnehmen, dass dieser den Aussagen des BFH-Urteils in BFHE 227, 293, BStBl II 2010, 631 zustimmt; die vom Kläger angeführte Aussage in Rz 47 der Kommentierung äußert sich hingegen nur zur Aufhebung des Vorbehalts außerhalb einer Einspruchsentscheidung. Gleiches gilt für die aktuelle Kommentierung von Heuermann in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 164 AO Rz 122 (Stand 08/2019). Die vom Kläger zitierte Fundstelle ist überholt.
b) Der vom Kläger gerügte Verstoß des FG gegen das Gebot, nicht auf der Grundlage des Gesamtergebnisses des Verfahrens (§ 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO) entschieden zu haben, weil es sich nicht mit sämtlichen Rechtsausführungen des Klägers befasst habe, ist nicht gegeben.
aa) Das Gericht entscheidet gemäß § 96 Abs. 1 Satz 1 Halbsatz 1 FGO nach seiner Überzeugung, die es aus dem Gesamtergebnis des Verfahrens gewonnen hat. Hierzu zählen insbesondere die Schriftsätze der Beteiligten, ihr Vorbringen in der mündlichen Verhandlung sowie in einem etwaigen Erörterungstermin, ihr Verhalten, die den Streitfall betreffenden Steuerakten, beigezogene Akten eines anderen Verfahrens, vom Gericht eingeholte Auskünfte, Urkunden und die aufgrund einer ggf. durchgeführten Beweisaufnahme gewonnenen Beweisergebnisse. Auch offenkundige und gerichtsbekannte Tatsachen sind zu berücksichtigen. Hieraus folgt, dass das Gericht weder Umstände, die zum Gegenstand des Verfahrens gehören, ohne zureichenden Grund ausblenden noch seine Überzeugung auf Umstände gründen darf, die nicht zum Gegenstand des Verfahrens zählen. Es darf auch nicht von einem entscheidungserheblichen Sachverhalt ausgehen, der in den Akten keine Stütze findet oder der nicht durch ausreichende tatsächliche Feststellungen getragen wird (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 23.04.2020 - X B 156/19, BFH/NV 2020, 1077, Rz 10, 11; Senatsbeschluss vom 05.06.2020 - VIII B 38/19, BFH/NV 2020, 1267, Rz 3).
bb) Ein Verstoß gegen § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO liegt hingegen nicht bereits deshalb vor, weil das FG den ihm vorliegenden Akteninhalt nicht entsprechend den klägerischen Vorstellungen würdigt oder die Würdigung des FG fehlerhaft erscheint. Insoweit handelt es sich um materiell-rechtliche Fehler, nicht um einen Verfahrensverstoß (vgl. z.B. Senatsbeschlüsse vom 02.01.2019 - VIII B 131/18, BFH/NV 2019, 286, Rz 8; vom 24.04.2007 - VIII B 251/05, BFH/NV 2007, 1521, m.w.N.).
cc) Das FG ist in der angefochtenen Entscheidung, in der es sich gemäß § 90a Abs. 4 FGO auf den zuvor ergangenen Gerichtsbescheid gestützt hat, der Rechtsansicht des Klägers nicht gefolgt. Es hat jedoch die in den Schriftsätzen des Klägers vom 16. und 17.05.2020 geäußerte Rechtsansicht zur Kenntnis genommen, mit den Beteiligten in der mündlichen Verhandlung vom 18.05.2020 ausweislich der Niederschrift die Sach- und Rechtslage erörtert und seiner Entscheidungsfindung zugrunde gelegt. Dass es dem Kläger inhaltlich nicht gefolgt ist, ist nicht verfahrensfehlerhaft.
2. Soweit der Kläger geltend macht, der Streitfall werfe Rechtsfragen von grundsätzlicher Bedeutung gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO auf, ist die Revision ebenfalls nicht zuzulassen.
Der Kläger wirft sinngemäß die Frage auf, ob die für eine Einspruchsentscheidung typischerweise verwendete Rechtsbehelfsbelehrung auch dann wortgleich verwendet werden kann, wenn mit der Abweisung des Einspruchs gleichzeitig eine Aufhebung des Vorbehalts der Nachprüfung einhergeht, oder ob in diesem Fall auf die erforderliche Klageerhebung (statt einer Einspruchserhebung) zur Vermeidung eines Rechtsverlusts gesondert hinzuweisen ist.
Diese Rechtsfrage ist jedoch nicht abstrakt zu beantworten und daher nicht klärungsfähig. Denn über die Unvollständigkeit einer Rechtsbehelfsbelehrung ist nach dem unter 1.a aa dargelegten Maßstab jeweils im Einzelfall zu entscheiden. Die aufgeworfene Rechtsfrage ist auch nicht entscheidungserheblich und klärungsbedürftig, denn der Kläger hat innerhalb der Einspruchsfrist keinen Einspruch gegen die Aufhebung des Vorbehalts erhoben, sondern erst deutlich später die Änderung der Bescheide der Streitjahre gemäß § 164 Abs. 2 AO beantragt.
3. Schließlich sind in Ermangelung einer dargelegten klärungsfähigen und klärungsbedürftigen Rechtsfrage auch die Voraussetzungen für eine Zulassung gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 2 Alternative 1 FGO nicht gegeben. Eine solche ist aber erforderlich, da es sich bei diesem Zulassungsgrund um einen Spezialfall des Zulassungsgrundes der grundsätzlichen Bedeutung gemäß § 115 Abs. 2 Nr. 1 FGO handelt (vgl. Senatsbeschluss vom 13.12.2018 - VIII B 114/18, BFH/NV 2019, 385, Rz 3).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.