ECLI:DE:BFH:2020:U.090920.IIIR37.19.0
BFH III. Senat
EStG § 66 Abs 3, EGV 883/2004 Art 81, GG Art 3 Abs 1, DA-KG 2018 Abschn V10 Abs 3, EStG VZ 2017
vorgehend FG Nürnberg, 07. May 2019, Az: 3 K 193/19
Leitsätze
1. NV: § 66 Abs. 3 EStG i.d.F. des StUmgBG betrifft nicht das Erhebungs-, sondern das Festsetzungsverfahren (Bestätigung des Senatsurteils vom 19.02.2020 - III R 66/18, BStBl II 2020, 704).
2. NV: Die Verwaltungsanweisung in V 10 Abs. 3 DA-KG 2018, wonach Kindergeld für "Zeiträume, die über den Sechs-Monats-Zeitraum des § 66 Abs. 3 EStG zurückreichen, nur festgesetzt werden (soll), wenn die Familienkasse das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen für den Anspruch auf Kindergeld ohne weitere Sachverhaltsaufklärung feststellen kann bzw. bei erkennbarem Interesse des Berechtigten", beruht auf einem Rechtsirrtum und begründet keinen Anspruch auf die Festsetzung von Kindergeld für länger zurückliegende Zeiträume.
3. NV: Die fristwahrende Weiterleitung eines Kindergeldantrages nach Art. 81 der VO Nr. 883/2004 kommt für Anträge, die vor deren Inkrafttreten am 01.05.2010 eingegangen sind, nicht in Betracht.
Tenor
Die Revision der Klägerin gegen das Urteil des Finanzgerichts Nürnberg vom 08.05.2019 - 3 K 193/19 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Tatbestand
I.
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin), eine rumänische Staatsangehörige mit Wohnsitz in Rumänien, ist Mutter eines im November 2006 geborenen und in Rumänien lebenden Sohnes (S). Im Jahr 2017 wohnte sie auf dem E-Hof in P und bezog dort für den Zeitraum vom 24.04.2017 bis 30.11.2017 steuerpflichtigen Arbeitslohn. Zu ihrem Einkommensteuerbescheid für 2017 vom 22.06.2018 erläuterte das Finanzamt, die Veranlagung sei nach § 1 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) durchgeführt worden.
Die Klägerin beantragte im Februar 2018 Kindergeld für S für die Jahre 2016 und 2017. Dem Antrag war eine Geburtsbescheinigung des S und der von der rumänischen Familienkasse am 20.02.2018 abgezeichnete Antrag E411 beigefügt.
Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) setzte Kindergeld mit Bescheid vom 31.08.2018 lediglich für die Monate August 2017 bis November 2017 fest. Dazu teilte sie der Klägerin mit, dass aufgrund der Änderung des § 66 Abs. 3 EStG nach dem 31.12.2017 eingehende Anträge rückwirkend nur noch zu einer Nachzahlung für die letzten sechs Kalendermonate vor dem Eingang des Antrages führten. Da für Zeiträume vor August 2017 keine Auszahlung des Kindergeldes erfolgen könne, werde auf eine Festsetzung des Kindergeldes verzichtet.
Einspruch und Klage hatten keinen Erfolg.
Zur Begründung ihrer Revision trägt die Klägerin vor, das Bundeszentralamt für Steuern (BZSt) habe als zuständige Fachaufsichtsbehörde der Familienkassen ausgeführt, dass die Festsetzung von Kindergeld für Zeiträume, die über den Sechs-Monats-Zeitraum des § 66 Abs. 3 EStG zurückreichten, erfolgen solle, wenn die Familienkasse das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen ohne weitere Sachverhaltsaufklärung feststellen könne oder ein erkennbares Interesse des Berechtigten bestehe. Dem Prozessbevollmächtigten seien mehrere hundert Fälle bekannt, in denen eine Festsetzung entsprechend der Weisungslage erfolgt sei; die Familienkasse habe dem nicht widersprochen. Es sei anerkannt, dass Verwaltungsvorschriften, die zu einer ständigen Verwaltungsübung führten, über den Gleichheitssatz auch Außenwirkung entfalten könnten, also den Steuerbürger berechtigen und die Gerichte verpflichten. Das Finanzgericht (FG) habe insoweit nicht nur zu Unrecht eine Bindungswirkung abgelehnt, sondern sich auch nicht mit dem Umstand auseinandergesetzt, dass die Familienkasse im streitgegenständlichen Fall sogar während des laufenden Verfahrens Kindergeld mit Bescheid vom 26.04.2019 für den vorhergehenden Beschäftigungszeitraum von Juni 2016 bis November 2016 festgesetzt habe.
Das FG sei auch zu Unrecht davon ausgegangen, dass der im Heimatland gestellte Antrag im Hinblick auf § 66 Abs. 3 EStG nur berücksichtigt werden könne, wenn hinsichtlich dieses Antrages eine Weiterleitung wegen Zusammentreffens von Familienleistungen mehrerer Mitgliedstaaten in Betracht kommen könne. Dies sei mit der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union ‑‑ABlEU‑‑ 2004 Nr. L 166, S. 1) ‑‑VO Nr. 883/2004‑‑ bzw. der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) nicht vereinbar. Ausreichend sei, dass überhaupt ein Kindergeldantrag gestellt worden sei; das gelte auch für Unterschiedsbeträge.
§ 66 Abs. 3 EStG sei zudem verfassungswidrig, da das Kindergeld bei der Einkommensteuerveranlagung auch dann berücksichtigt werde, wenn es nicht ausgezahlt worden sei; Eltern erhielten dann keine steuerliche Entlastung für ihre Kinder. Das FG habe sich mit dieser Frage nicht befasst und ohne nähere Begründung ausgeführt, dass die steuerliche Verschonung des Existenzminimums im laufenden Jahr durch das antragsgemäße Kindergeld erfolgt sei. Das FG habe schließlich auch nicht die versteckte europarechtswidrige Diskriminierung erkannt, die darin bestehe, dass sie ‑‑die Klägerin‑‑, die in Rumänien einen Kindergeldantrag gestellt habe, schlechter gestellt werde als ein Inländer, der in der Bundesrepublik Deutschland einen Kindergeldantrag gestellt habe. Das Erfordernis einer Antragstellung im Inland begründe somit eine versteckte Ungleichbehandlung.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das FG-Urteil und die Einspruchsentscheidung aufzuheben und die Familienkasse zu verurteilen, den Bescheid vom 31.08.2018 dahin zu ändern, dass Kindergeld für S für die Monate April bis Juli 2017 in Höhe des gesetzlichen Kindergeldes abzüglich der rumänischen Familienleistungen in Höhe von monatlich 17,71 € festgesetzt wird.Die Familienkasse beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision der Klägerin ist unbegründet und nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Das FG hat zu Recht erkannt, dass Kindergeld für die Monate April bis Juli 2017 nicht festzusetzen war.
1. Das FG ist zutreffend davon ausgegangen, dass § 66 Abs. 3 EStG i.d.F. des Gesetzes zur Bekämpfung der Steuerumgehung und zur Änderung weiterer steuerlicher Vorschriften (Steuerumgehungsbekämpfungsgesetz ‑‑StUmgBG‑‑ vom 23.06.2017, BGBl I 2017, 1682) nicht das Erhebungs-, sondern das Festsetzungsverfahren betrifft und die Festsetzung von Kindergeld auf einen Zeitraum von sechs Monaten vor Antragstellung begrenzt (Senatsurteil vom 19.02.2020 - III R 66/18, BStBl II 2020, 704).
2. § 66 Abs. 3 EStG ist nicht verfassungswidrig.
a) Soweit das Kindergeld der Förderung der Familie dient (§ 31 Satz 2 EStG), ist es nicht zu beanstanden, dass der Gesetzgeber dem Steuerpflichtigen die Obliegenheit auferlegt, Kindergeld innerhalb von sechs Monaten nach Entstehung des Anspruchs zu beantragen (Avvento in Kirchhof, 17. Aufl., § 31 Rz 18). Daher verstieß die Ausschlussfrist des § 66 Abs. 3 EStG i.d.F. des Jahressteuergesetzes 1996 nicht gegen Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG), soweit lediglich die Funktion des Kindergeldes zur Förderung der Familie betroffen war (Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 06.11.2003 - 2 BvR 1240/02, Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2004, 260, Rz 13). Das ist auf die im Streitfall anzuwendende wortgleiche Fassung des § 66 Abs. 3 EStG zu übertragen.
b) Der Anspruch auf Kindergeld wird nach dem Wortlaut des § 31 EStG a.F. auch dann in die Günstigerprüfung einbezogen, wenn das Kindergeld wegen nicht rechtzeitiger Antragstellung aufgrund der Regelung des § 66 Abs. 3 EStG nicht festgesetzt oder nicht ausgezahlt wurde. Die daraus im Hinblick auf die durch Art. 6 GG gebotene Steuerfreistellung des Existenzminimums des Kindes möglicherweise resultierende Verfassungswidrigkeit wäre aber nicht durch eine Nichtanwendung des § 66 Abs. 3 EStG zu beseitigen, sondern z.B. dadurch, dass § 31 EStG geändert oder verfassungskonform so ausgelegt wird, dass nur gezahltes Kindergeld (so § 31 Satz 4 EStG bis zur Änderung durch das Steueränderungsgesetz 2003) berücksichtigt wird oder dass wegen § 66 Abs. 3 EStG nicht festgesetztes oder nicht gezahltes Kindergeld bei der Günstigerprüfung unberücksichtigt bleibt (so das Hessische FG, Urteil vom 17.09.2019 - 6 K 174/19, Entscheidungen der Finanzgerichte 2019, 1983, Revision unter III R 50/19 anhängig; ebenso Wendl, Deutsches Steuerrecht 2018, 2065, 2070; Blümich/Selder, § 31 EStG Rz 46; Wendl in Herrmann/Heuer/Raupach, § 31 EStG Rz 32). Dementsprechend bleibt nach aktueller Gesetzeslage gemäß § 31 Satz 5 EStG bei der Prüfung der Steuerfreistellung und der Hinzurechnung nach § 31 Satz 4 EStG der Anspruch auf Kindergeld für Kalendermonate unberücksichtigt, in denen durch Bescheid der Familienkasse Kindergeld festgesetzt, aber wegen § 70 Abs. 1 Satz 2 EStG nicht ausgezahlt wurde.
Die verfassungsrechtlichen Zweifel beziehen sich somit nicht auf die die rückwirkende Kindergeldfestsetzung beschränkende Regelung des § 66 Abs. 3 EStG, sondern auf § 31 EStG, über dessen Anwendung im Rahmen der Einkommensteuerveranlagung der Klägerin zu streiten wäre.
3. Die Vorschrift des § 66 Abs. 3 EStG ist nach § 52 Abs. 49a Satz 9 EStG auf Kindergeldanträge anzuwenden, die nach dem 31.12.2017 und vor dem 18.07.2019 eingehen.
a) Der Kindergeldantrag der Klägerin ist am 26.02.2018 ‑‑und damit in dem Zeitraum 31.12.2017 bis 17.07.2019‑‑ bei der Familienkasse eingegangen.
b) Nach Art. 81 der VO Nr. 883/2004 sind Anträge, Erklärungen oder Rechtsbehelfe einer in Anspruch genommenen Behörde unverzüglich der zuständigen Behörde eines anderen Mitgliedstaates zuzuleiten; der Tag des Eingangs gilt dann auch als Tag des Eingangs bei der zuständigen Behörde des anderen Mitgliedstaates. Der von der rumänischen Familienkasse am 20.02.2018 abgezeichnete Antrag E411, den die Klägerin ihrem Kindergeldantrag beigefügt hatte, ist indessen dort ebenfalls i.S. des § 52 Abs. 49a Satz 9 EStG im Zeitraum zwischen dem 31.12.2017 und dem 17.07.2019 eingegangen.
c) Ein vom FG nicht festgestellter, aber bei Geburt des S im Jahr 2006 wegen der Gewährung von Familienleistungen in Rumänien mutmaßlich dort gestellter Antrag auf Familienleistungen wäre kein Antrag auf deutsches Kindergeld i.S. des § 66 Abs. 3 EStG. Denn die die Sozialversicherungssysteme der Mitgliedstaaten der Europäischen Union koordinierende VO Nr. 883/2004 trat erst am 01.05.2010 in Kraft, so dass eine fristwahrende Weiterleitung nach Art. 81 der VO Nr. 883/2004 im Jahre 2006 noch nicht in Betracht kam. Da Rumänien erst am 01.01.2007 in die Europäische Union aufgenommen wurde, war es zudem im Zeitpunkt der Geburt des S ‑‑dem Zeitpunkt der denkbaren Antragstellung‑‑ noch kein anderer bzw. "erster" Mitgliedsstaat i.S. des Art. 81 der VO Nr. 883/2004.
4. Das FG war auch nicht im Hinblick auf von der Klägerin in Bezug genommene Anweisungen des BZSt oder andere Verwaltungsanweisungen aus Gründen der Selbstbindung der Verwaltung gehalten, gegen die Gesetzeslage Kindergeld für die Monate April bis Juli 2017 festzusetzen.
a) Die Verwaltung hat seinerzeit in V 10 Abs. 3 der Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz (DA-KG) 2018 die Auffassung vertreten, dass Kindergeld aufgrund eines Neuantrages "rückwirkend für Zeiträume, die über den Sechs-Monats-Zeitraum des § 66 Abs. 3 EStG zurückreichen, nur festgesetzt werden (soll), wenn die Familienkasse das Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen für den Anspruch auf Kindergeld ohne weitere Sachverhaltsaufklärung feststellen kann bzw. bei erkennbarem Interesse des Berechtigten".
Verwaltungsvorschriften sind indessen keine die Gerichte bindenden Rechtsnormen (Beschluss des Großen Senats des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 28.11.2016 - GrS 1/15, BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393, betreffend Sanierungserlass). Soweit sie jedoch eine ausreichende Rechtsgrundlage haben, der Gesetzeslage nicht widersprechen und Ermessenserwägungen der Finanzbehörden festschreiben, können sie die Finanzverwaltung unter dem Gesichtspunkt der Gleichbehandlung nach Art. 3 Abs. 1 GG binden (sog. Selbstbindung der Verwaltung, vgl. Beschluss des Bundesverwaltungsgerichts vom 11.05.1988 - 2 B 58/88, Neue Juristische Wochenschrift 1988, 2907) und einen auch von den Finanzgerichten zu beachtenden Rechtsanspruch der Steuerpflichtigen begründen, nach Maßgabe der Ermessensrichtlinie behandelt zu werden (Beschluss des Großen Senates des BFH in BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393; BFH-Urteil vom 23.04.1991 - VIII R 61/87, BFHE 164, 422, BStBl II 1991, 752). Art. 3 Abs. 1 GG vermittelt indessen keinen Anspruch auf Anwendung einer rechtswidrigen Verwaltungspraxis (ständige Rechtsprechung, z.B. Beschluss des Großen Senates des BFH in BFHE 255, 482, BStBl II 2017, 393; BFH-Urteil vom 07.10.2010 - V R 17/09, BFH/NV 2011, 865).
Da § 66 Abs. 3 EStG das Festsetzungs- und nicht das Erhebungsverfahren betrifft und die Festsetzung von Kindergeld für mehr als sechs Monate vor Antragstellung liegende Zeiträume hindert, beruht die in V 10 Abs. 3 DA-KG 2018 niedergelegte Verwaltungsauffassung auf einem Rechtsirrtum. Die von der Klägerin begehrte Festsetzung für frühere Monate ist ausgeschlossen; insoweit besteht kein Ermessen. Der Grundsatz der Selbstbindung der Verwaltung ist daher nicht einschlägig. Soweit die Klägerin sich auf eine entgegenstehende Verwaltungspraxis beruft, macht sie einen nicht bestehenden Anspruch auf eine rechtswidrige Verwaltungspraxis geltend.
b) Etwaige mit der Gesetzeslage nicht in Einklang stehenden Erlasse der Finanzverwaltung können auch keinen Vertrauenstatbestand begründen (BFH-Urteil vom 08.03.2007 - IV R 57/04, BFH/NV 2007, 1640, unter II.5.).
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.