ECLI:DE:BFH:2020:U.010720.IIIR13.19.0
BFH III. Senat
EStG § 62 Abs 1, EStG § 63 Abs 1 S 4, EGV 883/2004 Art 12 Abs 1, EGV 883/2004 Art 68 Art 1, EGV 883/2004 Art 68 Abs 2 S 3, EGV 987/2009 Art 60 Abs 1 S 2, EStG VZ 2012 , EStG VZ 2013 , EStG VZ 2014 , FGO § 60 Abs 3
vorgehend Sächsisches Finanzgericht , 05. June 2018, Az: 8 K 179/17 (Kg)
Leitsätze
NV: Die Wohnsitzfiktion des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kann bei Personen, die nach Deutschland entsandt wurden und deshalb nach Art. 12 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 weiterhin den Rechtsvorschriften ihres Heimatlandes unterliegen, dazu führen, dass der Anspruch auf deutsches (Differenz-)Kindergeld nicht dem nach Deutschland entsandten Elternteil zusteht, sondern dem im anderen Mitgliedstaat zusammen mit den Kindern in einem Haushalt lebenden anderen Elternteil.
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Sächsischen Finanzgerichts vom 06.06.2018 - 8 K 179/17 (Kg) aufgehoben.
Die Sache wird an das Sächsische Finanzgericht zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Verfahrens übertragen.
Tatbestand
I.
Streitig ist der Kindergeldanspruch für die Zeiträume Juli 2012 bis August 2012, November 2012 bis Juli 2014 und September bis November 2014.
Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist die Mutter eines im Jahr 2009 geborenen Sohnes (M). Sie hatte in den streitigen Zeiträumen weder einen Wohnsitz noch einen gewöhnlichen Aufenthalt in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) und wurde auch nicht nach § 1 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt.
Der Vater des M (V) war in den streitigen Zeiträumen bei Arbeitgebern mit Sitz in Polen beschäftigt und wurde von diesen nach Deutschland entsandt.
Die Klägerin beantragte am 16.01.2016 Kindergeld und fügte eine Bescheinigung eines deutschen Einwohnermeldeamtes bei, der zufolge der Kindsvater dort am 01.11.2012 eine Wohnung bezogen habe. Ferner legte sie deutsche Einkommensteuerbescheide des Kindsvaters vor.
Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte den Kindergeldantrag mit Bescheid vom 25.11.2016 ab. Der Einspruch blieb ohne Erfolg. In der Einspruchsentscheidung vom 26.01.2017 wies die Familienkasse darauf hin, dass die Wohnsitzfiktion nach Art. 67 Satz 1 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union ‑‑ABlEU‑‑ 2004 Nr. L 166, S. 1) ‑‑VO Nr. 883/2004 (Grundverordnung)‑‑ nicht zur Anwendung komme, da weder die Klägerin noch der Kindsvater als entsandter Arbeitnehmer dem deutschen Recht unterlägen.
Das Finanzgericht (FG) wies die dagegen gerichtete Klage ab.
Mit der hiergegen gerichteten Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts.
Die Klägerin beantragt sinngemäß,
das angefochtene Urteil sowie den Bescheid vom 25.11.2016 und die Einspruchsentscheidung vom 26.01.2017 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, zugunsten der Klägerin Kindergeld
für die Monate Juli bis August 2012 und November 2012 bis Oktober 2013 in Höhe des Unterschiedsbetrages zwischen dem deutschen Kindergeld und dem polnischen Kindergeld und
für die Monate November 2013 bis Juli 2014 sowie September bis November 2014 in gesetzlicher Höhe festzusetzen.Die Familienkasse beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des vorinstanzlichen Urteils und zur Zurückverweisung der Sache nach § 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO). Der Senat kann aufgrund der Feststellungen des FG nicht beurteilen, ob der Klägerin für die Monate Juli 2012 bis August 2012, November 2012 bis Juli 2014 und September bis November 2014 ein (Differenz-)Kindergeldanspruch zusteht.
1. Nach § 62 Abs. 1 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) setzt der Anspruch auf Kindergeld u.a. voraus, dass der Anspruchsteller im Inland einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt hat oder ohne Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt im Inland nach § 1 Abs. 2 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig ist oder nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wird. Diese Voraussetzungen lagen nach den Feststellungen des FG bei der in Polen wohnhaften Klägerin nicht vor.
2. Aufgrund der Anwendung europäischen Rechts könnte im Streitfall jedoch zu fingieren sein, dass die Klägerin einen Wohnsitz im Inland hatte oder als nach § 1 Abs. 3 EStG unbeschränkt einkommensteuerpflichtig behandelt wurde.
a) Nach Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnen würden. Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung ‑‑VO Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung)‑‑ ist bei der Anwendung von Art. 7 und 68 der VO Nr. 883/2004, insbesondere, was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen.
b) Nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) Trapkowski vom 22.10.2015 - C-378/14 (EU:C:2015:720, Leitsatz 1 und Rz 38 und 41) ergibt sich aus der in diesen beiden Bestimmungen enthaltenen Fiktion, dass eine Person Anspruch auf Familienleistungen auch für Familienangehörige erheben kann, die in einem anderen als dem für ihre Gewährung zuständigen Mitgliedstaat wohnen. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 kann daher dazu führen, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind. Voraussetzung der Wohnsitzfiktion ist daher nach der Rechtsprechung des EuGH, dass der Mitgliedstaat, in dem der Wohnsitz des in einem anderen Mitgliedstaat wohnenden Familienangehörigen fingiert wird, für die Erbringung der Familienleistungen zuständig ist. Rechtsfolge der Wohnsitzfiktion ist, dass ein Anspruch, der im für die Gewährung der Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaat begründet wurde, einer Person zustehen kann, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnt.
c) Dabei ist Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 nach dem EuGH-Urteil Moser vom 18.09.2019 - C-32/18 (EU:C:2019:752, Leitsatz 1 und Rz 45 ff.) dahin auszulegen, dass er sowohl in dem Fall Anwendung findet, dass die Leistung gemäß den als vorrangig bestimmten Rechtsvorschriften gewährt wird, als auch in jenem Fall, dass sie nach den Rechtsvorschriften eines nachrangig zuständigen Mitgliedstaats in Form eines Unterschiedsbetrags ausbezahlt wird.
3. Im Streitfall kann der Senat auf der Grundlage der Feststellungen des FG nicht entscheiden, ob die Voraussetzungen dafür vorliegen, dass Deutschland in Bezug auf den Kindsvater als vorrangig zuständiger Mitgliedstaat zur Gewährung des vollen Kindergelds oder als nachrangig zuständiger Mitgliedstaat zur Gewährung eines Differenzbetrages verpflichtet ist. Daher kann der Senat auch nicht darüber befinden, ob der Kindsvater der Klägerin eine entsprechende Anspruchsberechtigung vermitteln konnte.
a) Dazu wäre zunächst festzustellen, ob der Kindsvater die Anspruchsvoraussetzungen des § 62 Abs. 1 EStG erfüllte. Insbesondere wäre aufzuklären, ob der Kindsvater im Streitzeitraum einen Wohnsitz oder seinen gewöhnlichen Aufenthalt im Inland hatte oder vom zuständigen Finanzamt nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt wurde (§ 62 Abs. 1 Satz 1 EStG) und ob er die Identifikationsvoraussetzungen des § 62 Abs. 1 Satz 2 EStG erfüllte, soweit der zeitliche Anwendungsbereich der letztgenannten Vorschrift im Streitfall bereits eröffnet ist.
b) Erfüllt der Kindsvater die nationalen Anspruchsvoraussetzungen, ist zu prüfen, ob und gegebenenfalls inwieweit sein Anspruch durch vorrangige Ansprüche für dieselben Familienangehörigen in anderen Mitgliedstaaten ausgeschlossen wird. Dies bestimmt sich nach den Prioritätsregeln des Art. 68 der VO Nr. 883/2004, die daran anknüpfen, ob der jeweilige Anspruch durch eine Beschäftigung oder eine selbstständige Erwerbstätigkeit, durch den Bezug einer Rente oder durch den Wohnort ausgelöst wird.
aa) Insoweit ist zu berücksichtigen, dass für die Frage, was die Ansprüche i.S. des Art. 68 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 auslöst, darauf abzustellen ist, aufgrund welchen Tatbestands die berechtigte Person den Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats nach Art. 11 bis 16 der VO Nr. 883/2004 unterstellt ist (Senatsurteil vom 26.07.2017 - III R 18/16, BFHE 259, 98, BStBl II 2017, 1237, Rz 25). Im Streitfall hat das FG festgestellt, dass es sich bei dem Kindsvater um einen nach Deutschland entsandten Arbeitnehmer handelte. Als solcher unterlag der Kindsvater nach Art. 12 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 weiterhin den Rechtsvorschriften des Entsendestaats Polen, weshalb auch ein etwaiger Kindergeldanspruch in Deutschland nicht durch die Beschäftigung ausgelöst worden wäre. Sofern auch kein Rentenbezug in Deutschland festgestellt werden kann, wäre der Anspruch als durch den Wohnort ausgelöst anzusehen. Dies gilt auch für den Fall, dass der Anspruch nach nationalem Recht aufgrund einer fiktiven unbeschränkten Steuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG begründet wird. Denn auch dann kommt europarechtlich bei Fehlen einer Erwerbstätigkeit und eines Rentenbezugs nur eine Anspruchsauslösung durch den Wohnort in Betracht (Senatsurteil vom 22.02.2018 - III R 10/17, BFHE 261, 214, BStBl II 2018, 717, Rz 30).
bb) Weiter ist zu prüfen, ob dem Kindsvater selbst oder der Klägerin in Polen oder einem anderen Mitgliedstaat für dieselben Kinder und dieselben Streitzeiträume Ansprüche auf Familienleistungen zustehen. Dies ist zunächst durch Auskunftsersuchen an die jeweils zuständige Behörde des anderen Mitgliedstaats zu klären (s. dazu im Einzelnen Senatsurteil in BFHE 261, 214, BStBl II 2018, 717, Rz 25).
cc) Besteht ein solcher Anspruch in einem anderen Mitgliedstaat, ist der durch den Wohnort ausgelöste Kindergeldanspruch in Deutschland gemäß Art. 68 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 883/2004 nachrangig, wenn der Familienleistungsanspruch im anderen Mitgliedstaat durch eine Beschäftigung (insbesondere auch Entsendungstätigkeit) oder eine Erwerbstätigkeit oder durch den Bezug einer Rente ausgelöst wird. Wird der Anspruch im anderen Mitgliedstaat ebenfalls durch den Wohnort ausgelöst und ist dieser Mitgliedstaat ‑‑wie im Streitfall der Mitgliedstaat Polen‑‑ zugleich der Wohnort der Kinder, ist der Kindergeldanspruch in Deutschland nach Art. 68 Abs. 1 Buchst. b Ziff. iii der VO Nr. 883/2004 nachrangig.
dd) Im Falle der Nachrangigkeit des Kindergeldanspruchs in Deutschland wird dieser nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 1 der VO Nr. 883/2004 bis zur Höhe des nach den vorrangig geltenden Rechtsvorschriften vorgesehenen Betrags ausgesetzt. Der an sich nach Art. 68 Abs. 2 Satz 2 Halbsatz 2 der VO Nr. 883/2004 vorgesehene Differenzbetrag muss gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 allerdings nicht für Kinder gewährt werden, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, wenn der entsprechende Leistungsanspruch ausschließlich durch den Wohnort ausgelöst wird (Senatsurteil in BFHE 261, 214, BStBl II 2018, 717, Rz 28 f.). Diese Voraussetzungen wären im Streitfall erfüllt, da der Kindergeldanspruch in Deutschland nur durch den Wohnort ausgelöst worden wäre und die Kinder in Polen wohnen.
c) Würde der Kindsvater der Klägerin danach eine Berechtigung auf einen (Differenz-)Kindergeldanspruch vermitteln, müsste die Klägerin im zeitlichen Anwendungsbereich des § 62 Abs. 1 Satz 2 EStG zudem in eigener Person die nationalen Identitätsnachweisanforderungen erfüllen. Da aber davon auszugehen ist, dass der Gesetzgeber übersehen hat, dass für Anspruchsberechtigte mit europarechtlich fingiertem Wohnsitz/gewöhnlichem Aufenthalt oder mit europarechtlich fingierter fiktiv unbeschränkter Steuerpflicht nach § 1 Abs. 3 EStG keine Identifikationsnummer vergeben wird, bestünden keine Bedenken, für diesen Fall die Regelung des § 63 Abs. 1 Satz 4 EStG analog anzuwenden (ebenso Pust in Littmann/Bitz/Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 62 Rz 131). Eine Identifizierung könnte daher auch "in anderer geeigneter Weise" durchgeführt werden. Zudem müsste die Klägerin die nach § 64 Abs. 2, Abs. 3 EStG erforderlichen Voraussetzungen dafür erfüllen, dass ihr Kindergeldanspruch dem Kindergeldanspruch des Kindsvaters vorgeht.
3. Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG hat ‑‑aus seiner Sicht zu Recht‑‑ bislang keine ausreichenden Feststellungen zur Anspruchsberechtigung des Kindsvaters, zu konkurrierenden Ansprüchen in anderen Mitgliedstaaten und zu den von der Klägerin zu erfüllenden nationalen Anspruchsvoraussetzungen getroffen. Durch die Zurückverweisung erhält das FG die Gelegenheit, die insoweit erforderlichen Feststellungen nachzuholen.
4. Dem Antrag der Familienkasse, den Kindsvater nach § 174 Abs. 4 und 5 der Abgabenordnung zum Verfahren beizuladen, konnte nicht entsprochen werden. Ein solcher erstmalig im Revisionsverfahren gestellter Antrag ist unzulässig (Urteile des Bundesfinanzhofs vom 14.11.2007 - XI R 32/06, BFH/NV 2008, 385, Rz 32 f., und vom 11.01.2018 - X R 21/17, BFH/NV 2018, 529, Rz 9; Loose in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 174 AO Rz 55). Ein Fall der im Revisionsverfahren nach § 123 Abs. 1 Satz 2 FGO zulässigen notwendigen Beiladung (§ 60 Abs. 3 FGO) liegt nicht vor, wenn darüber gestritten wird, welcher der Elternteile nach § 64 EStG vorrangig und welcher nachrangig kindergeldberechtigt ist (Senatsbeschluss vom 16.08.2012 - III B 73/11, BFH/NV 2012, 1825, Rz 5, m.w.N.).
5. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG folgt aus § 143 Abs. 2 FGO.