ECLI:DE:BFH:2021:U.310821.IIIR10.20.0
BFH III. Senat
EStG §§ 31ff, EStG § 31, EStG §§ 62ff, EStG § 62 Abs 1 S 1 Nr 1, AO § 155 Abs 5, AO §§ 169ff, AO § 169, EGV 883/2004 Art 67 S 1, EGV 883/2004 Art 68 Abs 2 S 3, EGV 987/2009 Art 60 Abs 1 S 2, EStG § 32 Abs 1 Nr 1, EStG § 32 Abs 3, EStG § 63 Abs 1 S 1 Nr 1, EStG § 64 Abs 1, EStG § 64 Abs 2 S 1, EGV 987/2009 Art 60 Abs 1 S 3, AO § 171 Abs 3, EStG § 62 Abs 1 S 2, EStG VZ 2012 , EStG VZ 2013 , EStG VZ 2014 , EStG VZ 2015
vorgehend FG Münster, 09. December 2019, Az: 11 K 2529/18 Kg
Leitsätze
1. Ein Kindergeldantrag, der von einem im Inland lebenden, jedoch nur nachrangig berechtigten Elternteil gestellt worden ist, hemmt den Ablauf der Festsetzungsfrist und verhindert den Eintritt der Festsetzungsverjährung zugunsten des anderen, im EU-Ausland lebenden Elternteils, der vorrangig anspruchsberechtigt ist, aber zunächst keinen eigenen Kindergeldantrag gestellt hat.
2. Ein derartiger, vor dem 01.01.2016 gestellter Antrag macht die Beachtung der strengeren Identifizierbarkeitsanforderungen des § 62 Abs. 1 Satz 2 EStG n.F. entbehrlich.
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 10.12.2019 - 11 K 2529/18 Kg wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Beklagte zu tragen.
Tatbestand
I.
Im Revisionsverfahren ist streitig, ob das Finanzgericht (FG) die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) zu Recht verpflichtet hat, zugunsten der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) für die Zeit von Januar 2012 bis ... 2015 (Streitzeitraum) Kindergeld gemäß §§ 62 ff. des Einkommensteuergesetzes (EStG) für deren leibliche Tochter (T) festzusetzen.
Die Klägerin ist bulgarische Staatsangehörige und lebte im Streitzeitraum in der Hellenischen Republik (Griechenland). T lebte im Haushalt der Klägerin in Griechenland und ging dort zur Schule.
Die Klägerin erhielt für die laut Vorentscheidung am ... 1996 (wohl Schreibfehler) bzw. ausweislich des von der Vorentscheidung in Bezug genommenen FG-Urteils vom 13.12.2017 - 11 K 2502/16 Kg (nicht veröffentlicht ‑‑n.v.‑‑) am ... 1999 (dieses Datum wird auch in den Kindergeldakten genannt) geborene T in Griechenland keine Familienleistungen, da die Anspruchsvoraussetzungen nicht erfüllt waren. Die Klägerin war in Griechenland nicht erwerbstätig und bezog auch keine Rente.
Der im Streitzeitraum in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) lebende leibliche Vater (V) der T, ein griechischer Staatsangehöriger, war aufgrund eines Verkehrsunfalls erwerbsunfähig und erhielt vom Unfallgegner aus dessen Haftpflichtversicherung bis ... 2014 als Rente bezeichnete monatliche Geldleistungen und seit ... 2015 die gesetzliche Altersrente, weshalb die Familienkasse den Kindergeldanspruch der Klägerin ab ... 2015 anerkannte.
V stellte am 11.04.2013 einen Antrag auf Festsetzung von Kindergeld für T, der von der Familienkasse mit Bescheid vom 12.03.2015 abgelehnt wurde. Der am 24.03.2015 eingelegte Einspruch und die nach Ergehen der Einspruchsentscheidung am 24.06.2016 erhobene Klage des V hatten keinen Erfolg. Das FG hielt gemäß § 64 Abs. 1 EStG (allenfalls) die Klägerin, nicht aber den V, für anspruchsberechtigt (FG-Urteil vom 13.12.2017 - 11 K 2502/16 Kg, n.v.).
Mit Datum vom 04.07.2017 stellte die Klägerin einen Kindergeldantrag, den die Familienkasse mit Bescheid vom 28.06.2018 ablehnte. Deutschland sei gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29.04.2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union ‑‑ABlEU‑‑ 2004 Nr. L 166, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (VO Nr. 883/2004 ‑‑Grundverordnung‑‑) nicht zur Zahlung von Differenzkindergeld verpflichtet, weil der Kindergeldanspruch im Streitzeitraum nur auf dem Wohnsitz des V in Deutschland beruhe. Der bis ... 2014 in Raten ausgezahlte Schadensersatz sei keine Rente i.S. des Art. 68 Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 883/2004.
Auf die nach einem erfolglosen Einspruchsverfahren (Einspruchsentscheidung vom 27.07.2018) erhobene Klage der Klägerin hob das FG den ablehnenden Bescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung auf und verpflichtete die Familienkasse, zugunsten der Klägerin Kindergeld für das Kind T für den Zeitraum von Januar 2012 bis ... 2015 festzusetzen. Nach Ansicht des FG genügte es, dass V seinen Wohnsitz in Deutschland gehabt und den Tatbestand des § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG erfüllt habe. Der Wohnsitz der Klägerin in Deutschland werde nach dem einschlägigen europäischen Recht fingiert. Nach diesen Vorschriften vermittle V der Klägerin für T, die gleichfalls in einem Mitgliedstaat der Europäischen Union (EU) gelebt habe, aufgrund seines Wohnsitzes in Deutschland einen Anspruch auf Kindergeld nach den §§ 62 ff. EStG. Die Anspruchsvoraussetzungen der §§ 32, 62 ff. EStG seien auch im Übrigen erfüllt. Gemäß § 64 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 EStG sei das Kindergeld zugunsten der Klägerin ‑‑und nicht zugunsten des V‑‑ festzusetzen, weil sie die T im maßgeblichen Zeitraum in ihren Haushalt aufgenommen habe. Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004, welcher die Gewährung von Differenzkindergeld eines nachrangig verpflichteten Staats in den Fällen einer sog. "Wohnsitz-Wohnsitz-Konstellation", d.h. in den Fällen ausschließe, in denen der Kindergeldanspruch allein auf dem Wohnsitz beruhe, sei entgegen der Auffassung der Familienkasse nicht anwendbar, weil kein tatsächliches Zusammentreffen von Familienleistungen vorliege. Die Klägerin habe nur in Deutschland einen Kindergeldanspruch.
Hiergegen wendet sich die Familienkasse mit der Revision.
Die Familienkasse hält den Ausschlusstatbestand für Differenzkindergeld des Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 in einer "Wohnsitz-Wohnsitz-Konstellation" bereits dann für anwendbar, wenn in dem Mitgliedstaat, in dem der vorrangig Kindergeldberechtigte und das Kind ihren Wohnsitz hätten, im Allgemeinen Familienleistungen gewährt würden, auch wenn im konkreten Fall tatsächlich kein derartiger Anspruch bestehe.
Die Familienkasse beantragt, das Urteil des FG Münster vom 10.12.2019 - 11 K 2529/18 Kg aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist unbegründet und nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen. Das FG hat zutreffend entschieden, dass der Klägerin gemäß §§ 32, 62 ff. EStG i.V.m. Art. 67 f. der VO Nr. 883/2004 und Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16.09.2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) in der für den Streitzeitraum maßgeblichen Fassung (VO Nr. 987/2009 ‑‑Durchführungsverordnung‑‑) in dem vom FG zuerkannten Umfang Kindergeld zusteht.
1. Die Voraussetzungen für den Kindergeldanspruch der Klägerin gemäß § 32 Abs. 1 Nr. 1 und Abs. 3, § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 64 Abs. 1 und Abs. 2 Satz 1 EStG liegen vor. Das FG hat nach Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 insbesondere auch zutreffend einen inländischen Wohnsitz der Klägerin i.S. des § 62 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG fingiert.
a) Der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 und der dazu ergangenen VO Nr. 987/2009 ist eröffnet. Die Klägerin ist bulgarische Staatsangehörige, also Staatsangehörige eines Mitgliedstaats der EU, und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich dieser Verordnung. Das Kindergeld nach dem EStG ist eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004, weshalb gemäß Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 auch deren sachlicher Anwendungsbereich eröffnet ist (vgl. z.B. Senatsurteil vom 26.07.2017 - III R 18/16, BFHE 259, 98, BStBl II 2017, 1237, Rz 13).
b) Gemäß Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Mitgliedstaats. Gemäß Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist bei der Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004 die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als würden alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fallen und dort wohnen (vgl. dazu z.B. Senatsurteil vom 04.02.2016 - III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, Rz 11 ff. und Rz 18, jeweils m.w.N.; Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 13.07.2016 - XI R 7/15, BFH/NV 2016, 1722, Rz 21). Zu den "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 gehören die Familienangehörigen i.S. des Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i der VO Nr. 883/2004. Darunter sind insbesondere die Eltern und das Kind zu verstehen (vgl. auch Senatsurteile in BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, Rz 18, und vom 28.04.2016 - III R 40/12, BFH/NV 2016, 1469, Rz 22). Der Kindergeldanspruch gemäß §§ 62 ff. EStG kann somit z.B. auch einem Elternteil zustehen, der nicht in Deutschland wohnt (Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union ‑‑EuGH‑‑ Trapkowski vom 22.10.2015 - C-378/14, EU:C:2015:720, Leitsatz 1, Rz 38 und Rz 41; Senatsurteile in BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, und vom 27.07.2017 - III R 17/16, BFH/NV 2018, 201, Rz 10 ff.).
c) Im Streitfall wird nach diesen Grundsätzen der Wohnsitz der Klägerin in Deutschland gemäß Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 fingiert, weil der Kindsvater V damals seinen Wohnsitz in Deutschland hatte. Dies wird auch von der Familienkasse nicht angezweifelt.
2. Anders als die Familienkasse vorträgt, ist der Anspruch der Klägerin auf Gewährung von (Differenz-)Kindergeld nicht gemäß Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 ausgeschlossen, obwohl der Kindergeldanspruch allein auf dem Wohnsitz des V beruht.
a) Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 ist nur anwendbar, wenn tatsächlich konkurrierende Ansprüche vorliegen. Nach seinem eindeutigen Wortlaut setzt Art. 68 der VO Nr. 883/2004 in den Abs. 1 und 2 voraus, dass in mehr als einem Mitgliedstaat tatsächlich Ansprüche auf Familienleistungen bestehen. Kommt es nicht zu einer Kumulierung derartiger Ansprüche, weil nur in einem Mitgliedstaat die Tatbestandsvoraussetzungen des jeweiligen Anspruchs erfüllt sind, ist Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 nicht anwendbar (vgl. etwa Senatsurteil vom 18.02.2021 - III R 27/19, BFHE 272, 60, BFH/NV 2021, 886, Rz 21).
b) Im Streitfall ist Art. 68 Abs. 2 Satz 3 der VO Nr. 883/2004 hiernach nicht anwendbar, weil die Klägerin für den Streitzeitraum nur einen Anspruch auf deutsches Kindergeld hat. Nach den den Senat bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) hatte sie im maßgeblichen Zeitraum keinen Anspruch auf griechische Familienleistungen. Dass die Klägerin einen Anspruch auf Familienleistungen eines anderen Staats ‑‑z.B. der Republik Bulgarien‑‑ oder dass V einen Anspruch auf Familienleistungen etwa nach griechischem Recht gehabt hat, hat das FG nicht festgestellt und wird auch von den Beteiligten nicht behauptet. Anders als im Fall des Senatsurteils vom 18.02.2021 - III R 71/18 (BFHE 272, 53, BFH/NV 2021, 884, Rz 28) stehen im Streitfall neben dem deutschen Kindergeldanspruch keine weiteren Familienleistungsansprüche im Raum.
3. Bei Antragstellung war für das Kindergeld für die Zeit ab Januar 2012 noch keine Festsetzungsverjährung eingetreten, denn der für den Kindergeldanspruch der Klägerin maßgebliche Antrag wurde nicht erst im Juli 2017, sondern bereits im April 2013 von V gestellt und mit Einspruch vom 24.03.2015 auf die Zeit bis Januar 2015 erstreckt.
a) Auf die Festsetzung von Kindergeld als Steuervergütung (§ 31 Satz 3 EStG) sind gemäß § 155 Abs. 5 der Abgabenordnung (AO) die Vorschriften über die Steuerfestsetzung einschließlich der Bestimmungen über die Festsetzungsverjährung (§§ 169 bis 171 AO) sinngemäß anzuwenden (z.B. BFH-Urteil vom 09.09.2015 - XI R 9/14, BFH/NV 2016, 166, m.w.N.). Die Festsetzungsfrist beträgt nach § 169 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 AO im Regelfall vier Jahre und beginnt bei entsprechender Anwendung des § 170 Abs. 1 AO mit Ablauf des Jahres, in dem der Kindergeldanspruch entstanden ist.
Gemäß § 67 Satz 1 EStG ist das Kindergeld bei der zuständigen Familienkasse schriftlich zu beantragen. Die Verwendung eines amtlichen Vordrucks ist nicht vorgeschrieben (Senatsbeschluss vom 25.08.2009 - III B 136/08, juris, unter II.1.; Selder in Heuermann/Brandis, § 67 EStG Rz 11; Schmidt/Weber-Grellet, EStG, 40. Aufl., § 67 Rz 1; Wendl in Herrmann/Heuer/Raupach ‑‑HHR‑‑, § 67 EStG Rz 6). Der Kindergeldantrag muss auch nicht eigenhändig unterschrieben werden; Vertretung ist zulässig (Senatsbeschluss vom 25.08.2009 - III B 136/08, juris, unter II.3.). Zudem wirkt sich die Familienbetrachtung gemäß Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Sätze 2 und 3 der VO Nr. 987/2009 auch in verfahrensrechtlicher Weise aus. Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 bestimmt, dass ein von einem Elternteil, einer als Elternteil behandelten Person oder einer als Vormund des Kindes handelnden Person oder Institution gestellter Antrag auch zugunsten einer Person zu berücksichtigen ist, die selbst keinen Antrag gestellt hat. Damit wird u.a. vermieden, dass der an sich nur nachrangig zuständige Mitgliedstaat ‑‑wie in dem noch zur Vorgängerrechtslage ergangenen EuGH-Urteil Schwemmer vom 14.10.2010 - C-16/09 (EU:C:2010:605, Rz 53 ff. und 59)‑‑ nur deshalb die vollen Familienleistungen erbringen muss, weil im vorrangig zuständigen Mitgliedstaat kein Antrag auf Familienleistungen gestellt wurde (vgl. etwa Senatsurteil vom 22.02.2018 - III R 10/17, BFHE 261, 214, BStBl II 2018, 717). Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 bewirkt darüber hinaus aber auch allgemein, dass einem Elternteil oder Berechtigten ein Familienleistungsanspruch zustehen kann, obwohl er selbst keinen Antrag gestellt hat (vgl. etwa EuGH-Urteil Trapkowski vom 22.10.2015 - C-378/14, EU:C:2015:720, Rz 47 f.; BFH-Urteil vom 13.07.2016 - XI R 44/13, BFH/NV 2016, 1720, Rz 26; Senatsurteile in BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612; vom 28.04.2016 - III R 68/13, BFHE 254, 20, BStBl II 2016, 776, Rz 28; HHR/Wendl, Vorbemerkungen vor §§ 62 bis 78, Rz 28).
Nach diesen Grundsätzen enthält der von dem anderen Elternteil ‑‑ebenso der von einer als Elternteil behandelten Person oder von der Person oder Institution, die als Vormund des Kindes oder der Kinder handelt‑‑ gestellte Antrag gemäß Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 inzident auch einen Antrag zugunsten der berechtigten Person, die selbst keinen Leistungsantrag gestellt hat. Sowohl nach dem weit gefassten Wortlaut der Vorschrift als auch nach ihrem Sinn und Zweck ist davon auszugehen, dass dieser Antrag auch den Ablauf der Festsetzungsfrist gemäß § 171 Abs. 3 AO zugunsten der anspruchsberechtigten Person solange hemmt, bis hierüber unanfechtbar entschieden worden ist.
b) Im Streitfall wurde der Kindergeldantrag für die Zeit ab Januar 2012 danach vor Eintritt der Festsetzungsverjährung gestellt, da zugunsten der Klägerin, die zunächst keinen eigenen Antrag gestellt hatte, der Antrag des V vom 11.04.2013 und dessen Einspruch vom 24.03.2015 zu berücksichtigen sind. Die Klägerin hat den Antrag des V bereits mit Schreiben vom 15.11.2016 ausdrücklich für sich in Anspruch genommen und den Kindergeldanspruch jedenfalls spätestens mit dem entsprechenden Formblatt vom 04.07.2017, das am 07.07.2017 bei der Familienkasse eingegangen ist, vor Beendigung der den Ablauf der Festsetzungsfrist hemmenden Verfahren präzisiert. Anhaltspunkte dafür, dass die Klägerin ein eigenes Antragsverfahren neben dem zu ihren Gunsten von V ausgelösten Verfahren betrieb, bestehen nicht.
4. Die Klägerin musste im Streitfall auch nicht gemäß § 62 Abs. 1 Satz 2 EStG in der ab 09.12.2014 geltenden Fassung identifizierbar sein (zu den Anforderungen bei einem Auslandssachverhalt vgl. Senatsurteil vom 01.07.2020 - III R 22/19, BFHE 269, 320, Rz 22). § 62 Abs. 1 Satz 2 EStG in der ab 09.12.2014 geltenden Fassung ist im Streitfall nicht anwendbar, weil die Vorschrift gemäß § 52 Abs. 49a Sätze 4 und 5 EStG nur dann für Kindergeldfestsetzungen gilt, die Zeiträume betreffen, die vor dem 01.01.2016 liegen, wenn der Antrag auf Kindergeld erst nach dem 31.12.2015 gestellt wurde. Nach den obigen Ausführungen zu Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009 wurde der für den Kindergeldanspruch der Klägerin maßgebliche Kindergeldantrag des V vor dem 31.12.2015, nämlich bereits am 11.04.2013 und in Bezug auf die Zeit bis einschließlich ... 2015 mit Erhebung des Einspruchs am 24.03.2015, gestellt. Die Klägerin hat den Antrag des Klägers als eigenen übernommen und im weiteren Verfahren, insbesondere im Formblatt vom 04.07.2017 präzisiert.
5. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.