ECLI:DE:BFH:2019:U.221019.VIIR38.18.0
BFH VII. Senat
EUV 952/2013 Art 116 Abs 6, AO § 236, UStG § 21 Abs 2, AO § 238, GG Art 3 Abs 1, GG Art 20 Abs 3, UStG VZ 2016 , EWGV 2913/92 Art 235, EWGV 2913/92 Art 235ff, ZK Art 235, ZK Art 235ff
vorgehend Hessisches Finanzgericht , 22. July 2018, Az: 7 K 1579/17
Leitsätze
NV: Die Verzinsung eines Anspruchs auf Erstattung von Einfuhrabgaben nach § 236 Abs. 1 Satz 1 AO ab Rechtshängigkeit wird nicht gemäß Art. 116 Abs. 6 Unterabs. 1 UZK ausgeschlossen, wenn die Rechtshängigkeit bereits vor der Anwendbarkeit dieser Norm eingetreten ist .
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Hessischen Finanzgerichts vom 23.07.2018 - 7 K 1579/17 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten um die Verzinsung rechtswidrig festgesetzter und nach einem rechtskräftigen Urteil erstatteter Einfuhrumsatzsteuer.
Mit Urteil vom 08.06.2016 gab das Finanzgericht (FG) im Verfahren 7 K 356/13 (rechtshängig ab 20.02.2013) einer Klage der Rechtsvorgängerin der Klägerin und Revisionsbeklagten (Klägerin) statt und hob den Einfuhrabgabenbescheid vom 02.03.2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 25.01.2013 auf. Mit diesem Einfuhrabgabenbescheid hatte der Beklagte und Revisionskläger (das Hauptzollamt ‑‑HZA‑‑) seinerzeit Einfuhrumsatzsteuer in Höhe von 51.334,77 € für Luxusuhren festgesetzt, die nach einem in Deutschland erfolgten Raub zunächst nach X (Nicht-EU-Staat) verbracht und dann als sogenannte Rückware nach Deutschland wieder eingeführt worden waren.
Hauptsächlicher Streitgegenstand des damaligen Verfahrens war, ob die Rückwarenregelung der Art. 185 bis 187 des Zollkodex (ZK) durch § 12 der Einfuhrumsatzsteuer-Befreiungsverordnung ausgeschlossen war, was das FG verneinte. Nach Teilabhilfe im Einspruchsverfahren wegen geminderten Zollwertes erstattete das HZA der Klägerin letztlich aufgrund des Klageverfahrens den Restbetrag in Höhe von 40.443,40 € am 24.08.2016.
Mit Schreiben vom 20.09.2016 beantragte die Klägerin, einen Zinsbescheid bezüglich des bereits ausgekehrten Abgabenbetrages in Höhe von 40.443,40 € mit Zinsen seit dem 20.02.2013 (Datum der Rechtshängigkeit) in Höhe von 0,5 %-Punkten pro Monat über dem jeweiligen Basiszinssatz nach § 236 Abs. 1 und § 238 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) zu erlassen. Mit Bescheid vom 15.11.2016 lehnte das HZA die Zahlung ab. Das Urteil des FG sei nach dem 01.05.2016 rechtskräftig geworden. § 236 AO werde nunmehr von Art. 116 der Verordnung (EU) Nr. 952/2013 vom 09.10.2013 zur Festlegung des Zollkodex der Union (UZK) überlagert.
Die nach erfolglosem Einspruch erhobene Klage hatte Erfolg. Das FG erkannte einen Verstoß gegen Unionsrecht und sprach der Klägerin Zinsen nach unionsrechtlichen Grundsätzen zu. Ein Verstoß gegen Unionsrecht liege auch bei einer einfachen Verletzung gültiger unionsrechtlicher Vorschriften vor und nicht nur bei der Erhebung von Abgaben aufgrund für ungültig oder nichtig erklärter Normen. Für ein solches weites Verständnis spreche vor allem der Sinn und Zweck des unionsrechtlichen Verzinsungsanspruchs. Denn dadurch sollten die Vermögenseinbußen kompensiert werden, die aufgrund der mangelnden Verfügbarkeit von Geldbeträgen erlitten würden. Weder Art. 241 ZK noch Art. 116 UZK stünden einer Verzinsung entgegen, weil die Normen lediglich "zollverfahrensimmanente" Fehler erfassten.
Hiergegen wendet sich das HZA mit seiner Revision. Ein Zinsanspruch ergebe sich nicht aus § 236 AO, weil die Norm nach dem vollständigen Inkrafttreten des Unionszollkodex durch Art. 116 Abs. 6 UZK überlagert werde. Art. 116 UZK sei auch einschlägig, wenn die Abgabenschuld unter dem Regime des ZK entstanden sei. Der Zinsanspruch nach § 236 AO entstehe erst mit der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung.
Die Voraussetzungen des unionsrechtlichen Verzinsungsanspruchs seien ebenfalls nicht erfüllt, weil es sich nicht um einen Fall einer ungültigen oder für nichtig erklärten Verordnung handele. Die durch den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) entwickelte Verzinsungspflicht greife nicht für sämtliche Erstattungsfälle. Es fehle eine Verletzung unionsrechtlicher Vorschriften, die nach dem Grundsatz der Effektivität zur Zinspflicht führen könne.
Das HZA beantragt, das Urteil der Vorinstanz aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Die Klägerin beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Sie trägt vor, sie habe Prozesszinsen nach § 236 AO und keine Erstattungszinsen begehrt. Das FG habe darauf hingewirkt, einen allgemeinen Antrag auf Verzinsung zu stellen. So habe das FG keine Entscheidung über die Anwendbarkeit von Art. 116 Abs. 6 UZK treffen müssen. Art. 116 Abs. 6 UZK verstoße gegen höherrangiges Europarecht in Gestalt der EuGH-Rechtsprechung, wenn dadurch eine Verzinsung von Erstattungsbeträgen generell ausgeschlossen werde.
Wollte man keine Verzinsung nach unionsrechtlichen Grundsätzen annehmen, greife § 236 AO, der nicht durch Art. 116 Abs. 6 UZK überlagert werde. Art. 116 Abs. 6 UZK regele nur die Verzinsung in außergerichtlichen Rechtsbehelfsverfahren und greife nicht in die einzelstaatlichen gerichtlichen Prozessvorschriften der Mitgliedstaaten ein. Art. 116 Abs. 6 UZK erfasse wegen des Zusammenhangs zu Art. 121 Abs. 1 UZK nur von einer einzelstaatlichen Zollbehörde positiv beschiedene Erstattungsanträge, nicht jedoch Erstattungen aufgrund eines erfolgreich durchgeführten Einspruchsverfahrens gegen einen Abgabenbescheid. Diese seien in Art. 44 UZK geregelt, wonach die in den Mitgliedstaaten jeweils geltenden gerichtlichen Verfahrensvorschriften nicht vom UZK oder seinen Durchführungsverordnungen verdrängt würden.
Im Übrigen sei Art. 116 UZK gar nicht anwendbar, weil das finanzgerichtliche Verfahren bereits 2013 begonnen habe.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des HZA ist unbegründet (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Der Klägerin stehen Zinsen nach § 236 Abs. 1 Satz 1 AO für den Zeitraum vom 20.02.2013 (Datum der Rechtshängigkeit) bis zum 24.08.2016 (Tag der Erstattung) zu.
Der Senat kann dahinstehen lassen, ob der Klägerin Zinsen nach den vom EuGH entwickelten unionsrechtlichen Grundsätzen zustehen. Jedenfalls hat das FG rechtsfehlerhaft die ‑‑einschlägige‑‑ Anspruchsgrundlage für die Zinsen in § 236 AO nicht geprüft.
1. Gemäß § 236 Abs. 1 Satz 1 AO entsteht ein Anspruch auf Zahlung von Prozesszinsen, wenn durch eine rechtskräftige gerichtliche Entscheidung oder auf Grund einer solchen Entscheidung eine festgesetzte Steuer herabgesetzt oder eine Steuervergütung gewährt wird. Dies gilt entsprechend, wenn sich der Rechtsstreit durch Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Verwaltungsakts oder durch Erlass des beantragten Verwaltungsakts erledigt hat (§ 236 Abs. 2 Nr. 1 AO). Der Zweck des § 236 AO besteht darin, dem Gläubiger eines Erstattungsanspruchs für die Vorenthaltung des Kapitals und der damit verbundenen Nutzungsmöglichkeiten zumindest für die Zeit ab Rechtshängigkeit eine Entschädigung zu gewähren (vgl. Urteile des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 16.11.2000 - XI R 31/00, BFHE 196, 1, BStBl II 2002, 119, und vom 16.05.2013 - II R 20/11, BFHE 241, 320, BStBl II 2013, 770; Heuermann in Hübschmann/Hepp/ Spitaler ‑‑HHSp‑‑, § 236 AO Rz 5; Kögel in Gosch, AO § 236 Rz 5).
Ausgehend von diesen Grundsätzen hat die Klägerin einen Anspruch auf Prozesszinsen gemäß § 236 Abs. 1 Satz 1 AO ab dem Zeitpunkt der Rechtshängigkeit der ursprünglich erhobenen Klage, weil das FG in diesem Verfahren den Einfuhrabgabenbescheid aufgehoben hatte. Die bereits gezahlte Einfuhrumsatzsteuer wurde der Klägerin erstattet.
2. Dem Anspruch auf Prozesszinsen aus § 236 Abs. 1 Satz 1 AO stehen weder Art. 116 Abs. 6 UZK noch Art. 241 ZK entgegen.
a) Der Senat kann dahinstehen lassen, ob Art. 116 Abs. 6 UZK Prozesszinsen nach § 236 AO ausschließt (so ausdrücklich Deimel in HHSp, Art. 116 UZK Rz 27), weil im Streitfall der Zinslauf mit der Rechtshängigkeit und damit bereits vor dem Inkrafttreten des UZK zum 01.05.2016 begonnen hatte. Somit könnten allenfalls die einschlägigen Regelungen des ZK Anwendung finden.
aa) Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind Verfahrensvorschriften im Allgemeinen auf alle bei ihrem Inkrafttreten anhängigen Rechtsstreitigkeiten anwendbar. Materiell-rechtliche Vorschriften hingegen werden gewöhnlich so ausgelegt, dass sie grundsätzlich nicht für vor ihrem Inkrafttreten entstandene Sachverhalte gelten (EuGH-Urteile Molenbergnatie vom 23.02.2006 - C-201/04, EU:C:2006:136, Zeitschrift für Zölle und Verbrauchsteuern ‑‑ZfZ‑‑ 2006, 161; De Haan vom 07.09.1999 - C-61/98, EU:C:1999:393, ZfZ 1999, 371).
Wie der EuGH weiterhin entschieden hat, verbietet es der Grundsatz der Rechtssicherheit im Allgemeinen, den Beginn der Geltungsdauer eines Rechtsakts der Gemeinschaft auf einen Zeitpunkt vor dessen Veröffentlichung zu legen; dies kann aber ausnahmsweise dann anders sein, wenn ein im Allgemeininteresse liegendes Ziel es verlangt und das berechtigte Vertrauen der Betroffenen gebührend beachtet ist oder wenn aus Wortlaut, Zweck oder Aufbau der betreffenden Gemeinschaftsvorschriften eindeutig hervorgeht, dass ihnen eine solche Wirkung beizumessen ist (EuGH-Urteil Mitsui & Co. Deutschland vom 19.03.2009 - C-256/07, EU:C:2009:167, ZfZ 2009, 101, Rz 32, m.w.N.).
Da sich die Erlass- bzw. Erstattungsvorschriften im UZK gegenüber dem ZK nicht grundlegend geändert haben, hat die dargestellte Rechtsprechung weiterhin Gültigkeit (vgl. zur Einführung des Art. 239 ZK EuGH-Urteil Söhl & Söhlke vom 11.11.1999 - C-48/98, EU:C:1999:548, ZfZ 2000, 12). Schließlich enthalten weder der Wortlaut der Vorschrift noch die Erwägungsgründe der Verordnung einen Hinweis darauf, dass Art. 116 UZK entgegen der Regelung in Art. 288 Abs. 2 i.V.m. Abs. 1 UZK (Gültigkeit ab 01.05.2016) eine Rückwirkung zukommt (Senatsbeschluss vom 24.07.2017 - VII B 165/16, BFH/NV 2017, 1637).
bb) Bei den hier entscheidungserheblichen Regelungen bezüglich der Erstattung von Einfuhrabgaben handelt es sich um Vorschriften des materiellen Rechts (vgl. Senatsbeschluss vom 26.01.2001 - VII B 19/00, BFH/NV 2001, 945 zu Art. 13 der Verordnung (EWG) Nr. 1430/79). Das hat der Senat für Art. 236 und Art. 239 ZK und für Art. 116 Abs. 1 UZK ausdrücklich entschieden (Senatsbeschluss in BFH/NV 2017, 1637). Auch wenn Art. 241 ZK und Art. 116 UZK neben Vorschriften des materiellen Rechts auch Verfahrensvorschriften enthalten, sind Letztere vorliegend nicht entscheidungserheblich, weil die Beteiligten über die Frage streiten, ob ein Zinsanspruch auf den Erstattungsbetrag danach ausgeschlossen ist. Bei der hierbei zu beachtenden Regelung in Art. 116 Abs. 6 UZK handelt es sich um eine materiell-rechtliche Vorschrift, die erst seit dem vollständigen Inkrafttreten des UZK anwendbar ist. Für Fälle, in denen die Zollschuld vor dem 01.05.2016 entstanden ist, gelten daher noch die materiell-rechtlichen Bestimmungen der Art. 235 bis 242 ZK (Deimel in HHSp, Art. 116 UZK Rz 3; Witte/Alexander, Zollkodex, 7. Aufl., Vor Art. 116 Rz 12; Felderhoff, Außenwirtschaftliche Praxis 2017, 98, 101).
cc) Obwohl Prozesszinsen nach § 236 AO erst mit der Rechtskraft der gerichtlichen Entscheidung (Senatsurteil vom 14.05.2002 - VII R 6/01, BFHE 198, 389, BStBl II 2002, 677) oder der Unanfechtbarkeit des Verwaltungsakts, durch den sich der Rechtsstreit nach Rechtshängigkeit erledigt hat, entstehen, muss für die Anwendbarkeit von ZK oder UZK auf die Rechtshängigkeit abgestellt werden. Das Prozessrechtsverhältnis besteht nämlich bereits ab Rechtshängigkeit (Schallmoser in HHSp, § 66 FGO Rz 32). Deshalb setzt die Verzinsungspflicht mit der Rechtshängigkeit der Streitsache ein und läuft bis zum Auszahlungstag.
dd) Die von den Beteiligten aufgeworfene Frage der Vereinbarkeit von Art. 116 Abs. 6 UZK mit höherrangigem Recht stellt sich in diesem Fall also nicht (vgl. Deimel in HHSp, Art. 116 UZK Rz 109).
b) Der Senat kann dahinstehen lassen, ob Art. 241 ZK über den Verweis in § 21 Abs. 2 des Umsatzsteuergesetzes auf den vorliegenden Fall entsprechend anwendbar ist. Denn Art. 241 ZK würde einen Anspruch auf Prozesszinsen nicht ausschließen, weil diese Norm ausdrücklich auf die Anwendbarkeit einzelstaatlicher Bestimmungen verweist (Gellert in Rüsken, Zollrecht, Art. 241 ZK Rz 8; Deimel in HHSp, Art. 116 UZK Rz 113).
3. Der Zins berechnet sich ‑‑wie auch das FG für den unionsrechtlichen Zinsanspruch angenommen hat‑‑ nach § 238 AO (Heuermann in HHSp, § 236 AO Rz 29).
Danach betragen die Zinsen ab Beginn des Zinslaufs für jeden Monat 0,5 %. Sie sind von dem Tag an, an dem der Zinslauf beginnt, nur für volle Monate zu zahlen. Der zu verzinsende Betrag ist auf den nächsten durch 50 € teilbaren Betrag abzurunden (§ 238 Abs. 2 AO).
Der IX. Senat des BFH hat in seinem Beschluss vom 25.04.2018 - IX B 21/18 (BFHE 260, 431, BStBl II 2018, 415) diesen Zinssatz (für Veranlagungszeiträume ab 2015) auch für Erstattungsansprüche mit Blick auf das strukturelle Niedrigzinsniveau (im dortigen Fall im Streitzeitraum ab 2015) für nicht realitätsgerecht erachtet. Daraus ist jedoch nicht zu schlussfolgern, dass in Bezug auf die Höhe der Prozesszinsen verfassungsrechtliche Zweifel bestehen. Ein zu hoher Zinssatz zugunsten des Steuerpflichtigen berührt weder das rechtsstaatliche Übermaßverbot (Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art 20 Abs. 3 des Grundgesetzes ‑‑GG‑‑) noch den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG). Allenfalls könnten diejenigen Steuerpflichtigen benachteiligt sein, welche keine Prozesszinsen (in dieser Höhe) erhalten. Es gibt aber keine Gleichheit im Unrecht (BFH-Urteil vom 17.05.2017 - V R 52/15, BFHE 258, 124, BStBl II 2018, 218, Rz 37, m.w.N.).
4. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.