ECLI:DE:BFH:2020:U.060220.VR37.19.0
BFH V. Senat
UStG § 4 Nr 11b, PostG § 33 Abs 1, EGRL 112/2006 Art 132 Abs 1 Buchst a, EGRL 67/97 Art 2 Nr 13, EGRL 67/97 Art 3 Abs 4, UStG VZ 2010
vorgehend FG Köln, 08. December 2015, Az: 2 K 1715/11
Leitsätze
Wer Post-Universaldienstleistungen nach Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 97/67/EG, § 4 Nr. 11b UStG erbringt, hat Anspruch auf Erteilung der Bescheinigung nach § 4 Nr. 11b Satz 2 UStG.
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Finanzgerichts Köln vom 09.12.2015 - 2 K 1715/11, die Einspruchsentscheidung des Beklagten vom 27.04.2011 sowie der Ablehnungsbescheid des Beklagten vom 04.08.2010 aufgehoben.
Der Beklagte wird verpflichtet, dem Kläger die beantragte Bescheinigung nach § 4 Nr. 11b des Umsatzsteuergesetzes zu erteilen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Tatbestand
I.
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist Insolvenzverwalter über das Vermögen der A-GmbH (nachfolgend: A). A betrieb bis zur Eröffnung des Insolvenzverfahrens im Jahre 2011 ‑‑neben weiteren mit ihr über die gemeinsame Muttergesellschaft (B ... AG) verbundenen Unternehmen der B-Gruppe‑‑ ein Unternehmen, das insbesondere Postzustellungsaufträge im Inland ausführte.
A beantragte im Jahr 2010 beim Beklagten und Revisionsbeklagten (Bundeszentralamt für Steuern ‑‑BZSt‑‑), ihr eine Bescheinigung über die "Umsatzsteuerbefreiung in Bezug auf das Produkt Postzustellungsaufträge (PZA) gemäß §§ 176 ff. ZPO [Zivilprozessordnung]" nach § 4 Nr. 11b des Umsatzsteuergesetzes in der ab dem 01.07.2010 geltenden Fassung (UStG) zu erteilen. Zur Begründung führte A aus, dass das Produkt "Postzustellungsauftrag" dem Post-Universaldienst zuzuordnen sei.
A hatte sich gemäß § 4 Nr. 11b UStG über ihre Muttergesellschaft gegenüber dem BZSt verpflichtet, bundesweit flächendeckende förmliche Zustellungen von Schriftstücken auf der Grundlage der Prozessordnungen und der Gesetze, die die Verwaltungszustellung regeln, entsprechend der seitens der Bundesnetzagentur zu diesem Zweck erteilten Lizenzen im gesamten Bundesgebiet anzubieten.
Das BZSt lehnte den Antrag auf Erteilung einer Bescheinigung nach § 4 Nr. 11b UStG durch Bescheid vom 04.08.2010 mit der Begründung ab, das Produkt "Postzustellungsauftrag" sei keine Post-Universaldienstleistung.
Am 01.07.2011 wurde das Insolvenzverfahren über das Vermögen der A eröffnet und der Kläger zum Insolvenzverwalter bestellt.
Das Finanzgericht (FG) wies die vom Kläger weiterverfolgte Klage mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2016, 774 veröffentlichten Urteil mit der Begründung ab, dass ein "Postzustellungsauftrag" bei unionsrechtskonformer Auslegung von § 4 Nr. 11b UStG nicht zu den Post-Universaldienstleistungen gehöre.
Mit seiner Revision macht der Kläger geltend, förmliche Zustellungen seien in allen EU-Mitgliedstaaten ‑‑mit Ausnahme des Königreichs Schweden‑‑ von der Umsatzsteuer befreit.
Der Kläger beantragt,
das FG-Urteil, die Einspruchsentscheidung vom 27.04.2011 und den Ablehnungsbescheid vom 04.08.2010 aufzuheben und das BZSt zu verpflichten, die beantragte Bescheinigung gemäß § 4 Nr. 11b UStG zu erteilen.Das BZSt beantragt sinngemäß,
das FG-Urteil aufzuheben und das Verfahren an das FG zurückzuverweisen.Im Revisionsverfahren hat der erkennende Senat mit Beschluss vom 31.05.2017 - V R 8/16 (BFHE 259, 464, BStBl II 2018, 245) den Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) um Vorabentscheidung zur Klärung folgender Fragen zur Auslegung der Richtlinie des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem 2006/112/EG (MwStSystRL) ersucht:
"1. Ist die förmliche Zustellung von Schriftstücken nach öffentlich-rechtlichen Vorschriften (Vorschriften der Prozessordnungen und der Gesetze, die die Verwaltungszustellung regeln ‑‑§ 33 Absatz 1 des Postgesetzes‑‑) eine Post-Universaldienstleistung nach Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 97/67/EG vom 15.12.1997 (Post-Richtlinie)?
2. Sollte die Frage 1. zu bejahen sein:
Ist ein Unternehmer, der die förmliche Zustellung von Schriftstücken nach öffentlich-rechtlichen Vorschriften durchführt, ein 'Anbieter von Universaldienstleistungen' im Sinne des Art. 2 Nr. 13 der Richtlinie 97/67/EG vom 15.12.1997, der die Leistungen des postalischen Universaldienstes ganz oder teilweise erbringt, und sind diese Leistungen nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem steuerfrei?"
Hierauf hat der EuGH mit Urteil Winterhoff u.a. vom 16.10.2019 - C-4/18 und C-5/18 (EU:C:2019:860) wie folgt geantwortet:
"Art. 2 Nr. 13 und Art. 3 der Richtlinie 97/67/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.12.1997 über gemeinsame Vorschriften für die Entwicklung des Binnenmarktes der Postdienste der Gemeinschaft und die Verbesserung der Dienstequalität in der durch die Richtlinie 2008/6/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20.02.2008 geänderten Fassung sind dahin auszulegen, dass Anbieter von Briefzustelldienstleistungen wie die in den Ausgangsverfahren in Rede stehenden, die in ihrer Eigenschaft als Inhaber einer nationalen Lizenz, die ihnen die Erbringung dieser Dienstleistung gestattet, verpflichtet sind, förmliche Zustellungen von Schriftstücken von Gerichten oder Verwaltungsbehörden nach Vorschriften des nationalen Rechts durchzuführen, als 'Universaldiensteanbieter' im Sinne dieser Bestimmungen anzusehen sind, so dass solche förmlichen Zustellungen als von 'öffentlichen Posteinrichtungen' erbrachte Dienstleistungen nach Art. 132 Abs. 1 Buchst. a der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem von der Umsatzsteuer zu befreien sind."
Die Beteiligten hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Das BZSt hält die Sache für nicht spruchreif, weil noch weitere tatbestandliche Voraussetzungen von § 4 Nr. 11b UStG, Art. 3 der Postdienste-Richtlinie sowie § 11 Abs. 1 und 2 des Postgesetzes (PostG) i.V.m. §§ 1 ff. der Post-Universaldienstleistungsverordnung zu prüfen seien.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Stattgabe der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Der Kläger hat Anspruch auf Erteilung der Bescheinigung nach § 4 Nr. 11b Satz 2 UStG. Bei den von A ausgeführten Postzustellungsaufträgen handelt es sich um Universaldienstleistungen.
1. § 4 Nr. 11b Satz 1 UStG befreit Universaldienstleistungen nach Art. 3 Abs. 4 der Richtlinie 97/67/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 15.12.1997 über gemeinsame Vorschriften für die Entwicklung des Binnenmarktes der Postdienste der Gemeinschaft und die Verbesserung der Dienstequalität (Richtlinie 97/67/EG). Gemäß § 4 Nr. 11b Satz 2 UStG setzt die Steuerbefreiung voraus, dass der Unternehmer sich entsprechend einer Bescheinigung des BZSt gegenüber dieser Behörde verpflichtet hat, flächendeckend im gesamten Gebiet der Bundesrepublik Deutschland die Gesamtheit der Universaldienstleistungen oder einen Teilbereich dieser Leistungen nach Satz 1 anzubieten.
Nach dem EuGH-Urteil Winterhoff u.a. (EU:C:2019:860), dem sich der erkennende Senat anschließt (s. das BFH-Urteil vom 06.02.2020 in der Sache V R 36/19), hat sich A verpflichtet, mit der Ausführung von Postzustellungen derartige Universaldienstleistungen zu erbringen. Denn wie in der Vorentscheidung festgestellt, hat A sich gemäß § 4 Nr. 11b Satz 2 UStG über ihre Muttergesellschaft gegenüber dem BZSt verpflichtet, flächendeckende förmliche Zustellungen von Schriftstücken auf der Grundlage der Prozessordnungen und der Gesetze, die die Verwaltungszustellung regeln, entsprechend der seitens der Bundesnetzagentur zu diesem Zweck erteilten Lizenzen im gesamten Bundesgebiet anzubieten.
2. Da die Vorentscheidung diesen Maßstäben nicht entspricht, ist sie aufzuheben. Die Sache ist ‑‑entgegen der Auffassung des BZSt‑‑ spruchreif. Es besteht ein Anspruch auf Erteilung der Bescheinigung, denn weitere Voraussetzungen stellt § 4 Nr. 11b Satz 2 UStG nicht auf. Im Übrigen wäre die Versagung der Steuerbefreiung für Universaldienstleistungen aufgrund von Besonderheiten des nationalen Rechts ein Verstoß gegen das Unionsrecht (EuGH-Urteil Winterhoff u.a., EU:C:2019:860, Rz 66). Die Bescheinigung ist bei Vorliegen von Universaldienstleistungen daher zwingend zu erteilen.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.