ECLI:DE:BFH:2019:B.151019.XIB75.19.0
BFH XI. Senat
FGO § 74, UStG § 4 Nr 9 Buchst b, EGRL 112/2006 Art 135 Abs 1 Buchst i, FGO § 155 S 1, ZPO § 251, FGO § 128
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht , 31. July 2019, Az: 11 K 136/16
Leitsätze
1. NV: Gegen den Beschluss eines FG, ein bei ihm anhängiges Klageverfahren gemäß § 74 FGO auszusetzen, ist die Beschwerde gegeben .
2. NV: Eine Aussetzung des Verfahrens nach § 74 FGO kommt nicht in Betracht, wenn "lediglich" beim BFH ein Musterverfahren anhängig ist .
Tenor
Auf die Beschwerde der Klägerin wird der Beschluss des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 01.08.2019 - 11 K 136/16 aufgehoben.
Tatbestand
I.
Die Beteiligten streiten im Klageverfahren des Niedersächsischen Finanzgerichts (FG) mit dem Aktenzeichen 11 K 136/16 über die Besteuerung von Umsätzen aus dem Betrieb von Geldspielautomaten.
Mit Beschluss vom 01.08.2019 setzte das FG das Klageverfahren unter Hinweis auf die beim Bundesfinanzhof (BFH) anhängigen Revisionsverfahren mit den Aktenzeichen XI R 13/18 und XI R 26/18 aus. Diese Revisionsverfahren beträfen einen vergleichbaren Sachverhalt. Der BFH habe in seinem Beschluss vom 21.08.2015 - I B 113/14 (BFH/NV 2016, 58) in einem obiter dictum ausgeführt, dass die Aussetzung des dortigen Klageverfahrens sachgerecht sein könnte, bis der BFH über das Revisionsverfahren zu einer vergleichbaren Rechtsfrage entschieden habe. Daraus sei zu schließen, dass der BFH an seiner früheren, anders lautenden Rechtsprechung, ein "Musterverfahren" beim Bundesverfassungsgericht sei Aussetzungsvoraussetzung, nicht mehr festhalte.
Dagegen richtet sich die Beschwerde der Klägerin und Beschwerdeführerin (Klägerin).
Entscheidungsgründe
II.
Die Beschwerde ist zulässig (vgl. BFH-Beschlüsse vom 01.12.2004 - VII B 245/04, BFH/NV 2005, 711, unter II., Rz 6; vom 03.09.2007 - VI B 57/07, BFH/NV 2007, 2325, unter I., Rz 3; vom 25.07.2014 - III B 102/13, BFH/NV 2014, 1764, Rz 9; Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 74 FGO Rz 17) und begründet. Sie führt zur Aufhebung des Aussetzungsbeschlusses des FG.
1. Nach § 74 der Finanzgerichtsordnung (FGO) kann das FG das Verfahren u.a. aussetzen, wenn die Entscheidung des Rechtsstreits von dem Bestehen oder Nichtbestehen eines Rechtsverhältnisses abhängt, das den Gegenstand eines anderen anhängigen Rechtsstreits bildet. Eine solche Situation ist im Streitfall nicht gegeben.
Nach der ständigen Rechtsprechung des BFH, an der der Senat festhält, kommt eine Aussetzung des Verfahrens nach dieser Vorschrift nicht in Betracht, wenn "lediglich" vor dem BFH ein sog. Musterverfahren anhängig ist (vgl. z.B. BFH-Beschlüsse in BFH/NV 2014, 1764, Rz 12; vom 24.09.2012 - VI B 79/12, BFH/NV 2013, 70, Rz 10; vom 21.12.2007 - VIII B 39/07, BFH/NV 2008, 940, unter 2.b, Rz 11 f.; vom 26.10.2006 - IX B 9/06, BFH/NV 2007, 447, unter 1., Rz 2; vom 09.03.2004 - X B 173/03, BFH/NV 2004, 956, unter II.1., Rz 7; Brandis in Tipke/Kruse, a.a.O., § 74 FGO Rz 14; Thürmer in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 74 FGO Rz 90 ff.; Gräber/Herbert, Finanzgerichtsordnung, 9. Aufl., § 74 Rz 39; Schoenfeld in Gosch, FGO § 74 Rz 21, Stichwort "Musterverfahren").
2. Danach kommt hier eine Aussetzung des Klageverfahrens wegen der beim BFH anhängigen Verfahren XI R 13/18, XI R 23/18 und XI R 26/18 nicht in Betracht. Allein der zutreffende Hinweis auf vor dem BFH bereits anhängige Verfahren, die die gleiche streitige Rechtsfrage betreffen, reicht für eine Aussetzung nach § 74 FGO nicht aus.
3. Der Senat weicht damit nicht von Rz 6 des BFH-Beschlusses in BFH/NV 2016, 58 ab. Es trifft zwar zu, dass der I. Senat des BFH dort ausgeführt hat, dass es sachgerecht sein könnte, ein finanzgerichtliches Klageverfahren im Hinblick auf ein beim BFH anhängiges Revisionsverfahren auszusetzen. Trotz dieser Sachgerechtigkeit kann in einem solchen Fall jedoch auch nach der Rechtsprechung des I. Senats des BFH das beim FG schwebende Parallelverfahren nur gemäß § 251 der Zivilprozessordnung i.V.m. § 155 Satz 1 FGO zum Ruhen gebracht werden, wozu es jedoch u.a. der ‑‑im vorliegenden Fall fehlenden‑‑ Zustimmung der Klägerin bedarf (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 28.01.2004 - I B 71/03 u.a., BFH/NV 2004, 915). Dass der I. Senat des BFH mit dem BFH-Beschluss in BFH/NV 2016, 58 seine Rechtsprechung hätte aufgeben und von der ständigen Rechtsprechung auch der anderen Senate des BFH hätte abweichen wollen, ist Rz 6 des BFH-Beschlusses in BFH/NV 2016, 58 nicht zu entnehmen. Die dortigen Erwägungen waren außerdem nicht tragend.
4. Eine Kostenentscheidung ist dann nicht zu treffen, wenn die Beschwerde Erfolg hat (vgl. BFH-Beschlüsse vom 14.02.2007 - XI B 151/06, BFH/NV 2007, 967, unter II., Rz 13; in BFH/NV 2013, 70, Rz 12). Über die Kosten des Beschwerdeverfahrens ist im Rahmen der Entscheidung über die Hauptsache zu befinden (vgl. BFH-Beschluss in BFH/NV 2016, 58, Rz 7, m.w.N.).