ECLI:DE:BFH:2019:U.270319.VR11.19.0
BFH V. Senat
UStG § 13 Abs 1 Nr 1, UStG § 14c Abs 2, UStG § 15 Abs 1, UStG § 17 Abs 1, UStG § 17 Abs 2, EGRL 112/2006 Art 65, EGRL 112/2006 Art 167, EGRL 112/2006 Art 168 Buchst a, EGRL 112/2006 Art 185, EGRL 112/2006 Art 186, UStG VZ 2010
vorgehend FG Münster, 08. December 2014, Az: 15 K 4319/12 U
Leitsätze
1. NV: Der Vorsteuerabzug aus einer Anzahlung setzt voraus, dass der Eintritt des Steuertatbestands zum Zeitpunkt der Anzahlung "sicher" sein muss .
2. NV: Maßgeblich ist hierfür, ob im Zeitpunkt der Anzahlung alle maßgeblichen Elemente des Steuertatbestands bereits bekannt sind, so dass der Gegenstand der Lieferung genau bestimmt ist .
3. NV: Der Vorsteuerabzug aus einer Anzahlungsrechnung hängt nicht davon ab, ob der Zahlungsempfänger im Zahlungszeitpunkt die Leistung objektiv erbringen kann und ob er das will .
4. NV: Es reicht aus, wenn anhand objektiver Umstände nicht erwiesen ist, dass der Anzahlende zum Zeitpunkt der Zahlung wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass die Bewirkung der Lieferung oder Erbringung der Dienstleistung ungewiss ist .
Tenor
Auf die Revision des Klägers wird das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 9. Dezember 2014 15 K 4319/12 U aufgehoben.
Unter Änderung der Einspruchsentscheidung vom 21. November 2012 und des Umsatzsteuerbescheids 2010 vom 6. September 2011 wird die Umsatzsteuer 2010 auf ... festgesetzt.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Tatbestand
I.
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) bestellte im Streitjahr 2010 bei der G-GmbH (GmbH) die Lieferung eines Blockheizkraftwerks. Die GmbH bestätigte den Auftrag am 29. März 2010 und erteilte für den Liefergegenstand eine Vorausrechnung über 22.500 € zzgl. einem gesonderten Steuerausweis über 4.275 €. Der Kläger entrichtete die geforderte Anzahlung an die GmbH am 11. Mai 2010. Zeitnah schloss der Kläger mit G2, einem Partnerunternehmen der GmbH, einen Verwaltungsvertrag und mietete von G2 einen Stellplatz für das noch zu errichtende Blockheizkraftwerk. Der Kläger schloss außerdem mit G2 einen "Premium Service Vertrag" ab, durch den sich G2 verpflichtete gegen pauschales Entgelt alle Serviceleistungen zur Aufrechterhaltung des Betriebs des Blockheizkraftwerks durchzuführen.
Die GmbH hatte von mehr als 1 400 Käufern mehr als 62 Mio. € eingenommen, war aber zur Lieferung der Blockheizkraftwerke technisch nicht in der Lage. Die Lieferung der Anlage unterblieb. Über das Vermögen der GmbH wurde das Insolvenzverfahren eröffnet und mangels Masse eingestellt. Die für die GmbH handelnden Personen wurden wegen gewerbs- und bandenmäßigen Betrugs in 88 Fällen und wegen vorsätzlichen Bankrotts zu Lasten der Käufer der Blockheizkraftwerke, nicht aber wegen Steuerhinterziehung strafrechtlich verurteilt.
Der Kläger machte für das Streitjahr 2010 den Vorsteuerabzug aus seiner Anzahlung geltend. Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) erkannte den Vorsteuerabzug nicht an.
Die hiergegen gerichtete Klage hatte keinen Erfolg. Bei der in der Rechnung der GmbH ausgewiesenen Umsatzsteuer habe es sich um keine "gesetzlich geschuldete Steuer" i.S. des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 des Umsatzsteuergesetzes in der im Streitjahr gültigen Fassung (UStG) gehandelt, sondern um einen unberechtigten Steuerausweis i.S. des § 14c Abs. 2 Satz 2 UStG, der den Kläger nicht zum Vorsteuerabzug berechtige.
Der Kläger beantragt sinngemäß,
die Vorentscheidung aufzuheben und den Umsatzsteuerbescheid 2010 vom 6. September 2011 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 21. November 2012 zu ändern und die Umsatzsteuer 2010 auf ... festzusetzen.Das FA beantragt sinngemäß,
die Revision zurückzuweisen.Der Senat hat mit Beschluss vom 9. März 2017 das Ruhen des Verfahrens bis zur Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) in den Rechtssachen Kollroß C-660/16 (V R 29/15) und Wirtl C-661/16 (XI R 44/14) angeordnet. Der EuGH hat mit Urteil Kollroß vom 31. Mai 2018 C-660/16 und Wirtl C-661/16 (EU:C:2018:372) über die Sache entschieden.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des Klägers führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Klagestattgabe (§ 126 Abs. 3 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das Finanzgericht (FG) hat zu Unrecht entschieden, dass dem Kläger aus der Vorausrechnung der GmbH kein Vorsteuerabzug zustehe, weil es sich bei der in dieser Rechnung ausgewiesenen Umsatzsteuer um keine "gesetzlich geschuldete Steuer" i.S. des § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 UStG, sondern um einen unberechtigten Steuerausweis i.S. des § 14c Abs. 2 Satz 2 UStG gehandelt habe. Der Bundesfinanzhof (BFH) hat bereits für einen Vergleichsfall den Vorsteuerabzug ohne Berichtigungsverpflichtung bejaht (BFH-Urteil vom 5. Dezember 2018 XI R 44/14, BFH/NV 2019, 499, Leitsätze 1 und 2). Dem schließt sich der erkennende Senat an.
1. Die Anzahlung berechtigte den Kläger zum Vorsteuerabzug.
a) Nach § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 1 UStG kann ein Unternehmer die gesetzlich geschuldete Umsatzsteuer für Lieferungen und sonstige Leistungen, die von einem anderen Unternehmer für sein Unternehmen ausgeführt worden sind, als Vorsteuer abziehen. Die Ausübung des Vorsteuerabzugs setzt voraus, dass der Unternehmer eine nach den §§ 14, 14a UStG ausgestellte Rechnung besitzt (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 2 UStG). Soweit der gesondert ausgewiesene Steuerbetrag auf eine Zahlung vor Ausführung dieser Umsätze entfällt, ist er bereits abziehbar, wenn die Rechnung vorliegt und die Zahlung geleistet worden ist (§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 3 UStG).
§ 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 3 UStG beruht auf Art. 167 und Art. 168 Buchst. a i.V.m. Art. 65 der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28. November 2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL). Gemäß Art. 167 MwStSystRL entsteht das Recht auf Vorsteuerabzug, wenn der Anspruch auf die abziehbare Steuer entsteht. Werden Anzahlungen geleistet, bevor die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht ist, ist das gemäß Art. 65 MwStSystRL zum Zeitpunkt der Vereinnahmung des Entgelts der Fall.
b) Die gesetzlichen Voraussetzungen für einen Vorsteuerabzug auf eine Zahlung vor Ausführung der Umsätze gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 3 UStG sind erfüllt. Der Kläger hat die geforderte Anzahlung für das bestellte Blockheizkraftwerk geleistet. Darüber hinaus lag dem Kläger eine Rechnung über die (künftige) Lieferung eines Blockheizkraftwerks i.S. von § 14 Abs. 5 Satz 1 UStG vor, die den Anforderungen an die Rechnungsangaben nach § 14 Abs. 4 UStG genügt.
c) Auch die sich aus der Rechtsprechung des EuGH ergebende Bedingung, dass der Eintritt des Steuertatbestands zum Zeitpunkt der Anzahlung "sicher" sein muss, liegt vor. Maßgeblich ist hierfür, ob im Zeitpunkt der Anzahlung alle maßgeblichen Elemente des Steuertatbestands bereits bekannt sind, so dass der Gegenstand der Lieferung genau bestimmt ist (EuGH-Urteil Kollroß und Wirtl, EU:C:2018:372, Rz 40 ff., 51).
aa) Im Streitfall waren alle maßgeblichen Elemente der künftigen Lieferung des Blockheizkraftwerks wie etwa Kaufgegenstand, Kaufpreis, Lieferzeitpunkt festgelegt (BFH-Urteil in BFH/NV 2019, 499, Rz 47).
bb) Unerheblich ist, dass von Anfang an feststand, dass es nicht zur Lieferung des Blockheizkraftwerks kommen würde. Denn der Vorsteuerabzug aus einer (Voraus- oder) Anzahlungsrechnung hängt nicht davon ab, ob der Zahlungsempfänger im Zahlungszeitpunkt die Leistung objektiv erbringen kann und ob er das will. Es reicht vielmehr aus, wenn anhand objektiver Umstände nicht erwiesen ist, dass der (Voraus- oder) Anzahlende zum Zeitpunkt der Zahlung wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass die Bewirkung der Lieferung oder Erbringung der Dienstleistung ungewiss ist (EuGH-Urteil Kollroß und Wirtl, EU:C:2018:372, Rz 50), wie der BFH bereits ausdrücklich entschieden hat (BFH-Urteil in BFH/NV 2019, 499, Rz 48 und 54). Im Übrigen ist nicht davon auszugehen, dass der Kläger als Vertragspartner die Absicht hatte, die mit der Bewirkung der Lieferung oder der Erbringung der Dienstleistung verbundenen finanziellen Folgen auf sich zu nehmen, da er wusste oder vernünftigerweise hätte wissen müssen, dass diese Bewirkung der Lieferung oder Erbringung der Dienstleistung ungewiss ist (EuGH-Urteil Kollroß und Wirtl, EU:C:2018:372, Rz 50).
d) Entgegen der Auffassung des FA handelt es sich nicht um einen unberechtigten Steuerausweis i.S. von § 14c Abs. 2 Satz 2 UStG, für den der Vorsteuerabzug mangels gesetzlicher Steuerschuld für eine Leistung nicht in Anspruch genommen werden kann. Denn ist eine Unsicherheit über die ausstehende Leistungserbringung zu verneinen, entsteht die Steuer aufgrund der Zahlung nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 4 UStG (Art. 65 MwStSystRL) und berechtigt gemäß § 15 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 Satz 3 UStG (Art. 167 MwStSystRL) zum Vorsteuerabzug (BFH-Urteil in BFH/NV 2019, 499, Rz 59).
2. Der Kläger hat den Vorsteuerabzug nicht nach § 17 Abs. 2 Nr. 2 und Abs. 1 Satz 2 UStG zu berichtigen.
a) Nach § 17 Abs. 2 Nr. 2 und Abs. 1 Satz 2 UStG ist der Vorsteuerabzug zu berichtigen, wenn für eine vereinbarte Lieferung oder sonstige Leistung ein Entgelt entrichtet, die Lieferung oder sonstige Leistung jedoch nicht ausgeführt worden ist. Unionsrechtlich beruht dies auf Art. 185 Abs. 1 MwStSystRL. Danach erfolgt die Berichtigung des Vorsteuerabzugs insbesondere, wenn sich die Faktoren, die bei der Bestimmung des Vorsteuerabzugsbetrags berücksichtigt werden, nach Abgabe der Mehrwertsteuererklärung geändert haben, z.B. bei rückgängig gemachten Käufen oder erlangten Rabatten. Gemäß Art. 186 MwStSystRL legen die Mitgliedstaaten die Einzelheiten für die Anwendung dieser Bestimmung fest.
b) Der erkennende Senat hält an seiner Rechtsprechung fest, nach der die Berichtigung des Vorsteuerabzugs gemäß § 17 Abs. 2 Nr. 2 und Abs. 1 Satz 2 UStG eine Rückzahlung voraussetzt (BFH-Urteile vom 2. September 2010 V R 34/09, BFHE 231, 321, BStBl II 2011, 991, Leitsatz 1 und Rz 21; vom 8. September 2011 V R 43/10, BFHE 235, 501, BStBl II 2014, 203, Rz 27; vom 15. September 2011 V R 36/09, BFHE 235, 507, BStBl II 2012, 365, Leitsatz und Rz 23).
Dies ist mit den Unionsrecht vereinbar, da es nationalen Rechtsvorschriften oder Gepflogenheiten nicht entgegensteht, nach denen die Berichtigung des Vorsteuerabzugs für eine (Voraus- oder) Anzahlung beim Ausbleiben der Lieferung voraussetzt, dass diese vom Lieferer zurückgezahlt wird (EuGH-Urteil Kollroß und Wirtl, EU:C:2018:372, Rz 69; vgl. hierzu BFH-Urteil in BFH/NV 2019, 499, Rz 71).
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.