ECLI:DE:BFH:2018:B.271118.VB72.18.0
BFH V. Senat
FGO § 81 Abs 1, FGO § 96 Abs 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 116 Abs 6, FGO § 155, StPO § 249, AO § 15 Abs 1 Nr 6, AO § 101
vorgehend FG Münster, 27. June 2018, Az: 10 K 1230/15 U,K
Leitsätze
1. NV: Mittelbare (schriftliche) Beweismittel können bei der Urteilsfindung berücksichtigt werden, wenn die Erhebung des unmittelbaren Beweises unmöglich, unzulässig oder unzumutbar ist .
2. NV: Das FG verstößt gegen den Grundsatz der unmittelbaren Beweisaufnahme, wenn es im Rahmen der Beweiswürdigung den unterschiedlichen Beweiswert von Urkunden- und Zeugenbeweis nicht beachtet .
3. NV: Ein Verstoß gegen die Berücksichtigung des Gesamtergebnisses des Verfahrens liegt u.a. vor, wenn das FG eine nach Aktenlage feststehende Tatsache (protokollierte Aussage einer Zeugin) bei seiner Beweiswürdigung unberücksichtigt lässt .
Tenor
Auf die Beschwerde der Kläger wegen Nichtzulassung der Revision wird das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 28. Juni 2018 10 K 1230/15 U,K aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Münster zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Beschwerdeverfahrens übertragen.
Tatbestand
I.
Mit Urteil vom 28. Juni 2018 10 K 1230/15 U,K wies das Finanzgericht (FG) die Klage der Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) gegen den Haftungsbescheid vom 12. Februar 2015 in Gestalt der Einspruchsentscheidungen vom 10. April 2015 ab. Die Kläger seien faktische Geschäftsführer der K-GmbH gewesen und hafteten daher nach §§ 34, 35, 69 der Abgabenordnung (AO) für die offenen Umsatzsteuerschulden und Säumniszuschläge der K-GmbH. Die Überzeugung des Senats von der Stellung der Kläger als faktische Geschäftsführer beruhte auf den (schriftlichen) Aussagen der formellen Geschäftsführerin VP, die von der Aussage der glaubwürdigen Zeugin B und ‑‑teilweise auch‑‑ von der Zeugin T bestätigt würden. VP hatte für die mündliche Verhandlung von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht nach § 84 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung (FGO) i.V.m. § 101 Abs. 1 AO Gebrauch gemacht, das FG verwertete daher ihre schriftliche Aussage als Beschuldigte eines Ermittlungsverfahrens der Steuerfahndung. Im Rahmen der Vernehmung wurde sie darauf hingewiesen, dass ihr ein Aussageverweigerungsrecht auch hinsichtlich ihrer Schwester, der Klägerin, zustehe, gegen die ebenfalls wegen Steuerhinterziehung ermittelt werde; hiervon machte sie jedoch keinen Gebrauch. Die als Zeugin geladene MS hatte am 23. Mai 2013 gegenüber der Steuerfahndung als Zeugin ausgesagt, sie ist aber vor den mündlichen Verhandlungen verstorben.
Mit ihrer Beschwerde wegen Nichtzulassung der Revision machen die Kläger Verfahrensmängel i.S. von § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO geltend. Das FG habe gegen das Gebot unmittelbarer Beweiserhebung (§ 81 FGO) verstoßen, indem es die Aussage der VP gegenüber der Steuerfahndung verwertet habe. Sie rügen, das FG habe den Vernehmungsbeamten befragen oder zumindest die Aussage der VP in vollem Umfange in der mündlichen Verhandlung verlesen müssen. Dabei wäre aufgefallen, dass die Belehrung der VP insoweit unvollständig sei, da sie auf ihr Aussageverweigerungsrecht hinsichtlich ihrer Schwester (Klägerin) hingewiesen worden sei, nicht aber auch hinsichtlich ihres Schwagers, gegen den ebenfalls wegen Steuerhinterziehung ermittelt wurde. Darüber hinaus habe es das FG unterlassen, die aktenkundige Aussage der MS vor der Steuerfahndung zu berücksichtigen. Auf die Frage, wer Chef der Firma gewesen sei, habe diese geantwortet, dies sei ihres Wissens nach VP gewesen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Beschwerde ist begründet. Das angefochtene Urteil wird aufgehoben und der Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückverwiesen (§ 116 Abs. 6 FGO).
1. Die Vorentscheidung ist aufzuheben, weil das FG gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme verstoßen und bei seiner Entscheidung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens berücksichtigt hat.
a) Nach § 81 Abs. 1 Satz 1 FGO hat das Gericht den Beweis in der mündlichen Verhandlung zu erheben. Der Sinn des Grundsatzes der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme und des aus ihm folgenden Gebots, Zeugen grundsätzlich selbst zu hören und sich nicht mit nur schriftlich übermittelten Bekundungen derselben zu begnügen, besteht darin, es dem Gericht zu ermöglichen, aufgrund des persönlichen Eindrucks von den Zeugen und durch kritische Nachfrage die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen zu überprüfen (vgl. BFH-Beschluss vom 26. Juli 2010 VIII B 198/09, BFH/NV 2010, 2096, m.w.N.).
aa) Entgegen der Ansicht der Kläger hat das FG allerdings nicht dadurch gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme verstoßen, dass es die Niederschriften über die Vernehmung von Zeugen bei seiner Entscheidung verwertete. Denn mittelbare (schriftliche) Beweismittel können, wie das FG zu Recht entschieden hat, dann verwertet werden, wenn die Erhebung des unmittelbaren Beweises unmöglich, unzulässig oder unzumutbar ist. So lagen die Verhältnisse im Streitfall, nachdem VP dem FG mitgeteilt hatte, dass sie von ihrem Zeugnisverweigerungsrecht Gebrauch mache. In diesem Falle besteht für die schriftliche Aussage kein Beweisverwertungsverbot (Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 26. April 1988 VII R 124/85, BFHE 153, 463, Leitsatz 3 sowie unter II.2.a; FG Köln vom 10. November 1998 15 K 4994/93, Entscheidungen der Finanzgerichte 1999, 451, sowie BFH-Beschluss vom 30. März 1990 VIII B 131/88, BFH/NV 1991, 461), denn der Widerruf des Verzichts wirkt nicht zurück (Schuster in Hübschmann/Hepp/ Spitaler ‑‑HHSp‑‑, § 101 AO Rz 24, m.w.N.). Entgegen der Auffassung der Kläger hat das FG auch keinen Verfahrensfehler begangen, indem es die Aussage der VP nicht in vollem Umfang in der mündlichen Verhandlung verlesen hat. Da die FGO und die nach § 155 FGO sinngemäß anzuwendenden Vorschriften der ZPO keine dem § 249 der Strafprozessordnung (StPO) entsprechende Vorschrift kennen, ist es nicht erforderlich, Niederschriften über frühere Aussagen von Zeugen in der mündlichen Verhandlung zu verlesen (BFH-Beschluss vom 1. Oktober 2002 VII B 91/02, BFH/NV 2003, 192, unter II.d; BFH-Urteil vom 15. Juli 1987 X R 19/80, BFHE 150, 459, 469, BStBl II 1987, 746, 751).
bb) Das FG begeht allerdings dann einen Verstoß gegen den Grundsatz der Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme, wenn im Urteil nicht zum Ausdruck kommt, dass der unterschiedliche Beweiswert von Urkunden- und Zeugenbeweis gesehen und bei der Urteilsfindung berücksichtigt wird (BFH-Beschlüsse vom 12. Januar 2016 VII B 111/15, BFH/NV 2016, 579, unter II.1., Rz 7, sowie in BFH/NV 2010, 2096; Schallmoser in HHSp, § 81 FGO Rz 30).
Im Streitfall hat das FG auf S. 19 des Urteils die schriftliche Aussage der VP als glaubhaft gewürdigt und ihr besonderes Gewicht bei seiner Überzeugungsbildung eingeräumt. Dies ergibt sich daraus, dass die Aussagen der in der mündlichen Verhandlung vernommenen Zeuginnen zur Unterstützung der schriftlichen Aussage der VP herangezogen wurden. Damit hat das FG nicht den unterschiedlichen Beweiswert einer lediglich protokollierten Aussage und des Zeugenbeweises beachtet, sondern die Aussage der VP wie eine Zeugenaussage verwertet. Das FG hat bei seiner Beweiswürdigung somit nicht berücksichtigt, dass im Hinblick auf den fehlenden Eindruck des Gerichts von der Glaubwürdigkeit der Zeugin VP deren aktenkundige Vernehmung nur ein eingeschränkter Beweiswert beigemessen werden kann. Hierin liegt ein Verstoß gegen den Grundsatz der formellen Unmittelbarkeit der Beweisaufnahme (BFH-Beschluss in BFH/NV 2010, 2096).
b) Ein Verfahrensmangel i.S. von § 96 Abs. 1 FGO ist gegeben, wenn das FG bei seiner Entscheidung nicht das Gesamtergebnis des Verfahrens zugrunde legt, insbesondere wenn das Gericht bei seiner Entscheidung von einem Sachverhalt ausgeht, welcher dem schriftlichen oder protokollierten Vorbringen der Beteiligten widerspricht, oder wenn das Gericht eine nach den Akten klar feststehende Tatsache unberücksichtigt gelassen hat (vgl. BFH-Beschluss vom 30. Mai 2007 X B 176/06, BFH/NV 2007, 1698, m.w.N.).
Im Streitfall lagen dem FG die Akten des FA vor und damit auch die darin enthaltene schriftlich protokollierte Aussage der MS bei der Steuerfahndung. Diese hat das FG jedoch weder im Tatbestand seiner Entscheidung erwähnt noch bei seiner Würdigung in den Entscheidungsgründen berücksichtigt. Dies war nicht nur deshalb geboten, weil die Aussage der MS hinsichtlich der Frage nach der Geschäftsführung der K-GmbH ergiebig war, sondern auch deshalb, weil das FG die ebenfalls "nur" protokollierte Aussage der VP bei seiner Entscheidungsfindung herangezogen hat.
2. Die Kläger haben diese Verfahrensfehler ordnungsgemäß i.S. von § 116 Abs. 3 Satz 3 FGO gerügt. Es ist nicht völlig ausgeschlossen, dass die Vorentscheidung anders ausgefallen wäre, wenn das FG bei seiner Würdigung den geringeren Beweiswert der protokollierten Aussage von VP und die dem möglicherweise entgegenstehende Aussage der MS berücksichtigt hätte.
3. Da das Urteil bereits aufgrund der o.g. Verfahrensfehler keinen Bestand haben kann, bedarf es keines Eingehens auf das weitere Vorbringen der Kläger. Von einer weiteren Begründung wird daher nach § 116 Abs. 5 Satz 2 FGO, der auch für den Beschluss nach § 116 Abs. 6 FGO gilt, abgesehen (vgl. BFH-Beschlüsse vom 25. Oktober 2012 X B 22/12, BFH/NV 2013, 226; vom 23. September 2002 IV B 156/00, BFH/NV 2003, 191).
4. Da von einem nachfolgenden Revisionsverfahren auf der Grundlage der bisherigen Feststellungen keine weitere rechtliche Klärung zu erwarten ist, hält es der Senat für zweckmäßig, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Rechtsstreit zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung an das FG zurückzuverweisen (§ 116 Abs. 6 FGO).
Dabei hat das FG auch zu prüfen, ob einer Verwertung der schriftlichen Aussage der VP entgegensteht, dass sie zwar über ihr Zeugnisverweigerungsrecht hinsichtlich ihrer Schwester, nicht aber hinsichtlich ihres Schwagers belehrt wurde. Ein Zeugnisverweigerungsrecht besteht nach § 101 i.V.m. § 15 Abs. 1 Nr. 6 AO zwar auch gegenüber Schwager und Schwägerin, dies setzt aber eine Eheschließung der Schwester voraus. Die Ehe muss entweder nach deutschem Recht wirksam geschlossen oder bei im Ausland geschlossener Ehe in der Bundesrepublik Deutschland anzuerkennen sein (Hummel in Gosch, AO § 15 Rz 16); eine Interpretation des Angehörigenbegriffs nach wirtschaftlichen Gesichtspunkten scheidet dagegen aus (Musil in HHSp, § 15 AO Rz 9). Soweit aus den vorliegenden Akten (Ermittlungsberichte) ersichtlich, leben die Kläger aufgrund einer Ehe nach "tamilischer Tradition" zusammen. Ob dieses Zusammenleben die Anforderungen einer Ehe erfüllt, ist daher vom FG zu prüfen. Sofern danach eine wirksame Ehe vorliegen sollte, ist weiter zu prüfen, ob die Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht gegenüber der Schwester auch eine Belehrung über das Zeugnisverweigerungsrecht gegenüber dem Schwager umfassen kann.
5. Die Übertragung der Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.