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Urteil vom 22. August 2019, V R 47/17

Zum Zeitpunkt der Steuerentstehung bei Sollversteuerung

ECLI:DE:BFH:2019:U.220819.VR47.17.0

BFH V. Senat

UStG § 13 Abs 1 Nr 1 Buchst a, UStG § 16 Abs 1, EWGRL 388/77 Art 10 Abs 2 S 2, FGO § 118 Abs 2, BGB § 133, BGB § 157, UStG VZ 2006 , EGRL 112/2006 Art 64, UStG § 1 Abs 1 Nr 1, EWGRL 388/77 Art 2 Nr 1

vorgehend FG Münster, 27. September 2017, Az: 5 K 1117/16 U

Leitsätze

1. Auf den Zeitpunkt der Entrichtung des Entgeltes kommt es für die Steuerentstehung bei Sollversteuerung nicht an .

2. Da § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 3 UStG nicht unionsrechtskonform auslegbar ist, setzt die Anwendung von Art. 10 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 77/388/EWG (nunmehr Art. 64 MwStSystRL) voraus, dass der Steuerpflichtige sich auf die Vorschrift beruft .

Tenor

Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Finanzgerichts Münster vom 28.09.2017 - 5 K 1117/16 U wird als unbegründet zurückgewiesen.

Die Kosten des Revisionsverfahrens hat der Beklagte zu tragen.

Tatbestand

I.

  1. Streitig im Revisionsverfahren ist, ob eine Zahlung im Zusammenhang mit der Schließung eines Bahnübergangs Schadensersatz oder umsatzsteuerliches Entgelt darstellt und ob im Falle der Annahme eines steuerbaren Umsatzes dieser im Streitjahr (2006) zu erfassen ist.

  2. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist Landwirt. Er hat seinen Betrieb mit Wirkung zum 30.06.2009 im Wege der vorweggenommenen Erbfolge auf seinen Sohn übertragen.

  3. Beim Bau einer parallel zur Bundesstraße xxx gelegenen Eisenbahnlinie wurden von der Eisenbahngesellschaft für die betroffenen Landwirte Übergänge über die Bahngleise geschaffen. Einzelvertragliche Vereinbarungen und grundbuchliche Eintragungen im Hinblick auf ein Querungsrecht des Klägers bestanden nicht. Mit Schreiben der Flurbereinigungsbehörde vom 28.05.1999 wurde dem Kläger mitgeteilt, dass die bestehenden Übergänge, Straßen und Wirtschaftswege durch den Wege- und Gewässerplan nach § 41 des Flurbereinigungsgesetzes als öffentliche bzw. gemeinschaftliche Anlagen planfestgestellt worden sind. Der Bahnübergang gewährleistete den unmittelbaren Zugang von der Hofstelle zu den jenseits der Bahntrasse gelegenen landwirtschaftlich genutzten Eigentumsflächen des Klägers.

  4. Die DB Netz AG beabsichtigte aus Gründen der Sicherheit und Abwicklung des Verkehrs die Schließung von Privatweg-Bahnübergängen, u.a. auch den des Klägers. Mit Planfeststellungsbeschluss vom 14.10.2003 wurde gemäß § 18 des Allgemeinen Eisenbahngesetzes der Plan der DB Netz AG für die Schließung des Bahnübergangs festgestellt. Die Entscheidung enthielt unter Gliederungspunkt II (Entscheidungen, Auflagen, Bedingungen, Befristungen) u.a. folgende Regelungen:

     "…

    3. Die Schließung des Bahnübergangs darf erst erfolgen, wenn der Ersatzweg fertiggestellt ist.

    4. Für die Mehrwege des Einwenders D (= Kläger) ist für die Bewirtschaftung der landwirtschaftlichen Flächen eine Entschädigung zu leisten. Das Nähere ist dem Entschädigungsverfahren vorbehalten.

    ..."

  5. Die durch die Schließung des Bahnübergangs erforderlichen Umwege des Klägers für Fahrten zu seinen jenseits der Bahntrasse liegenden Flächen betrugen ca. 1 500 m (einfacher Weg).

  6. Der Kläger versuchte zunächst mit einer Klage vor dem Verwaltungsgericht N gegen den Planfeststellungsbeschluss die Schließung seines Bahnübergangs zu verhindern. Mit Vereinbarung vom 18.05.2005 zwischen der DB Netz AG und dem Kläger stimmte der Kläger der Aufhebung des Bahnübergangs zu. Die DB Netz AG verpflichtete sich in der vorgenannten Vereinbarung zum Bau eines Ersatzwegs und für die aus der Bahnübergangsaufhebung resultierenden Betriebserschwernisse zur Zahlung eines Entschädigungsbetrags von 128.369,93 €. Auch die aus der Entschädigungszahlung entstehenden Steuerbelastungen sollten dem Kläger von der DB Netz AG erstattet werden. Der Bahnübergang sollte erst nach Fertigstellung der Sicherungsanlage an einem anderen Bahnübergang, zu dem der zu bauende Ersatzweg führte, und nach Fertigstellung des Ersatzwegs geschlossen werden. Die Entschädigungszahlung war nach Schließung des Bahnübergangs zu zahlen. Die verwaltungsgerichtliche Klage gegen den Planfeststellungsbeschluss nahm der Kläger mit Schriftsatz vom 18.05.2005 zurück. Die Schließung des Bahnübergangs erfolgte im Streitjahr 2006.

  7. Die Höhe der Entschädigungszahlung von 128.369,93 € beruht auf einem Gutachten des von der Landwirtschaftskammer NRW öffentlich bestellten und vereidigten Sachverständigen Dipl.-Ing. HI vom 25.09.2000. Das per 13.01.2005 aktualisierte Gutachten geht bei einer Ausgangsgröße von 191.245 € von einer Verminderung um die Position „Umweg mit Ersatzweg“ um 62.875,07 € auf 128.369,93 € aus, weil dem Kläger die Nutzungsmöglichkeit am neu zu schaffenden Ersatzweg gegengerechnet wurde.

  8.  

    Der Kläger erhielt folgende Zahlungen von der DB Netz AG:

      

    1) 20.12.2006:

    128.369,93 €

      
      

    2) 12.11.2008:

    54.819,64 €

      
      

    3) 2010/2011:

    23.247,91 €

      
      

    4) 2012/2013:

      5.744,50 €

      
      

    Gesamt:

    212.181,98 €

  9. Die Zahlungen zu 2) bis 4) erfolgten zur Abgeltung der Einkommensteuer des Klägers gemäß § 2 Abs. 3 der Vereinbarung. Eine Umsatzsteuererklärung für das Streitjahr hat der Kläger nicht abgegeben.

  10. Am 05.02.2013 begann eine Betriebsprüfung des Finanzamtes für Groß- und Konzernbetriebsprüfung N beim Kläger für 2006 bis 2008. Der Prüfer war der Auffassung, der Kläger habe eine Leistung an die DB Netz AG erbracht, die nicht unter die Durchschnittssatzbesteuerung nach § 24 des Umsatzsteuergesetzes (UStG) falle und dem Regelsteuersatz unterliege. Die an den Kläger gezahlte Entschädigung für Wirtschaftserschwernisse in Höhe von brutto insgesamt 212.181,98 € sei umsatzsteuerliches Entgelt (Nettoentgelt: 182.915,50 €, Umsatzsteuer: 29.266,49 €).

  11. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) erließ nach Maßgabe des Betriebsprüfungs-Berichts am 24.07.2014 einen erstmaligen Umsatzsteuerbescheid für 2006 und setzte darin die Umsatzsteuer in Höhe von 29.266,40 € fest. Der dagegen vom Kläger fristgemäß eingelegte Einspruch war erfolglos.

  12. Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2017, 1834 veröffentlichten Urteil statt. Die streitbefangene Entschädigung stelle zwar keinen Schadensersatz dar, sondern umsatzsteuerrechtliches Entgelt, das für eine Leistung des Klägers gezahlt worden sei. Die Leistung des Klägers sei aber nicht im Streitjahr 2006, sondern im Jahr 2005 zu erfassen.

  13. Hiergegen wendet sich das FA mit der Revision.

  14. Die steuerbare Leistung des Klägers habe nicht in dem mit der Klagerücknahme am 18.05.2005 verbundenen Verzicht auf seine bisherige Rechtsposition bestanden, sondern in der Erfüllung der wechselseitigen Verpflichtungen im Jahr 2006.

  15. Das FA beantragt,
    das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.

  16. Der Kläger beantragt,
    die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

II.

  1. Die Revision des FA ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG hat zutreffend entschieden, dass die steuerpflichtige Leistung des Klägers im Jahr 2005 ausgeführt und folglich im Streitjahr (2006) nicht zu erfassen ist.

  2. 1. Das FG hat zu Recht entschieden, dass es sich bei der Rücknahme der Klage gegen den Planfeststellungsbeschluss vor dem Verwaltungsgericht durch den Kläger umsatzsteuerrechtlich um eine steuerbare und steuerpflichtige Leistung handelt. Eine steuerbare Leistung (§ 1 Abs. 1 Nr. 1 UStG, Art. 2 Nr. 1 der Richtlinie 77/388/EWG) liegt nach der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) und des Bundesfinanzhofs (BFH) vor, wenn zwischen Leistung und Gegenleistung ein unmittelbarer Zusammenhang besteht, der sich regelmäßig aus dem "Rechtsverhältnis", d.h. den vertraglichen Beziehungen zwischen Leistendem und Leistungsempfänger ergibt (BFH-Urteile vom 31.05.2017 - XI R 2/14, BFHE 258, 191, BStBl II 2017, 1024; vom 04.07.2013 - V R 33/11, BFHE 242, 280, BStBl II 2013, 937; vom 20.03.2013 - XI R 6/11, BFHE 241, 191, BStBl II 2014, 206 mit zahlreichen Nachweisen aus der Rechtsprechung des EuGH und des BFH). Das ist hier der Fall, weil durch die Vereinbarung vom 18.05.2005 die Klagerücknahme durch den Kläger auf der einen Seite und die Verpflichtung der DB Bau AG zum Bau eines Ersatzwegs und zur Zahlung eines „Entschädigungsbetrags“ von 128.369,93 € auf der anderen Seite in einem unmittelbaren Zusammenhang miteinander verknüpft wurden.

  3. 2. Das FG hat zudem zu Recht entschieden, dass die vom Kläger erbrachte streitbefangene Leistung die im Zuge der Vereinbarung vom 18.05.2005 am selben Tag erklärte Klagerücknahme ist und die Steuer gemäß § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a UStG damit vor dem Streitjahr 2006 entstanden ist (vgl. BFH-Urteil vom 06.04.2016 - V R 12/15, BFHE 253, 475, BStBl II 2017, 188).

  4. a) Die Steuer entsteht nach § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Sätze 1 und 2 UStG für Lieferungen und sonstige Leistungen bei der Berechnung der Steuer nach vereinbarten Entgelten (§ 16 Abs. 1 Satz 1 UStG) mit Ablauf des Voranmeldungszeitraums, in dem die Leistungen oder Teilleistungen ausgeführt worden sind (sog. Sollbesteuerung).

  5. Die Vorschrift beruht unionsrechtlich auf Art. 10 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 77/388/EWG. Danach treten Steuertatbestand und Steueranspruch zu dem Zeitpunkt ein, zu dem die Lieferung von Gegenständen bewirkt oder die Dienstleistung erbracht wird (BFH-Urteil vom 24.10.2013 - V R 31/12, BFHE 243, 451, BStBl II 2015, 674).

  6. b) Die Auslegung der in der Vereinbarung vom 18.05.2005 abgegebenen Willenserklärungen (zur Maßgeblichkeit der schuldrechtlichen Vertragsbeziehung und deren Auslegung unter Berücksichtigung des Empfängerhorizonts vgl. BFH-Urteile vom 24.08.2006 - V R 16/05, BFHE 215, 311, BStBl II 2007, 340; vom 07.05.1987 - V R 85/77, BFH/NV 1988, 53; vom 13.03.1987 - V R 33/79, BFHE 149, 313, BStBl II 1987, 524; vom 24.09.1987 - V R 152/78, BFHE 151, 90, BStBl II 1988, 29; vom 12.01.2011 - II R 30/09, BFH/NV 2011, 755) durch das FG hat ergeben, dass die Leistung des Klägers in der Rücknahme der Klage am 18.05.2005 bestand. Hierauf kam es der DB Netz AG an, um Planungssicherheit zu haben und die mit einem Prozess verbundenen Risiken zu vermeiden. An diese Vertragsauslegung ist der Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO gebunden, da sie den Grundsätzen der §§ 133, 157 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) entspricht und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt, d.h. jedenfalls möglich ist (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteile vom 27.01.2011 - V R 6/09, BFH/NV 2011, 1733; vom 28.10.2009 - IX R 17/09, BFHE 227, 349, BStBl II 2010, 539; vom 03.11.2011 - V R 16/09, BFHE 235, 547, BStBl II 2012, 378).

  7. Auf den Zeitpunkt in den das Entgelt (hier die „Entschädigungszahlung“ und die Errichtung des Ersatzwegs) entrichtet wird, kommt es für die Steuerentstehung bei der Sollversteuerung nicht an (BFH-Urteil in BFHE 243, 451, BStBl II 2015, 674; Umsatzsteuer-Anwendungserlass 13.1 Abs. 1; Sölch/Ringleb/Leipold, 85. EL März 2019, UStG § 13 Rz 27; Bunjes/Leonard, 18. Aufl. 2019, UStG § 13 Rz 11).

  8. c) Aus Art. 10 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 77/388/EWG ergibt sich für das Streitjahr nichts anderes. Danach gelten Lieferungen von Gegenständen außer in den in Art. 5 Abs. 4 Buchst. b der Richtlinie 77/388/EWG benannten Fällen und Dienstleistungen, die zu aufeinander folgenden Abrechnungen oder Zahlungen Anlass geben, als mit Ablauf des Zeitraums bewirkt, auf den sich diese Abrechnungen oder Zahlungen beziehen. Zwar hat der BFH im Anschluss an das EuGH-Urteil baumgarten sports & more vom 29.11.2018 - C-548/17 (EU:C:2018:970) entschieden, dass hierfür keine zeitraumbezogene Leistungshandlung erforderlich ist und auch Vermittlungsleistungen, die sich nach der Leistungshandlung auf die Vermittlung des Eintritts eines bestimmten Ereignisses beschränken, unter diese Regelung fallen, wenn die Vermittlungsleistung nach der Dauerhaftigkeit des vermittelten Erfolges vergütet wird (BFH-Urteil vom 26.06.2019 - V R 8/19 (V R 51/16), BFH/NV 2019, 1211). Der Senat hat nicht zu entscheiden, ob die Voraussetzungen vorliegend erfüllt sein könnten. Denn § 13 Abs. 1 Nr. 1 Buchst. a Satz 3 UStG ist nicht unionsrechtskonform und kann auch nicht unionsrechtskonform ausgelegt werden. Die Anwendung von Art. 10 Abs. 2 Satz 2 der Richtlinie 77/388/EWG setzt vielmehr voraus, dass der Steuerpflichtige sich auf diese Vorschrift beruft (BFH-Urteil in BFH/NV 2019, 1211). Das aber hat der Kläger nicht getan.

  9. d) Über andere Besteuerungszeiträume als das Streitjahr 2006 war im vorliegenden Revisionsverfahren nicht zu entscheiden.

  10. 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.

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