ECLI:DE:BFH:2017:U.300317.VIR55.15.0
BFH VI. Senat
FGO § 118 Abs 2, EStG § 33 Abs 1, EStG § 33 Abs 3 S 1, SGB 11 § 71 Abs 2, SGB 11 § 82 Abs 1 S 1, SGB 11 § 84 Abs 1
vorgehend FG München, 19. October 2015, Az: 10 K 2393/14
Leitsätze
NV: Macht der Steuerpflichtige geltend, trotz seiner vollstationären Unterbringung in einem Pflegeheim seien zusätzliche pflegerische Leistungen notwendig, die von dem Pflegeheim nicht erbracht würden und für die deshalb noch ambulante Pflegekräfte beschäftigt werden müssten, obliegt ihm die entsprechende Darlegungs- und Feststellungslast.
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Finanzgerichts München, Außensenate Augsburg, vom 20. Oktober 2015 10 K 2393/14 aufgehoben.
Die angefochtenen Einkommensteuerbescheide 2009 bis 2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 5. August 2014 werden dahingehend geändert, dass die zumutbare Belastung jeweils um 664 € gemindert wird.
Die Berechnung der Steuer wird dem Beklagten übertragen.
Im Übrigen wird die Klage abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat die Klägerin zu tragen.
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist die Gesamtrechtsnachfolgerin der am ... verstorbenen M, ihrer Mutter. M litt in den Streitjahren (2009 bis 2012) unter Morbus Parkinson und wurde seit ... 2011 mit einer Sonde künstlich ernährt. Sie war in den Streitjahren im Seniorenheim X in Y vollstationär untergebracht und zunächst mit einem Gesamtzeitbedarf von 100 Minuten pro Tag in Pflegestufe I, ab ... 2011 mit einem Gesamtzeitbedarf von 267 Minuten pro Tag in Pflegestufe II eingestuft.
Die Klägerin machte als Betreuerin bzw. Gesamtrechtsnachfolgerin von M in deren Steuererklärungen für die Streitjahre u.a. außergewöhnliche Belastungen aufgrund der krankheitsbedingten Unterbringung in dem Pflegeheim geltend sowie zusätzlich wegen der Beschäftigung von privaten Arbeitskräften ("Pflegekräften") - letztere in Höhe von 55.511 € für 2009, 57.958 € für 2010, 59.781 € für 2011 und 59.949 € für 2012.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) berücksichtigte bei der Veranlagung für die Streitjahre nur die geltend gemachten Kosten für die Unterbringung und Pflege im Pflegeheim (jeweils abzüglich des von der Pflegekasse geleisteten Kostenanteils sowie der Haushaltsersparnis) als außergewöhnliche Belastung. Die geltend gemachten Kosten für die Beschäftigung der privaten Arbeitskräfte berücksichtigte er lediglich im Rahmen der haushaltsnahen Dienstleistungen (§ 35a Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes ‑‑EStG‑‑) in Höhe von jährlich 4.000 €.
Gegen die Bescheide legte die Klägerin jeweils Einspruch ein, die das FA als unbegründet zurückwies. Außergewöhnliche Belastungen berücksichtigte das FA zuletzt wie folgt:
2009
2010
2011
2012
Außergewöhnliche Belastung
3.678 €
7.267 €
8.104 €
10.183 €
abzgl. zumutbare Belastung
- 4.190 €
- 5.168 €
- 4.824 €
- 3.897 €
= Überbelastung
0 €
2.099 €
3.280 €
6.286 €
Die hiergegen gerichtete Klage wies das Finanzgericht (FG) aus den in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2016, 120 veröffentlichen Gründen ab, da es bei den geltend gemachten Aufwendungen für die Beschäftigung der privaten "Pflegekräfte" an der erforderlichen Angemessenheit fehle.
Mit der Revision rügt die Klägerin die Verletzung materiellen Rechts.
Sie beantragt,
den Gerichtsbescheid des FG aufzuheben und die angefochtenen Einkommensteuerbescheide 2009 bis 2012 in Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 5. August 2014 dergestalt zu ändern, dass weitere außergewöhnliche Belastungen in Höhe von 55.511 € (2009), 57.958 € (2010), 59.781 € (2011) und 59.949 € (2012) berücksichtigt werden.Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision der Klägerin ist nur in geringem Umfang begründet. Sie führt insoweit zur Aufhebung der Vorentscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑) sowie zur Stattgabe der Klage, als bei den Einkommensteuerfestsetzungen 2009 bis 2012 die zumutbare Belastung jeweils um 664 € zu mindern ist. Die Kosten für die privaten Arbeitskräfte hat das FG im Ergebnis jedoch zu Recht nicht als außergewöhnliche Belastungen berücksichtigt.
1. Nach § 33 Abs. 1 EStG wird die Einkommensteuer auf Antrag ermäßigt, wenn einem Steuerpflichtigen zwangsläufig größere Aufwendungen als der überwiegenden Mehrzahl der Steuerpflichtigen gleicher Einkommensverhältnisse, gleicher Vermögensverhältnisse und gleichen Familienstands erwachsen (außergewöhnliche Belastung). Aufwendungen erwachsen dem Steuerpflichtigen zwangsläufig, wenn er sich ihnen aus rechtlichen, tatsächlichen oder sittlichen Gründen nicht entziehen kann und soweit die Aufwendungen den Umständen nach notwendig sind und einen angemessenen Betrag nicht übersteigen (§ 33 Abs. 2 Satz 1 EStG). Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) sind Aufwendungen außergewöhnlich, wenn sie nicht nur ihrer Höhe, sondern auch ihrer Art und dem Grunde nach außerhalb des Üblichen liegen. Die üblichen Aufwendungen der Lebensführung, die in Höhe des Existenzminimums durch den Grundfreibetrag abgegolten sind, sind aus dem Anwendungsbereich des § 33 EStG ausgeschlossen (z.B. BFH-Urteile vom 18. April 2002 III R 15/00, BFHE 199, 135, BStBl II 2003, 70; vom 10. Mai 2007 III R 39/05, BFHE 218, 136, BStBl II 2007, 764; vom 25. Juli 2007 III R 64/06, BFH/NV 2008, 200).
2. In ständiger Rechtsprechung geht der BFH davon aus, dass Krankheitskosten dem Steuerpflichtigen aus tatsächlichen Gründen zwangsläufig erwachsen. Dies gilt auch für Aufwendungen für die Pflege eines Steuerpflichtigen, der infolge einer Krankheit in einem Pflegeheim untergebracht ist. Es gelten insoweit die allgemeinen Grundsätze über die Abziehbarkeit von Krankheitskosten (Senatsurteil vom 9. Dezember 2010 VI R 14/09, BFHE 232, 343, BStBl II 2011, 1011).
3. Die im Streitfall angefallenen Aufwendungen für die vollstationäre Unterbringung im Pflegeheim sind außergewöhnliche Belastungen. Anlass und Grund für den Umzug der M in das Heim war nach den bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) ihre durch Krankheit eingetretene Pflegebedürftigkeit; es lag somit eine krankheitsbedingte Unterbringung im Pflegeheim vor. Dies ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig. Das FA hat die von M an die Einrichtung geleisteten Beträge für Unterbringung, Verpflegung und Pflege abzüglich des von der Pflegekasse getragenen Kostenanteils und der Haushaltsersparnis dementsprechend als außergewöhnliche Belastungen berücksichtigt.
4. Die von M zusätzlich geleisteten Aufwendungen für die Beschäftigung der privaten Arbeitskräfte sind vorliegend dagegen nicht als außergewöhnliche Belastungen zu berücksichtigen. Insoweit fehlt es bereits an einer entsprechenden substantiierten Darlegung.
a) Zwar ist das FG davon ausgegangen, bei der Beschäftigung des "Pflegepersonals" habe es sich um "Maßnahmen einer Kranken- und Heilbehandlung" gehandelt. Diese Annahme des FG wird indes durch keinerlei Sachverhaltsfeststellungen gestützt. Da insoweit mithin nicht nachvollziehbar ist, wie das FG zu dieser Folgerung gelangt ist, ist der Senat hieran auch ohne entsprechende Rüge nicht nach § 118 Abs. 2 FGO gebunden (vgl. z.B. BFH-Urteil vom 25. Juni 2003 X R 72/98, BFHE 202, 514, BStBl II 2004, 403).
b) Ob und in welchem Umfang ein Steuerpflichtiger der Pflege bedarf, ergibt sich in der Regel aus den Gutachten des Medizinischen Dienstes zur Feststellung der Pflegebedürftigkeit.
aa) Ausweislich der im Streitfall vorgelegten Gutachten war M zunächst infolge einer ersten Begutachtung seit ... 2006 in Pflegestufe I eingereiht. Als erforderliche Pflege wurden 100 Minuten pro Tag angesetzt (davon Grundpflege 55 Minuten und Hauswirtschaft 45 Minuten). Die hauswirtschaftliche Versorgung umfasste Einkaufen, Kochen, die Reinigung der Wohnung, Spülen sowie Wäsche und Kleidungspflege. Zur Körperpflege gehörten die Unterstützung oder Teilübernahme bei der Ganzkörperwäsche, Teilwäsche Unterkörper, Baden, Zahnpflege, Kämmen, Hilfe beim Toilettengang und dergleichen sowie Hilfe bei der Ernährung, Ankleiden, Entkleiden etc. Die Behandlungspflege umfasste eine dreimal tägliche Medikamentenverabreichung.
Im ... 2011 wurde M erneut begutachtet und nun die Pflegestufe II mit der Erforderlichkeit einer vollstationären Unterbringung anerkannt. Der Zeitbedarf für die Körperpflege wurde mit 97 Minuten, bei der Ernährung mit 30 Minuten, für die Mobilität mit 80 Minuten und für die Hauswirtschaft mit 60 Minuten je Tag (insgesamt 267 Minuten) veranschlagt.
bb) Einen atypischen Pflegebedarf lassen die Gutachten nicht erkennen, so dass zunächst davon auszugehen ist, dass das Pflegeheim, in dem M vollstationär untergebracht war, die gesamten pflegerischen Bedarfe sichergestellt hat. Denn unter einer vollstationären Pflege versteht man allgemein die dauerhafte Unterbringung in einer Einrichtung (z.B. einem Pflegeheim), in der die Bewohner Tag und Nacht, d.h. "rund um die Uhr", betreut werden (vgl. § 71 Abs. 2 des Elften Buches Sozialgesetzbuch ‑‑SGB XI‑‑). Dabei wird die komplette Versorgung inklusive Unterkunft, Verpflegung und Pflege entsprechend der jeweiligen Pflegestufe (seit 1. Januar 2017: Pflegegrad) übernommen. Die leistungsgerechte Vergütung, die zugelassene Pflegeheime bei stationärer Pflege nach § 82 Abs. 1 Satz 1 SGB XI erhalten, umfasst zudem nicht nur die voll- oder teilstationären Pflegeleistungen, sondern auch die medizinische Behandlungspflege und die soziale Betreuung (§ 84 Abs. 1 SGB XI).
cc) Es mag zwar denkbar sein, dass trotz der Unterbringung in einem Pflegeheim nach § 71 Abs. 2 SGB XI zusätzliche pflegerische Leistungen notwendig sind, die vom Pflegeheim nicht erbracht werden und für die deshalb noch ambulante Pflegekräfte beschäftigt werden müssen. Für diesen Fall hat der Steuerpflichtige aber nachvollziehbar darzulegen und nachzuweisen, welchen pflegerischen Bedarf er hatte, und dass und warum dieser nicht vom Pflegeheim gedeckt werden konnte.
dd) Entsprechendes hat die Klägerin nicht dargetan, obwohl ihr insoweit die Darlegungslast oblag. Sie hat noch nicht einmal die Leistungen der privaten Arbeitskräfte im Einzelnen beschrieben, sondern sich lediglich wiederholt darauf berufen, deren Tätigkeiten seien aufgrund der Schwere der Erkrankung der M erforderlich gewesen und hätten dazu gedient, diese erträglicher zu machen. Auch aus dem im Einspruchsverfahren vorgelegten privatärztlichen Attest ergibt sich weder ein über den in den Gutachten des Medizinischen Dienstes festgestellten hinausgehender Pflegebedarf noch erschließt sich, zu welchen Pflegeleistungen die privaten Arbeitskräfte ‑‑zumal in dem tatsächlich entlohnten Umfang‑‑ herangezogen wurden. Der Auf-forderung des FA, eine Bescheinigung der Heimleitung über die Notwendigkeit einer zusätzlichen Pflege vorzulegen, ist die Klägerin ebenfalls nicht nachgekommen.
5. Die bislang vom FA berücksichtigte zumutbare Belastung nach § 33 Abs. 3 EStG ist entsprechend den Ausführungen im Urteil des erkennenden Senats vom 19. Januar 2017 VI R 75/14 (BFHE 256, 339) stufenweise zu ermitteln und entsprechend jeweils um 664 € zu mindern.
6. Die Berechnung der Steuer wird dem FA übertragen (§ 100 Abs. 2 Satz 2 FGO).
7. Die Kostenentscheidung beruht auf § 136 Abs. 1 Satz 3 FGO.