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Urteil vom 13. Juli 2016, XI R 44/13

Teilweise Parallelentscheidung zum BFH-Urteil vom 13.7.2016 XI R 33/12 - Kindergeld: Vorrangige Anspruchsberechtigung des im anderen EU-Mitgliedstaat lebenden Elternteils

ECLI:DE:BFH:2016:U.130716.XIR44.13.0

BFH XI. Senat

EStG § 64 Abs 1, EStG § 64 Abs 2 S 1, EGV 883/2004 Art 67, EGV 883/2004 Art 68, EGV 987/2009 Art 60 Abs 1 S 2, EStG VZ 2010 , EStG VZ 2011

vorgehend FG Düsseldorf, 23. April 2013, Az: 7 K 884/12 Kg

Leitsätze

NV: Der in einem anderen EU-Mitgliedstaat lebende Elternteil kann gegenüber dem im Inland lebenden Elternteil nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG i.V.m. Art. 67 der VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 vorrangig kindergeldberechtigt sein, wenn er sein Kind dort in seinen Haushalt aufgenommen hat (Anschluss an BFH-Urteil vom 4. Februar 2016 III R 17/13, BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612).

Tenor

Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 24. April 2013  7 K 884/12 Kg aufgehoben.

Die Klage wird abgewiesen.

Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.

Tatbestand

  1. I. Der seit 2005 in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) wohnende Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist selbständig tätig. Seine Kinder A, geboren im Mai 1993, und B, geboren im Dezember 1997, leben in der Republik Polen (Polen) im Haushalt ihrer Mutter, der geschiedenen Ehefrau des Klägers. Sie ist nicht erwerbstätig und erhält gemäß einer Bescheinigung des Gemeindeamtes für Hilfeleistungen in Z vom 24. März 2011 für ihre Kinder keine polnischen Familienleistungen, da sie keinen Antrag gestellt hat.

  2. Mit Bescheid vom 3. Januar 2012 lehnte die frühere Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) die Kindergeldfestsetzung für beide Kinder ab. Die Kindsmutter habe, weil sie die Kinder in ihren Haushalt aufgenommen habe, gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes (EStG) vorrangig den Anspruch auf Kindergeld. Der hiergegen eingelegte Einspruch blieb erfolglos (Einspruchsentscheidung vom 9. Februar 2012).

  3. Die dagegen erhobene Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) verpflichtete die Familienkasse ‑‑entsprechend dem Begehren des Klägers‑‑, Kindergeld für A für den Zeitraum Dezember 2010 bis Mai 2011 und für B für den Zeitraum Dezember 2010 bis November 2011 festzusetzen. Es führte aus, dem Anspruch des Klägers stehe § 64 Abs. 2 EStG nicht entgegen, denn ein Anspruch einer im EU-Ausland lebenden Betreuungsperson komme nach dieser Vorschrift nur dann in Betracht, wenn diese selbst die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 EStG erfülle.

  4. Mit der Revision rügt die Familienkasse die unzutreffende Auslegung von § 64 EStG.

  5. Bei der Beurteilung des Streitfalls sei nach Art. 67 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (Amtsblatt der Europäischen Union ‑‑ABlEU‑‑ Nr. L 166, S. 1; im Folgenden: VO Nr. 883/2004) i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der Verordnung (EG) Nr. 987/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 16. September 2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit (ABlEU Nr. L 284, S. 1; im Folgenden: VO Nr. 987/2009) zu unterstellen, dass die Kindsmutter mit den Kindern A und B in Deutschland lebe. In diesem Fall wäre sie gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG gegenüber dem Kläger vorrangig kindergeldberechtigt, da sie beide Kinder in ihren Haushalt aufgenommen habe und kein gemeinsamer Haushalt mit dem Kläger bestehe.

  6. Die Familienkasse beantragt,
    das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

  7. Der Kläger beantragt,
    die Revision zurückzuweisen.

  8. Das FG habe § 64 EStG zutreffend ausgelegt. Entgegen der Auffassung der Familienkasse sei die in Polen lebende Kindsmutter nicht vorrangig anspruchsberechtigt. Die Voraussetzungen von Art. 67 der VO Nr. 883/2004 lägen zwar in Bezug auf die Kinder, nicht jedoch in Bezug auf die Kindsmutter vor, denn sie sei als geschiedene Ehefrau keine Familienangehörige i.S. von Art. 1 Buchst. i der VO Nr. 883/2004.

  9. Mit Beschluss vom 9. März 2015 hat der Senat das Verfahren zum Ruhen gebracht, bis der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) über das bei ihm anhängige Vorabentscheidungsersuchen C-378/14 entschieden hat. Der EuGH hat mit Urteil Trapkowski vom 22. Oktober 2015 C-378/14 (EU:C:2015:720, Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst ‑‑DStRE‑‑ 2015, 1501) über die Vorlagefragen entschieden.

Entscheidungsgründe

  1. II. Im Streitfall hat zum 1. Mai 2013 ein gesetzlicher Beteiligtenwechsel stattgefunden. Beklagte und Revisionsklägerin ist nunmehr die Familienkasse X (vgl. z.B. Urteile des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 28. Mai 2013 XI R 38/11, BFH/NV 2013, 1774, Rz 14; vom 16. September 2015 XI R 10/13, BFH/NV 2016, 543, Rz 11).

III.

  1. Die Revision ist begründet. Das Urteil des FG ist aufzuheben und die Klage abzuweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).

  2. Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld dem Kläger zusteht. Vielmehr hat die in Polen lebende Kindsmutter einen vorrangigen Anspruch auf Kindergeld.

  3. 1. Der Kläger erfüllte im streitigen Zeitraum (bezüglich A: Dezember 2010 bis Mai 2011; bezüglich B: Dezember 2010 bis November 2011) nach den für den Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindenden ‑‑und zwischen den Beteiligten unstreitigen‑‑ tatsächlichen Feststellungen des FG die Voraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld.

  4. Er hatte seinen Wohnsitz im Inland (§ 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG); die ‑‑im jeweils streitigen Zeitraum noch minderjährigen‑‑ Kinder A und B sind bei ihm zu berücksichtigen (§ 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 i.V.m. § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG; § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 3 EStG). Dass die Kinder ihren Wohnsitz in Polen hatten, ist für die Kindergeldberechtigung unerheblich (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG in der bis zum 8. Dezember 2014 geltenden Fassung).

  5. 2. Allerdings ist die Kindsmutter ‑‑entgegen der Rechtsauffassung des FG‑‑ nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt.

  6. a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird für jedes Kind nur einem Berechtigten Kindergeld gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG). Ist ein Kind in den gemeinsamen Haushalt von Eltern, einem Elternteil und dessen Ehegatten, Pflegeeltern oder Großeltern aufgenommen, so bestimmen diese untereinander den Berechtigten (§ 64 Abs. 2 Satz 2 EStG).

  7. b) Anders als das FG und der Kläger meinen, ist die Kindsmutter als weitere "Berechtigte" i.S. von § 64 EStG anzusehen. Ihre Berechtigung ergibt sich aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG i.V.m. Art. 67 der VO Nr. 883/2004 und Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009, wonach zu unterstellen ist, dass die Kindsmutter mit beiden Kindern in Deutschland wohnt.

  8. aa) Nach Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 ist bei Anwendung von Art. 67 und 68 der VO Nr. 883/2004, insbesondere was das Recht einer Person zur Erhebung eines Leistungsanspruchs anbelangt, die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des betreffenden Mitgliedstaats fielen und dort wohnten. Nach Art. 67 der VO Nr. 883/2004 hat eine Person auch für Familienangehörige, die in einem anderen Mitgliedstaat wohnen, Anspruch auf Familienleistungen nach den Rechtsvorschriften des zuständigen Staats, als ob die Familienangehörigen in diesem Mitgliedstaat wohnten.

  9. bb) Nach den tatsächlichen Feststellungen des FG sind sowohl der persönliche als auch der sachliche Anwendungsbereich gemäß Art. 2 bzw. 3 der VO Nr. 883/2004 eröffnet. Die deutschen Rechtsvorschriften sind anzuwenden, da der Kläger im (jeweiligen) Streitzeitraum in Deutschland selbständig tätig war (Art. 11 Abs. 1 und 3 Buchst. a der VO Nr. 883/2004; vgl. dazu BFH-Urteile vom 10. März 2016 III R 25/12, BFH/NV 2016, 1161, Rz 17 bis 19; III R 8/13, BFH/NV 2016, 1164, Rz 18 bis 20; III R 66/13, BFH/NV 2016, 1166, Rz 16 bis 18).

  10. cc) Der EuGH hat in der Rechtssache Trapkowski (EU:C:2015:720, DStRE 2015, 1501) entschieden, dass die in Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 vorgesehene Fiktion dazu führen kann, dass der Anspruch auf Familienleistungen einer Person zusteht, die nicht in dem Mitgliedstaat wohnt, der für die Gewährung dieser Leistungen zuständig ist, sofern alle anderen durch das nationale Recht vorgeschriebenen Voraussetzungen für die Gewährung erfüllt sind. Dem folgend hat der III. Senat des BFH mit Urteilen vom 4. Februar 2016 III R 17/13 (BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, Rz 16 ff.) und in BFH/NV 2016, 1161 (Rz 20 ff.), in BFH/NV 2016, 1164 (Rz 21 ff.), in BFHE 253, 236, BStBl II 2016, 616 (Rz 19 ff.) sowie in BFH/NV 2016, 1166 (Rz 19 ff.) entschieden, dass die Anwendung von Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 dazu führt, dass die Wohnsituation der im EU-Ausland lebenden Familienangehörigen (fiktiv) in das Inland übertragen wird, d.h. die Situation der gesamten Familie in einer Weise zu berücksichtigen ist, als ob alle beteiligten Personen unter die Rechtsvorschriften des für die Gewährung der Familienleistungen zuständigen Mitgliedstaats fielen und dort wohnten. Unbeachtlich sei, ob dem in einem anderen Mitgliedstaat lebenden Familienangehörigen nach den dort geltenden Vorschriften ein Anspruch auf Familienleistungen zustehe und damit eine von Art. 68 der VO Nr. 883/2004 erfasste Konkurrenzsituation gegeben sei (BFH-Urteile in BFH/NV 2016, 1161, Rz 22; in BFH/NV 2016, 1164, Rz 23; in BFHE 253, 236, BStBl II 2016, 616, Rz 21; in BFH/NV 2016, 1166, Rz 21). Zu den "beteiligten Personen" i.S. des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 gehöre auch der andere Elternteil, da dieser nach nationalem Recht gemäß § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1 EStG berechtigt sei, für seine leiblichen Kinder Anspruch auf Kindergeld zu erheben, und deshalb als Familienangehöriger i.S. des Art. 1 Buchst. i Nr. 1 Buchst. i der VO Nr. 883/2004 anzusehen sei (BFH-Urteile in BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, Rz 18; in BFH/NV 2016, 1161, Rz 23 f.; in BFH/NV 2016, 1164, Rz 24 f.). Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung an.

  11. dd) Die Anwendung der unionsrechtlichen Fiktion führt im Streitfall dazu, dass für Zwecke der Anwendung von § 64 EStG zu unterstellen ist, dass die Kindsmutter zusammen mit beiden Kindern in einem Haushalt in Deutschland lebt.

  12. c) Die Kindsmutter erfüllt auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch.

  13. aa) Das FG hat keine Anhaltspunkte dafür festgestellt, dass die Kindsmutter eine nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländerin i.S. des § 62 Abs. 2 EStG ist. Nach den Feststellungen des FG hatte die Kindsmutter beide Kinder in ihren Haushalt in Polen aufgenommen (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).

  14. bb) Ein vorrangiger Anspruch des Klägers ergibt sich auch nicht aus § 64 Abs. 2 Satz 2 EStG. Nach den gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindenden Feststellungen des FG bestand im Streitzeitraum kein gemeinsamer Haushalt des Klägers mit der Kindsmutter und den beiden Kindern, der ‑‑gemäß der Fiktion in Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009‑‑ als gemeinsamer inländischer Haushalt gelten würde; vielmehr wohnten die Kinder im Haushalt der Kindsmutter.

  15. cc) Soweit der Kläger vorträgt, die erhöhte Unterhaltslast der Kindsmutter sei als Grund für die Anspruchsberechtigung nicht heranzuziehen, da er für beide Kinder einen monatlichen Unterhalt in Höhe von jeweils 150 € zahle, ergibt sich hieraus nichts anderes. Denn gezahlter Unterhalt ist nach der gesetzlichen Regelung (§ 64 Abs. 3 EStG) nur dann zu berücksichtigen, wenn das Kind nicht in den Haushalt eines Berechtigten aufgenommen ist (vgl. BFH-Beschluss vom 18. Februar 2008 III B 69/07, BFH/NV 2008, 448, unter II.b cc, Rz 15). Nach den Feststellungen des FG sind beide Kinder in den Haushalt der Kindsmutter (die als Berechtigte anzusehen ist, vgl. oben unter III.2.b) aufgenommen.

  16. d) Dass die Kindsmutter in Polen keinen Antrag auf Familienleistungen gestellt hat, führt nicht dazu, dass die Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 entfiele (vgl. dazu BFH-Urteil in BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, Rz 20). Es kommt auch nicht darauf an, ob die Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld in Deutschland gestellt hat (vgl. BFH-Urteile in BFH/NV 2016, 1161, Rz 32 f.; in BFH/NV 2016, 1164, Rz 29 f.). Vielmehr ist bei der Kindsmutter der Antrag des Klägers zu berücksichtigen (Art. 60 Abs. 1 Satz 3 der VO Nr. 987/2009).

  17. 3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.

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