ECLI:DE:BFH:2016:U.150616.IIIR67.13.0
BFH III. Senat
EStG § 32 Abs 1, EStG § 62 Abs 1 Nr 1, EStG § 63 Abs 1, EStG § 64 Abs 2 S 1, EGV 883/2004 Art 67, EGV 987/2009 Art 60 Abs 1, EStG VZ 2012
vorgehend FG Düsseldorf, 26. May 2013, Az: 16 K 4052/12 Kg
Leitsätze
NV: Ein in einem anderen EU-Mitgliedstaat lebender Elternteil kann gegenüber dem im Inland lebenden Elternteil nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG i.V.m. Art. 67 der VO Nr. 883/2004, Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 vorrangig kindergeldberechtigt sein, wenn er sein Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (Anschluss an Senatsurteil vom 10. März 2016 III R 62/12, BFHE 253, 236, BStBl II 2016, 616).
Tenor
Auf die Revision der Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 27. Mai 2013 16 K 4052/12 Kg aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) lebt in der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) und hat die deutsche Staatsangehörigkeit. Er ist der Vater einer im Jahre 2002 geborenen Tochter (T), die mit ihrer Mutter seit September 2008 in Frankreich wohnte. Vorher lebte die nicht mit dem Kläger verheiratete Mutter in Deutschland und bezog bis September 2008 deutsches Kindergeld. In Frankreich erhielt die Mutter kein Kindergeld, weil dieses dort erst ab dem zweiten Kind gewährt wird.
Der Kläger bezog zunächst ab Oktober 2008 Kindergeld. Mit Bescheid vom 4. Mai 2012 hob die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) die Kindergeldfestsetzung gegenüber dem Kläger ab Juni 2012 gemäß § 70 Abs. 3 des Einkommensteuergesetzes (EStG) mit der Begründung auf, die Mutter sei nach § 64 EStG vorrangig kindergeldberechtigt.
Der gegen den Aufhebungsbescheid gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 10. Oktober 2012).
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt und hob den Aufhebungsbescheid in Gestalt der Einspruchsentscheidung auf. Es war der Ansicht, der Anspruch auf Kindergeld stehe auch ab Juni 2012 dem Kläger und nicht der in Frankreich lebenden Kindsmutter zu. Aus den Art. 67, 68 der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 29. April 2004 zur Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ‑‑VO Nr. 883/2004 (Grundverordnung)‑‑ (Amtsblatt der Europäischen Union ‑‑ABlEU‑‑ 2004 Nr. L 166, S. 1) sowie aus Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der dazu ergangenen Verordnung (EG) Nr. 987/2009 zur Festlegung der Modalitäten für die Durchführung der Verordnung (EG) Nr. 883/2004 über die Koordinierung der Systeme der sozialen Sicherheit ‑‑VO Nr. 987/2009 (Durchführungsverordnung)‑‑ (ABlEU 2009 Nr. L 284, S. 1) ergebe sich nicht, dass der Anspruch auf Kindergeld vorrangig der Kindsmutter zustehe.
Gegen das Urteil richtet sich die Revision der Familienkasse, mit der sie eine unzutreffende Auslegung von § 64 EStG und damit eine Verletzung von Bundesrecht geltend macht. Die Kindsmutter sei vorrangig kindergeldberechtigt, denn es sei gemäß Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 zu unterstellen, dass sie mit dem Kind in Deutschland lebt.
Die Familienkasse beantragt,
das angefochtene Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.Der Kläger beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.Durch Beschluss vom 11. September 2014 hat der zuvor zuständige VI. Senat des Bundesfinanzhofs das Verfahren bis zur Entscheidung des Gerichtshofes der Europäischen Union (EuGH) über das Vorabentscheidungsersuchen vom 8. Mai 2014 III R 17/13 (BFHE 245, 522, BStBl II 2015, 329) ausgesetzt. Der EuGH hat mit Urteil vom 22. Oktober 2015 C-378/14 (EU:C:2015:720; Höchstrichterliche Finanzrechtsprechung 2015, 1190) in der Rechtssache Trapkowski über die Vorlagefragen entschieden.
Entscheidungsgründe
II. A. Die Familienkasse ... ist aufgrund eines Organisationsaktes im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der Bundesagentur für Arbeit ... eingetreten (vgl. Senatsurteil vom 8. Mai 2014 III R 21/12, BFHE 246, 389, BStBl II 2015, 135, Rz 11).
B. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG hat zu Unrecht entschieden, dass der Anspruch auf Kindergeld (vorrangig) dem Kläger zusteht. Der Kläger ist zwar nach nationalem Recht anspruchsberechtigt (§§ 62 ff. des Einkommensteuergesetzes ‑‑EStG‑‑). Die Anwendung von Unionsrecht führt jedoch dazu, dass der Anspruch auf Kindergeld gemäß § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig der Kindsmutter zusteht.
1. Der Kläger erfüllt die Anspruchsvoraussetzungen nach § 62 Abs. 1 Nr. 1 i.V.m. § 63 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1, § 32 Abs. 1 Nr. 1, Abs. 3 EStG. Dies wurde ‑‑für den Senat bindend (vgl. § 118 Abs. 2 FGO)‑‑ vom FG festgestellt und ist zwischen den Beteiligten auch nicht streitig. Für die Kindergeldberechtigung ist unerheblich, dass die T im Streitzeitraum ihren Wohnsitz in Frankreich hatte (§ 63 Abs. 1 Satz 3 EStG).
2. Allerdings ist die Kindsmutter nach § 64 Abs. 2 Satz 1 EStG vorrangig anspruchsberechtigt, weil sie ihre T in ihren Haushalt aufgenommen hat und gemäß Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 zu unterstellen ist, dass sie mit der T in Deutschland wohnt.
a) Nach § 64 Abs. 1 EStG wird das Kindergeld nur einem Berechtigten gezahlt. Bei mehreren Berechtigten wird das Kindergeld demjenigen gezahlt, der das Kind in seinen Haushalt aufgenommen hat (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG).
b) Im Streitfall ergibt sich die Anspruchsberechtigung der Kindsmutter aus § 62 Abs. 1 Nr. 1 EStG. Zwar liegt der nach dieser Vorschrift erforderliche Inlandswohnsitz tatsächlich nicht vor. Es finden jedoch die Vorschriften der VO Nr. 883/2004 und der VO Nr. 987/2009 Anwendung. Dadurch wird gemäß Art. 67 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2004 ein Inlandswohnsitz der Kindsmutter fingiert (dazu 4.). Zudem erfüllt die Kindsmutter auch die übrigen Voraussetzungen für eine vorrangige Anspruchsberechtigung (dazu 5. und 6.).
3. Der Anwendungsbereich der VO Nr. 883/2004 ist im Streitfall eröffnet und Deutschland ist der zuständige Mitgliedstaat.
a) Der Kläger ist deutscher Staatsangehöriger und fällt damit nach Art. 2 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 in den persönlichen Anwendungsbereich der Grundverordnung. Ebenso ist das Kindergeld nach dem EStG eine Familienleistung i.S. des Art. 1 Buchst. z der VO Nr. 883/2004, weshalb auch deren sachlicher Anwendungsbereich nach Art. 3 Abs. 1 Buchst. j der VO Nr. 883/2004 eröffnet ist.
b) Nach Art. 11 Abs. 1 der VO Nr. 883/2004 unterliegen die von dieser Verordnung erfassten Personen den Rechtsvorschriften nur eines Mitgliedstaats. Im Streitfall ergibt sich die Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften jedenfalls aus Art. 11 Abs. 3 Buchst. e der VO Nr. 883/2004.
4. Aus Art. 67 Satz 1 der VO Nr. 883/2004 i.V.m. Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009 folgt, dass die Wohnsituation der Kindsmutter (fiktiv) in das Inland übertragen wird.
Zur weiteren Begründung verweist der Senat auf seine Urteile vom 4. Februar 2016 III R 17/13 (BFHE 253, 134, BStBl II 2016, 612, Rz 18 bis 19) und vom 10. März 2016 III R 62/12 (BFHE 253, 236, BStBl II 2016, 616, Rz 19 bis 23).
5. Die Kindsmutter erfüllt neben dem Wohnsitzerfordernis auch die übrigen Voraussetzungen für einen vorrangigen Kindergeldanspruch.
Es bestehen weder Anhaltspunkte dafür, dass die Kindsmutter eine nicht freizügigkeitsberechtigte Ausländerin i.S. des § 62 Abs. 2 EStG ist, noch dass sie mit dem Kläger einen gemeinsamen Haushalt im Streitzeitraum in Frankreich hatte (§ 64 Abs. 2 Satz 2 EStG). Denn ein gemeinsamer Haushalt kann sich nicht aus der Fiktionswirkung des Art. 60 Abs. 1 Satz 2 der VO Nr. 987/2009.
6. Schließlich kommt es nicht darauf an, ob die Kindsmutter selbst einen Antrag auf Kindergeld in Deutschland gestellt hat. Auch insoweit verweist der Senat zur Vermeidung von Wiederholungen auf sein Urteil in BFHE 253, 236, BStBl II 2016, 616, Rz 32.
7. Die Kostenentscheidung folgt aus § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 1 FGO.