BFH III. Senat
EStG § 32 Abs 4 S 1 Nr 3, EStG § 63 Abs 1, EStG VZ 2013
vorgehend FG Nürnberg, 09. December 2014, Az: 3 K 361/14
Leitsätze
Bei der Prüfung, ob ein volljähriges behindertes Kind über hinreichende finanzielle Mittel zur Bestreitung seines persönlichen Unterhalts verfügt, ist eine Schmerzensgeldrente grundsätzlich nicht zu berücksichtigen .
Tenor
Die Revision der Beklagten gegen das Urteil des Finanzgerichts Nürnberg vom 10. Dezember 2014 3 K 361/14 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens hat die Beklagte zu tragen.
Tatbestand
I.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist die Mutter des im Jahr 1960 geborenen Sohnes V. Der unbefristet gültige Schwerbehindertenausweis vom April 2013 weist V einen Grad der Behinderung von 100 sowie die Merkzeichen ″G″, ″B″ und ″H″ zu. V wohnt seit dem 1. Dezember 2007 in einem eigenen Haushalt in einem Rehabilitationszentrum.
V erhält seit April 2013 nach Abzug eines Pflegeversicherungsbeitrags von 1,35 € einen monatlichen Lohn in Höhe von 170,65 €. Weiter erhält er aufgrund eines Haftpflichtschadens aus dem Jahr 1977 monatlich eine Ersatzleistung für fiktiven Verdienstausfall in Höhe von 772,32 € und eine Schmerzensgeldrente in Höhe von 204,52 €.
Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) hob mit Bescheid vom 28. August 2013 gegenüber der Klägerin die Kindergeldfestsetzung für V ab Oktober 2013 auf, weil V aufgrund der eigenen verfügbaren Mittel in der Lage sei, seinen Lebensunterhalt selbst zu bestreiten. Den hiergegen eingelegten Einspruch wies die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 12. Februar 2014 als unbegründet zurück.
Das Finanzgericht (FG) gab der dagegen erhobenen Klage mit dem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2015, 931 veröffentlichten Urteil statt. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, V sei aufgrund seiner Behinderung außerstande gewesen, sich selbst zu unterhalten. Die ihm zur Verfügung stehenden Mittel seien in allen Monaten des Klagezeitraums niedriger als der Bedarf. Die Schmerzensgeldrente in Höhe von 204,52 € gehöre nicht zu den anzusetzenden finanziellen Mitteln.
Mit der Revision rügt die Familienkasse die fehlerhafte Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 des Einkommensteuergesetzes in der in dem Streitzeitraum geltenden Fassung (EStG).
Die Familienkasse beantragt,
das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.Die Klägerin beantragt,
die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist unbegründet und daher zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG hat zu Recht entschieden, dass die Schmerzensgeldrente bei der Ermittlung der V zur Verfügung stehenden Mittel nicht zu berücksichtigen ist.
1. Gemäß § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Sätze 1 und 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG besteht für ein Kind, das das 18. Lebensjahr vollendet hat, ein Anspruch auf Kindergeld, wenn es wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, sofern die Behinderung ‑‑wie im Streitfall‑‑ vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist.
2. Das Tatbestandsmerkmal "außerstande ist, sich selbst zu unterhalten" ist im Gesetz nicht näher umschrieben. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs (BFH) ist ein behindertes Kind dann außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann (z.B. Senatsurteile vom 19. November 2008 III R 105/07, BFHE 223, 365, BStBl II 2010, 1057, unter II.1.a; vom 11. April 2013 III R 35/11, BFHE 241, 499, BStBl II 2013, 1037, Rz 14; vom 5. Februar 2015 III R 31/13, BFHE 249, 144, BStBl II 2015, 1017, Rz 13; BFH-Urteile vom 15. Oktober 1999 VI R 183/97, BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, unter 1.b, und vom 24. August 2004 VIII R 83/02, BFHE 207, 244, BStBl II 2007, 248, unter II.1.b). Ist das Kind hingegen trotz seiner Behinderung in der Lage, selbst für seinen Lebensunterhalt zu sorgen, kommt der Behinderung keine Bedeutung zu (z.B. Senatsurteil in BFHE 241, 499, BStBl II 2013, 1037, Rz 14, und BFH-Urteil in BFHE 207, 244, BStBl II 2007, 248, unter II.1.b, m.w.N.). Die Fähigkeit des Kindes zum Selbstunterhalt ist anhand eines Vergleichs zweier Bezugsgrößen zu prüfen, nämlich des gesamten existenziellen Lebensbedarfs des Kindes einerseits und seiner finanziellen Mittel andererseits (z.B. Senatsurteile in BFHE 241, 499, BStBl II 2013, 1037, unter II.2.a; vom 8. August 2013 III R 30/12, BFH/NV 2014, 498, Rz 15; BFH-Urteile in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, unter 1.c, und vom 20. März 2013 XI R 51/10, BFH/NV 2013, 1088, Rz 12).
3. Der gesamte Lebensbedarf eines behinderten Kindes setzt sich aus dem Grundbedarf und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen (z.B. Senatsurteile in BFHE 223, 365, BStBl II 2010, 1057, unter II.1.a; in BFHE 249, 144, BStBl II 2015, 1017, Rz 13; BFH-Urteile in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, unter 1.c, und vom 14. Dezember 2004 VIII R 59/02, BFH/NV 2005, 1090, unter II.1.a).
Der Grundbedarf eines behinderten Kindes kann sich nach Wegfall des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG in der bis zum 31. Dezember 2011 gültigen Fassung (EStG a.F.) ab dem Jahr 2012 zwar nicht mehr an dem für die eigenen Einkünfte und Bezüge des Kindes maßgeblichen Jahresgrenzbetrag orientieren. Da bei dem behinderten Kind aber ‑‑auch weiterhin‑‑ ein am Existenzminimum orientierter Betrag als allgemeiner Unterhaltsbedarf anerkannt werden muss (BFH-Urteile vom 15. Oktober 1999 VI R 182/98, BFHE 189, 457, BStBl II 2000, 79, unter II.2.c, und in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, unter 1.c), ist zur Bemessung des Grundbedarfs an den Grundfreibetrag i.S. des § 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG anzuknüpfen (vgl. auch Beschluss des Bundesverfassungsgerichts ‑‑BVerfG‑‑ vom 27. Juli 2010 2 BvR 2122/09, BFH/NV 2010, 1994, unter II.1., zu § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F.). Davon gehen im Ergebnis auch das Schrifttum und die Verwaltung aus (vgl. z.B. Grönke-Reimann in Herrmann/Heuer/Raupach, § 32 EStG Rz 118; Seiler in Kirchhof, EStG, 15. Aufl., § 32 Rz 21; Pust in Littmann/Bitz/ Pust, Das Einkommensteuerrecht, Kommentar, § 32 Rz 482; Schmidt/Loschelder, EStG, 35. Aufl., § 32 Rz 40; Blümich/ Selder, § 32 EStG Rz 114, 116; ebenso die Verwaltung, Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes, Stand 2013, DA 63.3.6.4 Abs. 1 Satz 3, ersetzt durch Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem Einkommensteuergesetz, Stand 2015, A 18.4 Abs. 2 Satz 2).
Der behinderungsbedingte Mehrbedarf umfasst Aufwendungen, die gesunde Kinder nicht haben. Werden die behinderungsbedingten Mehraufwendungen nicht im Einzelnen nachgewiesen, kann der maßgebliche Behinderten-Pauschbetrag nach § 33b Abs. 1 bis 3 EStG als Anhalt für den Mehrbedarf dienen (Senatsurteile in BFHE 223, 365, BStBl II 2010, 1057, Rz 16, m.w.N., und vom 22. Oktober 2009 III R 50/07, BFHE 228, 17, BStBl II 2011, 38, Rz 10).
4. Nach der Ermittlung des gesamten Lebensbedarfs des behinderten Kindes ist weiter zu prüfen, ob das Kind über hinreichende finanzielle Mittel verfügt, die zur Bestreitung seines persönlichen Unterhalts ausreichen. Ergibt sich eine ausreichende Leistungsfähigkeit des Kindes, kann davon ausgegangen werden, dass den Eltern kein zusätzlicher Aufwand erwächst, der ihre steuerliche Leistungsfähigkeit mindert. Dann ist es auch gerechtfertigt, für behinderte Kinder kein Kindergeld oder keinen Kinderfreibetrag zu gewähren (z.B. Senatsurteil in BFH/NV 2014, 498, Rz 15, m.w.N.; BFH-Urteile in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, unter II.1.c, und vom 4. November 2003 VIII R 43/02, BFHE 204, 120, BStBl II 2010, 1046, unter II.1.c).
a) Zu den finanziellen Mitteln des behinderten volljährigen Kindes gehören seine Einkünfte und Bezüge (vgl. z.B. Senatsurteile in BFHE 241, 499, BStBl II 2013, 1037, Rz 14, und in BFHE 249, 144, BStBl II 2015, 1017, Rz 13). Mangels sachlicher Änderung von § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG gilt dies ‑‑anders als die Revision meint‑‑ auch nach Wegfall des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F. (vgl. z.B. Grönke-Reimann in Herrmann/Heuer/ Raupach, § 32 EStG Rz 118; Schmidt/Loschelder, EStG, 35. Aufl., § 32 Rz 44; Blümich/Selder, § 32 EStG Rz 116).
b) Eine Schmerzensgeldrente ist bei der Ermittlung der dem Kind zur Verfügung stehenden Mittel nicht zu berücksichtigen, da sie nicht zur Bestreitung des Lebensunterhalts des Kindes bestimmt oder geeignet ist.
aa) Soweit die Familienkasse meint, bei der Prüfung der Leistungsfähigkeit eines behinderten Kindes komme es generell auf die Herkunft der zur Verfügung stehenden eigenen finanziellen Mittel und ihre Zweckbestimmung nicht an (vgl. auch Helmke/ Bauer, Familienleistungsausgleich, Kommentar, Fach A, I. Kommentierung, § 32 Rz 116, und Pust in Littmann/Bitz/Pust, a.a.O., § 32 Rz 488), kann der Senat dem nicht beitreten. Nur solche Einkünfte und Bezüge eines behinderten Kindes sind bei der Beurteilung seiner Leistungsfähigkeit zu berücksichtigen, die zur Bestreitung seines Lebensunterhalts bestimmt oder geeignet sind (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteile in BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72, unter 3., m.w.N., und vom 19. August 2002 VIII R 17/02, BFHE 200, 219, BStBl II 2003, 88, unter II.2.). Hieran hält der Senat fest. Denn allein durch den Wegfall des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F. hat sich der § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG zugrunde liegende Rechtsgedanke der Anerkennung eines am Existenzminimum des behinderten Kindes orientierten Betrags unter Berücksichtigung des behinderungsbedingten Mehrbedarfs nicht geändert.
Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Senatsurteil vom 9. Februar 2012 III R 53/10 (BFHE 236, 417, BStBl II 2014, 391, Rz 11) und dem BFH-Urteil vom 12. Dezember 2012 VI R 101/10 (BFHE 240, 50, BStBl II 2015, 651, Rz 12). Dort ging es um die Frage, ob Eingliederungshilfen gemäß §§ 53 f. des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch (SGB XII) zu den dem behinderten Kind zur Verfügung stehenden eigenen finanziellen Mitteln gehören. Nur "in diesem Zusammenhang" hatte der Senat ausgeführt, dass es auf Herkunft und Zweckbestimmung der Mittel nicht ankomme.
bb) Das Schmerzensgeld nimmt ‑‑unabhängig davon, ob es in einem Einmalbetrag oder in Rentenform gezahlt wird‑‑ eine Sonderstellung innerhalb der sonstigen Einkommens- und Vermögensarten ein (vgl. BVerfG-Beschluss vom 11. Juli 2006 1 BvR 293/05, BVerfGE 116, 229, unter B.I.2.b). Dementsprechend ist grundsätzlich Schmerzensgeld bei der Beurteilung der finanziellen Leistungsfähigkeit des behinderten Kindes nicht zu berücksichtigen.
Denn nach der Grundsatzentscheidung des Großen Senats für Zivilsachen des Bundesgerichtshofs (BGH) vom 6. Juli 1955 GSZ 1/55 (BGHZ 18, 149) hat das Schmerzensgeld rechtlich eine doppelte Funktion. Es soll dem Geschädigten einen angemessenen Ausgleich für solche Schäden und Lebenshemmungen bieten, die nicht vermögensrechtlicher Art sind. Es soll aber zugleich dem Gedanken Rechnung tragen, dass der Schädiger dem Geschädigten für das, was er ihm angetan hat, Genugtuung schuldet. Dabei steht der Entschädigungs- oder Ausgleichsgedanke im Vordergrund. Der Zweck des Anspruchs ist der Ausgleich für die erlittene Beeinträchtigung. Der BGH hat den zugrunde liegenden Gedanken dahin formuliert, dass der Schädiger, der dem Geschädigten über den Vermögensschaden hinaus das Leben schwer gemacht hat, nun durch seine Leistung dazu helfen soll, es ihm im Rahmen des Möglichen wieder leichter zu machen (BGH-Be-schluss in BGHZ 18, 149, unter I.3.). Schmerzensgeld bei der Beurteilung der Leistungsfähigkeit eines behinderten Kindes zu berücksichtigen, stünde mithin in Widerspruch zu seiner Sonderfunktion, immaterielle Schäden abzumildern. Entsprechendes gilt für die Ausgleichsfunktion des Schmerzensgeldes. Denn es hat auch insoweit gerade nicht die Funktion, zur materiellen Existenzsicherung beizutragen (BVerfG-Beschluss in BVerfGE 116, 229, unter B.I.3.a).
c) Der Sonderstellung des Schmerzensgeldes wird auch in anderen Bereichen Rechnung getragen. So ist im Sozialrecht die Schmerzensgeldrente nicht bei der Berechnung der Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts nach § 11a Abs. 2 des Zweiten Buches Sozialgesetzbuch und auch nicht im Rahmen der Sozialhilfe nach § 83 Abs. 2 SGB XII als Einkommen zu berücksichtigen. Nach dem Bundesversorgungsgesetz (BVG) ist eine Entschädigung nach § 253 des Bürgerlichen Gesetzbuches (BGB) ebenfalls nicht als Einkommen bei der Bestimmung des Leistungsumfangs der Kriegsopferfürsorge anzurechnen (§ 25d Abs. 4 Satz 2 BVG).
Ein abweichendes Ergebnis ergibt sich auch nicht aus einer Berücksichtigungsfähigkeit des Schmerzensgeldanspruchs i.R. des § 1602 BGB (für Anrechnung von Schmerzensgeld etwa Bamberger/Roth/Reinken, BGB, 3. Aufl., § 1602 Rz 31d; ebenso Erman/Hammermann, BGB, 14. Aufl., § 1602 Rz 68d; gegen Anrechnung von Schmerzensgeld dagegen Mutschler in BGB-RGRK, 12. Aufl., § 1602 Rz 8). Denn diese zivilrechtliche Unterhaltsregelung kann für die Auslegung des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG nach der Rechtsprechung des BFH in BFHE 200, 219, BStBl II 2003, 88, unter II.4.a, vom 19. August 2002 VIII R 51/01 (BFHE 200, 212, BStBl II 2003, 91, unter II.4.a) und vom 14. Oktober 2002 VIII R 55/01 (BFH/NV 2003, 308, unter II.4.) nicht herangezogen werden. Auf die Begründung dieser Entscheidungen nimmt der Senat insoweit Bezug.
5. In Anwendung der vorstehenden Grundsätze hat das FG in revisionsrechtlich nicht zu beanstandender Weise in der Vorentscheidung angenommen, dass V im Streitzeitraum nicht über ausreichende Mittel verfügte, um seinen gesamten existentiellen Lebensbedarf zu decken.
6. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 2 FGO.