BFH V. Senat
GG Art 3 Abs 1, FGO § 96 Abs 1, AO § 162, UStG § 3 Abs 1b, UStG § 22 Abs 2, EGRL 112/2006 Art 168, UStG VZ 2007 , UStG VZ 2008 , UStG VZ 2009 , UStG VZ 2010
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht , 08. January 2014, Az: 16 K 164/13
Leitsätze
1. NV: Bei Steuerpflichtigen, die ihren Aufzeichnungspflichten nach § 22 Abs. 2 Nr. 3 UStG nicht nachkommen, sind die Sachentnahmen nach § 162 AO zu schätzen.
2. NV: Dabei ist die Schätzung des FA im Klageverfahren in vollem Umfang nachprüfbar. Das FG ist nicht an die vom FA gewählte Schätzungsmethode gebunden, sondern hat eine eigene, selbständige Schätzungsbefugnis.
3. NV: Die Schätzung des FG gehört ebenso wie die Auswahl der Schätzungsmethode zu den tatsächlichen Feststellungen des FG, die den BFH bindet, wenn sie zulässig ist, verfahrensrechtlich einwandfrei zustande gekommen ist und weder gegen anerkannte Schätzungsgrundsätze noch gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstößt.
4. Anders als bei norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften, die für die Gerichte nicht bindend sind, besteht im Bereich des Ermessens, der Billigkeit, der Typisierung und der Pauschalierung eine Selbstbindung der Verwaltung, die grundsätzlich auch von den Gerichten zu beachten ist.
Tenor
Die Revision des Beklagten gegen das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 9. Januar 2014 16 K 164/13 wird als unbegründet zurückgewiesen.
Die Anschlussrevision der Klägerin wird als unzulässig verworfen.
Die Kosten des Revisionsverfahrens haben der Beklagte zu 2/3 und die Klägerin zu 1/3 zu tragen.
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) betreibt in der Rechtsform der GmbH eine Schlachterei und setzt ihre Produkte insbesondere in ihrer Filiale in X ab. Daneben betreibt sie Stände auf Wochenmärkten, einen Catering-Service, einen Mittagstisch und bietet zubereitete Speisen auf verschiedenen regionalen Veranstaltungen an. Gesellschafter (zu je 1/2) und Geschäftsführer der Klägerin sind A und B.
Im Rahmen einer steuerlichen Betriebsprüfung stellte der Außenprüfer fest, dass die Klägerin keine Aufzeichnungen über unentgeltliche Wertabgaben für die beiden Gesellschafter-Geschäftsführer und ihre Familien geführt hatte. Der Prüfer erhöhte die dem Regelsteuersatz und die dem ermäßigten Steuersatz unterliegenden Warenentnahmen entsprechend der Anzahl der Familienmitglieder und dem Alter der zugehörigen Kinder auf der Grundlage der in der amtlichen Richtsatzsammlung für eine Fleischerei vorgesehenen Pauschbeträge. Der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) folgte den Feststellungen des Prüfers für die Streitjahre (2007 bis 2010) in geänderten Umsatzsteuerbescheiden.
Die Klage hatte zum Teil Erfolg. Das Finanzgericht (FG) führte im Wesentlichen aus, das FA sei zwar gemäß § 162 der Abgabenordnung (AO) zur Schätzung befugt gewesen, weil die Klägerin keine Aufzeichnungen über Entnahmen aus dem Unternehmen für außerunternehmerische Zwecke geführt habe. Das FA habe aber die Werte der Richtsatzsammlung nicht unverändert anwenden dürfen. Die Klägerin habe überprüfbar dargelegt, dass ihre eigenen Leistungsbezüge zum Regelsteuersatz insgesamt niedriger gewesen seien, als die vom FA im Wege der Schätzung angenommene Bemessungsgrundlage der Leistungsentnahmen zum Regelsteuersatz. Auch habe die Klägerin in den Streitjahren nur äußerst geringe, dem Regelsteuersatz unterliegende Umsätze ausgeführt. Derartige Umsätze machten z.B. für 2010 weniger als 2 % des Gesamtumsatzes der Klägerin aus. Die unbesehene Übernahme der Pauschbeträge für unentgeltliche Wertabgaben nach der sog. Richtsatzsammlung führe zu einem Verstoß gegen § 162 Abs. 1 AO. Denn die Klägerin habe dargelegt, dass die Wertabgaben zum Regelsteuersatz in den Streitjahren niedriger gewesen sein müssen, als sich dies aus der Richtsatzsammlung ergebe. Nicht dargetan habe die Klägerin demgegenüber, dass die Sachentnahmen insgesamt pro Jahr geringer gewesen seien, als es die Richtsatzsammlung aufzeige. Deshalb sei es sachgerecht den Jahreswert der Sachentnahmen durch die Gesellschafter/Geschäftsführer insgesamt weiter nach den Werten der Richtsatzsammlung anzusetzen. Es gebe keine Anhaltspunkte dafür, dass der Jahresgesamtwert der Sachentnahmen bei der Klägerin geringer ausgefallen sei, als bei anderen Fleischereibetrieben.
Hiergegen richtet sich das FA mit der Revision, mit der es Verletzung materiellen Rechts geltend macht. Das FG-Urteil verletze § 3 Abs. 1b des Umsatzsteuergesetzes in der für die Streitjahre geltenden Fassung (UStG) i.V.m. § 162 AO. Die Pauschbeträge für unentgeltliche Wertabgaben dienten der Vereinfachung und ließen keine Zu- oder Abschläge zur Anpassung an die individuellen Verhältnisse zu. Auch widerspreche es den Denkgesetzen, aus den Umsätzen der Klägerin gegenüber Dritten Schlussfolgerungen über den Umfang der Wertabgaben zum Regelsteuersatz herzuleiten.
Das FA beantragt sinngemäß,
die Entscheidung des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.Die Klägerin beantragt,
die Umsatzsteuer 2007 auf ./. … €, die Umsatzsteuer 2008 auf … €, die Umsatzsteuer 2009 auf … € und die Umsatzsteuer 2010 auf … € festzusetzen.Das FG habe zu Recht eine Kostendeckelung vorgenommen, denn es könnten nicht mehr Waren zum Regelsteuersatz entnommen werden als eingekauft worden seien. Die Begrenzung der Entnahmen zum Regelsteuersatz durch den Wareneinkauf zum Regelsteuersatz stelle keine individuelle Anpassung dar, sondern diene einer gerechteren und zutreffenden Besteuerung.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision des FA ist unbegründet und deshalb zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Die Schätzung des FG ist rechtmäßig. Die Anschlussrevision der Klägerin ist unzulässig.
1. Die Voraussetzungen einer Schätzung nach § 162 AO sind erfüllt. Die Aufzeichnungen über die Entnahme von Gegenständen durch den Unternehmer aus seinem Unternehmen für Zwecke, die außerhalb des Unternehmens liegen, sind gemäß § 22 Abs. 2 Nr. 3, Nr. 1 Satz 2, § 3 Abs. 1b Nr. 1 UStG getrennt nach Steuersätzen vorzunehmen. Bei Steuerpflichtigen, die ‑‑wie die Klägerin‑‑ ihren Aufzeichnungspflichten nicht nachkommen, sind die Sachentnahmen nach § 162 AO zu schätzen (Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 19. März 2007 X B 191/06, BFH/NV 2007, 1134).
2. Gegenstand des Revisionsverfahrens ist die Schätzung des FG (vgl. BFH-Urteil vom 17. Oktober 2001 I R 103/00, BFHE 197, 68, BStBl II 2004, 171). Anders als bei der Überprüfung von Ermessensentscheidungen (§ 102 FGO) ist die Schätzung des FA im Klageverfahren in vollem Umfang nachprüfbar (BFH-Urteil in BFHE 197, 68, BStBl II 2004, 171). Das FG ist auch nicht an die vom FA gewählte Schätzungsmethode gebunden, weil es nach § 96 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. § 162 AO eine eigene, selbständige Schätzungsbefugnis besitzt.
3. Die Schätzung des FG gehört ebenso wie die Auswahl der Schätzungsmethode zu den tatsächlichen Feststellungen des FG (BFH-Urteile vom 24. Januar 2013 V R 34/11, BFHE 239, 552, BStBl II 2013, 460). Da die Schätzung des FG zulässig ist, verfahrensrechtlich einwandfrei zustande gekommen ist und weder gegen anerkannte Schätzungsgrundsätze, noch gegen Denkgesetze oder allgemeine Erfahrungssätze verstößt, ist sie für den Senat gemäß § 118 Abs. 2 FGO bindend (vgl. BFH-Urteile in BFHE 197, 68, BStBl II 2004, 171; vom 26. Oktober 2011 VII R 22/10, BFH/NV 2012, 777; vom 2. Dezember 2004 III R 49/03, BFHE 208, 531, BStBl II 2005, 483).
a) Das FG hat durch seine von der amtlichen Richtsatzsammlung abweichende Schätzung nicht die Selbstbindung der Verwaltung verletzt. Zwar besteht, anders als bei norminterpretierenden Verwaltungsvorschriften, die für die Gerichte nicht bindend sind (vgl. hierzu BFH-Urteile vom 13. Januar 2011 V R 12/08, BFHE 232, 261, BStBl II 2012, 61; vom 24. September 2013 VI R 48/12, BFH/NV 2014, 341; vom 31. Juli 2008 V R 21/06, BFHE 222, 143, BStBl II 2014, 344), im Bereich des Ermessens, der Billigkeit, der Typisierung und der Pauschalierung als Ausfluss von Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes eine Selbstbindung der Verwaltung, die grundsätzlich auch von den Gerichten zu beachten ist (BFH-Urteile vom 10. November 2011 V R 35/10, juris; vom 26. April 1995 XI R 81/93, BFHE 178, 4, BStBl II 1995, 754; vom 7. Dezember 2005 I R 123/04, BFH/NV 2006, 1097; vom 4. Februar 2010 II R 1/09, BFH/NV 2010, 1244; vom 11. November 2010 VI R 16/09, BFHE 232, 34, BStBl II 2011, 966). Mangels besserer Anhaltspunkte ist deshalb grundsätzlich von den auf Erfahrungssätzen der einzelnen Branchen beruhenden Richtsätzen und Pauschalen auszugehen (BFH-Beschluss vom 19. März 2007 X B 191/06, BFH/NV 2007, 1134).
b) Nach § 162 Abs. 1 Satz 2 AO sind bei einer Schätzung der Besteuerungsgrundlagen aber alle Umstände zu berücksichtigen, die für die Schätzung von Bedeutung sind. Das gewonnene Schätzungsergebnis muss schlüssig, wirtschaftlich möglich, vernünftig und plausibel sein (z.B. BFH-Urteile in BFHE 239, 552, BStBl II 2013, 460; vom 24. Juni 2014 VIII R 54/10, BFH/NV 2014, 1501, Rz 23, m.w.N.).
Es ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden, wenn das FG davon ausgeht, unentgeltliche Wertabgaben i.S. des § 3 Abs. 1b UStG könnten ‑‑wenn nicht besondere Anhaltspunkte ein anderes Ergebnis möglich erscheinen lassen‑‑ nicht höher sein als der Wareneinkauf zum Regelsteuersatz. Da die Schätzung auf der Grundlage der Richtsatzsammlung nach dieser Gesamtwürdigung zu einer offensichtlich unzutreffenden Besteuerung führen würde, entfällt die Bindungswirkung der Richtsatzsammlung (vgl. BFH-Beschluss vom 12. November 2009 VI B 66/09, BFH/NV 2010, 884, zu Pauschbeträgen für Auslandsdienstreisen).
4. Die mit dem über den Tenor des FG-Urteils hinausgehenden Antrag der Klägerin gestellte Anschlussrevision ist unzulässig.
Dass die Klägerin im Schriftsatz vom 10. Oktober 2014 nicht ausdrücklich Anschlussrevision eingelegt hat, ist unschädlich, weil jede Erklärung ausreicht, die den Willen des Anschlussrevisionsklägers zum Ausdruck bringt, ebenfalls eine Änderung des angefochtenen Urteils zu erreichen (BFH-Urteil vom 22. April 2004 V R 72/03, BFHE 205, 525, BStBl II 2004, 684). Hierzu reicht aus, dass die Klägerin mehr als die Zurückweisung der Revision beantragt hat (vgl. BFH-Beschluss vom 15. März 1994 IX R 6/91, BFHE 174, 4, BStBl II 1994, 599). Die Anschlussfrist ist aber nur innerhalb der Frist des § 155 FGO, § 554 Abs. 2 Satz 2 der Zivilprozessordnung, und damit nur innerhalb eines Monats nach Zustellung der Revisionsbegründung zulässig (BFH-Beschluss vom 16. Juli 2014 III S 1/13 (PKH), BFH/NV 2014, 1759). Da die am 26. August 2014 beim BFH eingegangene Revisionsbegründung dem Prozessbevollmächtigten der Klägerin am 1. September 2014 gegen Empfangsbekenntnis zugestellt worden ist, ist die mit dem am 13. Oktober 2014 beim BFH eingegangenen Antrag eingelegte Anschlussrevision verfristet.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 und 2, § 136 FGO.