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Beschluss vom 04. November 2014, I R 19/13

Statthaftigkeit einer Fortsetzungsfeststellungsklage - Lösung eines sog. DBA-Dreieckskonflikts bei Mehrfachansässigkeit eines Arbeitnehmers - Keine "abkommensübergreifende" Anwendung einer abkommensrechtlichen Ansässigkeitsfiktion

BFH I. Senat

DBA FRA Art 2 Abs 1 Nr 4 Buchst b, DBA FRA Art 13 Abs 5, DBA AUT Art 4 Abs 2 Buchst a, DBA AUT Art 15 Abs 1, EStG § 39b Abs 6, EStG § 39d Abs 3 S 4, EStG § 41b Abs 1, EStG § 41c Abs 3, FGO § 100 Abs 1 S 4, EStG VZ 2010 , FGO § 40 Abs 1, EStG § 1 Abs 4, EStG § 49 Abs 1 Nr 4 Buchst a

vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg , 25. September 2012, Az: 2 K 776/11

Leitsätze

1. NV: Dass dem Verpflichtungsbegehren des Klägers (hier: Erteilung einer Freistellungsbescheinigung nach § 39d Abs. 3 Satz 4 i.V.m. § 39b Abs. 6 EStG 2009) schon vor Klageerhebung nicht mehr entsprochen werden konnte, steht der Statthaftigkeit einer Fortsetzungsfeststellungsklage nicht entgegen .

2. NV: Die Fiktion einer Ansässigkeit nach der sog. Tie-breaker-rule eines Abkommens (nur) in dem Vertragsstaat, in dem der Steuerpflichtige den Mittelpunkt seiner Lebensinteressen hat, kann nicht "abkommensübergreifend" zur Anwendung gebracht werden .

Tatbestand

  1. I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist Arbeitnehmer bei einem inländischen Unternehmen und erzielte im Jahre 2010 aus dieser Tätigkeit Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit. Er hat einen Wohnsitz in A (Frankreich), an den er nach der Arbeit im Inland in der Regel zurückkehrt. Daneben unterhält er seinen Familienwohnsitz in B (Österreich).

  2. Am 12. März 2010 beantragte der Kläger beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt ‑‑FA‑‑) die Freistellung vom Lohnsteuerabzug nach § 39d Abs. 3 Satz 4 i.V.m. § 39b Abs. 6 des Einkommensteuergesetzes 2009 i.d.F. bis zur Änderung durch das Beitreibungsrichtlinie-Umsetzungsgesetz vom 7. Dezember 2011 (BGBl I 2011, 2592, BStBl I 2011, 1171) ‑‑EStG 2009 a.F.‑‑ und berief sich darauf, dass er als Grenzgänger i.S. des Art. 13 Abs. 5 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen und über gegenseitige Amts- und Rechtshilfe auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern vom 21. Juli 1959 (BGBl II 1961, 398, BStBl I 1961, 343) i.d.F. vom 28. September 1989 (BGBl II 1990, 772, BStBl I 1990, 414) ‑‑DBA-Frankreich 1989‑‑ mit seinen Einkünften aus nichtselbständiger Arbeit in Frankreich zu besteuern sei und deshalb nicht dem inländischen Lohnsteuerabzug unterliege. Das FA folgte dem nicht und lehnte mit Bescheid vom 28. Mai 2010 den Antrag ab. Es sei das Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung mit dem Staat anzuwenden, in dem sich der Mittelpunkt der Lebensinteressen des Steuerpflichtigen befinde. Dies sei, weil sich der Familienwohnsitz des Klägers in Österreich befinde, das Abkommen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen und vom Vermögen vom 24. August 2000 (BGBl II 2002, 734, BStBl I 2002, 584) ‑‑DBA-Österreich 2000‑‑. Danach stehe der Bundesrepublik Deutschland (Deutschland) nach Art. 15 Abs. 1 DBA-Österreich 2000 das Besteuerungsrecht zu.

  3. Die dagegen beim Finanzgericht (FG) zunächst als Verpflichtungsklage erhobene und später als Fortsetzungsfeststellungsklage fortgeführte Klage (Eingang beim FG am 1. März 2011) war erfolgreich (FG Baden-Württemberg, Außensenate Freiburg, Urteil vom 26. September 2012  2 K 776/11, abgedruckt in Entscheidungen der Finanzgerichte 2013, 707). Entgegen der Auffassung des FA könne der Kläger aufgrund seiner Ansässigkeit in Frankreich wie in Österreich Abkommensschutz sowohl nach dem DBA-Frankreich 1989 als auch nach dem DBA-Österreich 2000 beanspruchen. Art. 13 Abs. 5 DBA-Frankreich 1989 weise Frankreich das Besteuerungsrecht zu, während Art. 15 Abs. 1 DBA-Österreich 2000 Deutschland das Besteuerungsrecht zuweise. Diese Normenkollision sei zugunsten der spezielleren Regelung, der Grenzgängerregelung des DBA-Frankreich 1989, aufzulösen.

  4. Dagegen wendet sich das FA mit seiner Revision, die es auf eine Verletzung materiellen Rechts stützt. Es beantragt, das Urteil des FG aufzuheben und die Klage abzuweisen.

  5. Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.

Entscheidungsgründe

  1. II. Die Entscheidung ergeht gemäß § 126a der Finanzgerichtsordnung (FGO). Der Senat hält einstimmig die Revision für unbegründet und eine mündliche Verhandlung nicht für erforderlich. Die Beteiligten sind davon unterrichtet worden und hatten Gelegenheit zur Stellungnahme. Das FG hat im Ergebnis zutreffend erkannt, dass die Weigerung des FA, dem Kläger eine Freistellungsbescheinigung zu erteilen, rechtswidrig war.

  2. 1. Die Fortsetzungsfeststellungsklage ist zulässig (§ 100 Abs. 1 Satz 4 FGO), weil der Kläger ein berechtigtes Interesse an der Feststellung der Rechtswidrigkeit der Ablehnung der Erteilung einer Freistellungsbescheinigung hat. Das berechtigte Interesse besteht unter dem Gesichtspunkt der Prozessökonomie sowie der Wiederholungsgefahr (vgl. allgemein Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 7. Juni 1989 X R 12/84, BFHE 157, 370, BStBl II 1989, 976; Senatsurteile vom 23. September 2008 I R 57/07, BFH/NV 2009, 390; vom 11. Juli 2012 I R 76/11, BFH/NV 2012, 1966).

  3. Dem steht nicht entgegen, dass die ursprünglich erhobene Verpflichtungsklage bereits bei Eingang der Klage beim FG am 1. März 2011 unzulässig gewesen sei. Zwar darf gemäß § 41c Abs. 3 EStG 2009 der Lohnsteuerabzug nach Ablauf des Kalenderjahres nur bis zur Übermittlung oder Ausschreibung der Lohnsteuerbescheinigung geändert werden. Da die Lohnsteuerbescheinigung spätestens bis zum 28. Februar des Folgejahres zu übermitteln ist (§ 41b Abs. 1 Satz 2 EStG 2009), kann das abgeschlossene Lohnkonto des Klägers ab diesem Zeitpunkt nicht mehr geändert werden. Seinem Antrag auf Freistellung vom Lohnsteuerabzug für das Jahr 2010 konnte damit mit Ablauf dieser Frist am 28. Februar 2011 nicht mehr entsprochen werden. Dies führt jedoch entgegen der Auffassung der Revision nicht dazu, dass die ursprünglich erhobene Verpflichtungsklage nicht als Fortsetzungsfeststellungsklage weitergeführt werden kann.

  4. Nach § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO kann, wenn ein mit der Klage angefochtener Verwaltungsakt sich im Verlauf des Klageverfahrens erledigt hat, das Gericht unter bestimmten Voraussetzungen auf Antrag die Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts feststellen. Diese Regelung ist nach der Rechtsprechung des BFH entsprechend anzuwenden, wenn ein Verwaltungsakt sich schon vor der Klageerhebung erledigt hat (BFH-Urteile vom 7. November 1985 IV R 6/85, BFHE 145, 23, BStBl II 1986, 435; vom 10. April 1990 VIII R 415/83, BFHE 160, 409, 411, BStBl II 1990, 721, 722; vom 2. Juni 1987 VIII R 192/83, BFH/NV 1988, 104). Die in § 100 Abs. 1 Satz 4 FGO vorgesehene Entscheidung in Anfechtungssachen findet auf Verpflichtungsbegehren entsprechend Anwendung, da diese regelmäßig ein Anfechtungsbegehren mit umfassen (vgl. BFH-Urteile vom 12. Juni 1996 II R 71/94, BFH/NV 1996, 873; vom 29. Januar 2003 XI R 82/00, BFHE 201, 399, BStBl II 2003, 550; Gräber/von Groll, Finanzgerichtsordnung, 7. Aufl., § 100 Rz 55; Brandis in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 100 FGO Rz 46 f.; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 101 FGO Rz 63). Dass dem Verpflichtungsbegehren des Klägers schon vor Klageerhebung nicht mehr entsprochen werden konnte, steht damit der Statthaftigkeit der Fortsetzungsfeststellungsklage nicht entgegen.

  5. 2. Dem FG ist weiter auch darin zuzustimmen, dass das FA verpflichtet war, dem Kläger eine Freistellungsbescheinigung nach § 39d Abs. 3 Satz 4 und § 39b Abs. 6 EStG 2009 a.F. i.V.m. Art. 13 Abs. 5 DBA-Frankreich 1989 zu erteilen. Das Besteuerungsrecht für die vom Kläger erzielten Einkünfte steht Deutschland nicht zu.

  6. a) Der Kläger ist gemäß § 1 Abs. 4 i.V.m. § 49 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a EStG 2009 in Deutschland beschränkt steuerpflichtig, da er ‑‑ohne einen inländischen Wohnsitz i.S. des § 8 der Abgabenordnung (AO) oder einen gewöhnlichen Aufenthalt i.S. des § 9 AO im Inland zu haben‑‑ mit seiner in Deutschland ausgeübten Tätigkeit als Arbeitnehmer Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit erzielt hat. Dies ist unter den Beteiligten nicht im Streit und bedarf keiner weiteren Ausführungen.

  7. b) Das Deutschland nach innerstaatlichem Recht zustehende Besteuerungsrecht für die Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit wird durch das DBA-Österreich 2000 nicht beschränkt. Der Kläger hatte in den Streitjahren in Österreich, nicht aber in Deutschland abkommensrechtlich einen Wohnsitz. Der damit nach Maßgabe des Art. 4 Abs. 1 DBA-Österreich 2000 in Österreich ansässige Kläger erzielte nach der Grundregel des Art. 15 Abs. 1 DBA-Österreich 2000 Vergütungen aus unselbständiger Arbeit, die in Deutschland besteuert werden dürfen, da die Arbeit dort ausgeübt wurde (Art. 15 Abs. 1 Satz 1 und 2 DBA-Österreich 2000). Da im Streitfall nach den insoweit bindenden Feststellungen des FG (§ 118 Abs. 2 FGO) weder die in Art. 15 Abs. 2 DBA-Österreich 2000 ‑‑die Vergütungen werden von einem inländischen Arbeitgeber gezahlt‑‑ noch die in Art. 15 Abs. 6 DBA-Österreich 2000 ‑‑der Kläger ist kein Grenzgänger in Bezug auf seinen Wohnsitz in Österreich‑‑ bezeichneten Ausnahmen von dieser Regelung einschlägig sind, steht das Besteuerungsrecht für die Einkünfte aus unselbständiger Arbeit grundsätzlich Deutschland als Tätigkeitsstaat zu. Österreich als Wohnsitzstaat darf in diesem Fall die betreffenden Einkünfte nicht besteuern (Art. 23 Abs. 2 Buchst. a DBA-Österreich 2000). Auch das ist zwischen den Beteiligten unstreitig.

  8. c) Die Ausübung des inländischen Besteuerungsrechts für die Einkünfte, die aus der Tätigkeit des nach der Maßgabe des Art. 2 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. a DBA-Frankreich 1989 aufgrund seines Wohnsitzes in A ansässigen Klägers in Deutschland herrühren, ist jedoch durch Art. 13 Abs. 5 DBA-Frankreich 1989 ausgeschlossen. Die Vorschrift bestimmt, dass Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit von Personen, die im Grenzgebiet eines Vertragsstaates arbeiten und ihre ständige Wohnstätte, zu der sie regelmäßig jeden Tag zurückkehren, im Grenzgebiet des anderen Vertragsstaates haben, nur in diesem anderen Staat besteuert werden. Auch dies ist unter den Beteiligten nicht im Streit. Die Einkünfte unterliegen damit ausschließlich einer Besteuerung in Frankreich.

  9. d) Davon ausgehend kommt es auf die Doppelansässigkeit des Klägers aufgrund seiner Wohnsitze sowohl in Frankreich als auch in Österreich nicht an. Art. 2 Abs. 1 Nr. 4 Buchst. b DBA-Frankreich 1989 (die sog. Tie-breaker-rule) bestimmt zwar ‑‑ebenso wie Art. 4 Abs. 2 Buchst. a DBA-Österreich 2000‑‑ für den Fall einer solchen Doppelansässigkeit eine abgestufte "Nähe" zu dem jeweils anderen Vertragsstaat und bestimmt danach die abkommensrechtlich relevante Ansässigkeit und damit die Abkommensberechtigung der doppelt ansässigen Person. Doch betrifft diese Bestimmung der Abkommensberechtigung stets nur die Vertragsstaaten der jeweiligen bilateralen Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung, hier also ‑‑bezogen auf das DBA-Frankreich 1989‑‑ Deutschland und Frankreich. Eine sich auf unterschiedliche Staaten erstreckende "abkommensübergreifende" Wirkung kommt jener Regelung indessen nicht zu; solches ergibt sich weder aus den Anwendungsbestimmungen des DBA-Frankreich 1989 (oder des DBA-Österreich 2000) noch aus allgemeinen Rechtsgrundsätzen. Das liegt auf der Hand und bedarf keiner weiteren Erläuterung.

  10. 3. Die Kostenentscheidung ergeht nach § 135 Abs. 2 FGO.

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