BFH III. Senat
EStG § 24b Abs 1 S 2, EStG VZ 2010
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht , 22. January 2013, Az: 3 K 12326/12
Leitsätze
§ 24b Abs. 1 Satz 2 EStG vermutet unwiderlegbar, dass ein Kind, das in der Wohnung des alleinstehenden Steuerpflichtigen gemeldet ist, zu dessen Haushalt gehört.
Tenor
Auf die Revision des Klägers werden das Urteil des Niedersächsischen Finanzgerichts vom 23. Januar 2013 3 K 12326/12 und die Einspruchsentscheidung des Beklagten vom 23. Oktober 2012 aufgehoben.
Die Einkommensteuer wird unter Abänderung des Einkommensteuerbescheids des Beklagten vom 24. August 2012 auf 3.485 € festgesetzt.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Beklagte zu tragen.
Tatbestand
I.
Streitig ist, ob die Meldung des Kindes in der Wohnung des alleinstehenden Steuerpflichtigen für Zwecke des Entlastungsbetrags für Alleinerziehende eine unwiderlegbare Vermutung der Haushaltszugehörigkeit begründet.
Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist seit Februar 2005 verwitwet. Er bezog im Streitjahr 2010 für seine im Januar 1989 geborene Tochter (T) Kindergeld. T wohnte in einer eigenen Wohnung und nicht in der Wohnung des Klägers. T war jedoch in der Wohnung des Klägers mit Wohnsitz gemeldet.
In dem unter dem Vorbehalt der Nachprüfung ergangenen Einkommensteuerbescheid für 2010 vom 13. Februar 2012 berücksichtigte der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) zunächst erklärungsgemäß den Entlastungsbetrag für Alleinerziehende. Mit Bescheid vom 24. August 2012 änderte das FA die Einkommensteuerfestsetzung 2010 gemäß § 164 Abs. 2 der Abgabenordnung aus verschiedenen Gründen; u.a. erkannte es den Entlastungsbetrag für Alleinerziehende nicht mehr an.
Der dagegen gerichtete Einspruch, mit welchem der Kläger die Gewährung des Entlastungsbetrags für Alleinerziehende begehrte, hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 23. Oktober 2012). Die hiergegen erhobene Klage wurde vom Finanzgericht (FG) mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2013, 1124 veröffentlichten Urteil abgewiesen. Zur Begründung führte das FG im Wesentlichen aus, die in § 24b Abs. 1 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) aufgestellte Vermutung betreffend die Haushaltszugehörigkeit eines Kindes könne widerlegt werden und sei im Streitfall widerlegt worden.
Hiergegen wendet sich der Kläger mit der Revision. Er macht im Wesentlichen geltend, § 24b Abs. 1 Satz 2 EStG enthalte eine unwiderlegbare Vermutung. Etwas anderes ergebe sich weder aus der vom FG zitierten Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) noch aus möglichen Verstößen gegen das Melderecht.
Der Kläger beantragt sinngemäß, das angefochtene Urteil aufzuheben und den Einkommensteuerbescheid 2010 vom 24. August 2012 und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung vom 23. Oktober 2012 dahingehend abzuändern, dass die Einkommensteuer 2010 auf den Betrag herabgesetzt wird, der sich ergibt, wenn ein Entlastungsbetrag für Alleinerziehende in Höhe von 1.308 € berücksichtigt wird.
Das FA beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Zur Begründung macht es im Wesentlichen geltend, der Meldebescheinigung könne keine Beweiswirkung zukommen, wenn die tatsächlichen Verhältnisse offensichtlich von den melderechtlichen Verhältnissen abwichen und die Abweichung auf melderechtlichen Versäumnissen beruhe.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angegriffenen Urteils und zur Stattgabe der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Der Senat setzt die Einkommensteuer 2010 unter Gewährung des Entlastungsbetrags für Alleinerziehende auf 3.485 € fest (§ 121 Satz 1 i.V.m. § 100 Abs. 2 Satz 1 FGO). Das FG hat zu Unrecht angenommen, dass die Vermutung des § 24b Abs. 1 Satz 2 EStG widerlegt werden kann.
1. Alleinstehende Steuerpflichtige können nach § 24b Abs. 1 Satz 1 EStG einen Entlastungsbetrag in Höhe von 1.308 € im Kalenderjahr von der Summe der Einkünfte abziehen, wenn zu ihrem Haushalt mindestens ein Kind gehört, für das ihnen ein Freibetrag nach § 32 Abs. 6 EStG oder Kindergeld zusteht. Die Zugehörigkeit zum Haushalt ist nach § 24b Abs. 1 Satz 2 EStG anzunehmen, wenn das Kind in der Wohnung des alleinstehenden Steuerpflichtigen gemeldet ist.
2. Ein Kind, das ‑‑wie im Streitfall‑‑ zwar in der Wohnung des alleinstehenden Steuerpflichtigen gemeldet ist, aber tatsächlich in einer eigenen Wohnung lebt, gehört i.S. des § 24b Abs. 1 Satz 1 EStG zum Haushalt des Steuerpflichtigen. Die Meldung nach § 24b Abs. 1 Satz 2 EStG begründet eine unwiderlegbare Vermutung der Haushaltszugehörigkeit (gl.A. Blümich/ Selder, § 24b EStG Rz 23; Schmidt/Loschelder, EStG, 33. Aufl., § 24b Rz 12; a.A. Dürr in Frotscher, EStG, Freiburg 2011, § 24b Rz 10; Krömker in Herrmann/Heuer/Raupach, § 24b EStG Rz 11; Seiler in Kirchhof, EStG, 14. Aufl., § 24b Rz 4; Jachmann/Henschler, in: Kirchhof/Söhn/Mellinghoff, EStG, § 24b Rz B 4; Steiner in Lademann, EStG, § 24b Rz 11). Das vom Senat vertretene Gesetzesverständnis beruht auf einer am Wortlaut, den Gesetzesmaterialien und der Gesetzessystematik orientierten Auslegung des § 24b Abs. 1 Satz 2 EStG.
a) Der Wortlaut des § 24b Abs. 1 Satz 2 EStG deutet erkennbar darauf hin, dass es sich um eine unwiderlegbare Vermutung handelt ("Die Zugehörigkeit zum Haushalt ist anzunehmen, wenn ..."). Er enthält keine Anhaltspunkte dafür, dass bei Vorliegen einer Meldung die vom Gesetz unterstellte Haushaltszugehörigkeit widerlegt werden kann.
b) In den Gesetzesmaterialien zu dem im Streitjahr anwendbaren § 24b Abs. 1 EStG in der Fassung des Gesetzes zur Änderung der Abgabenordnung und weiterer Gesetze vom 21. Juli 2004 (BGBl I 2004, 1753) heißt es: "Bei Meldung des Steuerpflichtigen und seines Kindes mit Haupt- oder Nebenwohnsitz unter einer gemeinsamen Adresse wird durch die Neuregelung gesetzlich fingiert, dass das Kind zum Haushalt gehört (räumliches Zusammenleben bei gemeinsamer Versorgung)." (BTDrucks 15/3339, S. 11). Der Gesetzgeber wollte mithin eine unwiderlegbare Vermutung schaffen.
c) Dass § 24b Abs. 1 Satz 2 EStG als unwiderlegbare Vermutung gewollt ist, folgt auch aus dem systematischen Zusammenhang mit § 24b Abs. 1 Satz 3 EStG und § 24b Abs. 2 EStG.
aa) § 24b Abs. 1 Satz 3 EStG trifft eine Kollisionsregelung für den Fall, dass ein Kind bei mehreren Steuerpflichtigen gemeldet ist. Es kommt dann auf die tatsächliche Haushaltsaufnahme (§ 64 Abs. 2 Satz 1 EStG) an. Wenn die Vermutung gemäß § 24b Abs. 1 Satz 2 EStG grundsätzlich widerlegbar wäre, hätte es dieser Regelung nicht bedurft.
bb) Während nach § 24b Abs. 1 Satz 2 EStG infolge der Meldung die Haushaltszugehörigkeit anzunehmen ist, vermutet § 24b Abs. 2 Satz 2 EStG das Bestehen einer Haushaltsgemeinschaft, wobei diese Vermutung nach § 24b Abs. 2 Satz 3 EStG ausdrücklich widerlegbar ist. Beide Regelungen stehen in engem Zusammenhang und betreffen unterschiedliche Voraussetzungen für die Gewährung des Entlastungsbetrags für Alleinerziehende. Hätte daher der Gesetzgeber das Tatbestandsmerkmal der Haushaltszugehörigkeit i.S. des § 24b Abs. 1 Satz 2 EStG ebenfalls als widerlegbare Vermutung ausgestalten wollen, hätte er dies ‑‑wie in Abs. 2 Sätze 2 und 3 geschehen‑‑ auch in Abs. 1 zum Ausdruck bringen müssen.
Hieran fehlt es. Die unterschiedliche Ausgestaltung dieser "Vermutungsregeln" belegt, dass auch unterschiedliche Rechtsfolgen herbeigeführt werden sollten.
3. Der Anspruch auf den Entlastungsbetrag wird auch durch den vom FG für den Senat bindend (§ 118 Abs. 2 FGO; vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs vom 10. Juli 2002 X R 89/98, BFHE 199, 441, BStBl II 2003, 72, unter II.3.b) festgestellten Verstoß gegen das Niedersächsische Meldegesetz nicht ausgeschlossen.
a) Dies ergibt sich zum einen aus dem Wesen einer unwiderlegbaren Vermutung. Eine unwiderlegbare Vermutung kann ihren Zweck nur erfüllen, wenn sie davon unabhängig ist, ob eine Abweichung vom tatsächlichen Sachverhalt vorliegt und worauf diese beruht (vgl. Prütting in Münchener Kommentar zur ZPO, 3. Aufl., § 292 Rz 4).
b) Zum anderen bestehen nach Wortlaut und Systematik keine Anhaltspunkte dafür, dass die Vermutung der Haushaltszugehörigkeit widerlegbar sein soll.
Dies deutet darauf hin, dass das Gesetz auch bei Verstößen gegen das Melderecht die Unwiderlegbarkeit der Vermutung nicht beseitigen will.
4. § 24b Abs. 1 Satz 2 EStG begegnet als unwiderlegbare Vermutung keinen verfassungsrechtlichen Bedenken.
a) Die unwiderlegbare Vermutung ist gerechtfertigt durch ihren Vereinfachungszweck und die Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers (vgl. BVerfG-Beschluss vom 12. Oktober 2010 1 BvL 12/07, BVerfGE 127, 224, unter D.I., m.w.N. aus der Rechtsprechung des BVerfG).
b) Etwas anderes ergibt sich auch nicht aus dem Beschluss des BVerfG vom 22. Mai 2009 2 BvR 310/07, BStBl II 2009, 884. Die vom BVerfG dort angestellte Erwägung, soweit § 24b EStG auf die tatsächlichen Verhältnisse abstelle, sei die Finanzbehörde nicht durch das Gesetz gehindert, diese Verhältnisse aufzuklären, betrifft nur § 24b Abs. 2 EStG. Sie steht im Zusammenhang mit der Frage, ob § 24b EStG im Hinblick auf die Beanstandungen des Bundesrechnungshofs in seinen Bemerkungen 2006 zur Haushalts- und Wirtschaftsführung des Bundes (BTDrucks 16/3200, S. 212) unter einem strukturellen Vollzugsdefizit leide. Diese Beanstandungen bezogen sich nicht auf das Tatbestandsmerkmal der Haushaltszugehörigkeit von Kindern gemäß § 24b Abs. 1 EStG, sondern auf das Tatbestandsmerkmal des Alleinstehens der Steuerpflichtigen gemäß § 24b Abs. 2 EStG. Die Frage der Haushaltszugehörigkeit von Kindern und ihres Nachweises war in dem der Entscheidung des BVerfG zugrunde liegenden Fall nicht strittig.
5. Der Senat nimmt die Einkommensteuerfestsetzung 2010, die keinen großen Aufwand erfordert, selbst vor (§ 121 Satz 1 i.V.m. § 100 Abs. 2 Satz 1 FGO). Der Steuerberechnung ist ein gegenüber dem angefochtenen Steuerbescheid um 1.308 € niedrigeres zu versteuerndes Einkommen in Höhe von 16.570 € zugrunde zu legen. Bei im Übrigen unveränderten Besteuerungsgrundlagen ergeben sich damit ein besonderer Steuersatz (§ 32b EStG) von 18,36 % und eine Einkommensteuer nach dem Grundtarif in Höhe von 3.042 €. Damit ist die Einkommensteuer ‑‑unter Berücksichtigung der Steuerermäßigung für Handwerkerleistungen (./. 53 €) sowie des gesonderten Tarifs für Einkünfte aus Kapitalvermögen (+ 157 €) und der Altersvorsorgezulage (+ 339 €)‑‑ auf 3.485 € festzusetzen.
6. Die Kostenentscheidung ergibt sich aus § 143 Abs. 1, § 135 Abs. 1 FGO.