BFH III. Senat
BEEG § 10 Abs 1, EStG § 32 Abs 4 S 1 Nr 3, EStG § 67 S 2, EStG § 74 Abs 1
vorgehend FG Düsseldorf, 22. May 2013, Az: 14 K 2164/11 Kg
Leitsätze
Das Elterngeld, das ein behindertes Kind, für das Kindergeld begehrt wird, wegen der Betreuung und Erziehung seines eigenen Kindes erhält, gehört in vollem Umfang zu den Bezügen, die zur Abdeckung des Grundbedarfs des behinderten Kindes geeignet sind.
Tenor
Auf die Revision der Klägerin wird das Urteil des Finanzgerichts Düsseldorf vom 23. Mai 2013 14 K 2164/11 Kg aufgehoben.
Die Sache wird an das Finanzgericht Düsseldorf zurückverwiesen.
Diesem wird die Entscheidung über die Kosten des Revisionsverfahrens übertragen.
Tatbestand
I.
Die im Jahr 1989 geborene Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) ist mit einem Grad der Behinderung von 100 schwerbehindert (Merkzeichen Bl, H, G und B). Sie ist Mutter von drei Kindern, die im Februar 2010, Februar 2011 und Oktober 2012 geboren sind. Sie bezog Blindengeld, Leistungen nach dem Zweiten Buch Sozialgesetzbuch (SGB II) sowie Elterngeld nach dem Bundeselterngeld- und Elternzeitgesetz in der für die Jahre 2010 und 2011 geltenden Fassung (BEEG). Letzteres belief sich zunächst auf 300 € und nach der Geburt des zweiten Kindes auf 375 €. Der Beigeladene, der Vater der Klägerin, beantragte für diese Kindergeld. Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte den Antrag mit Bescheid vom 16. November 2010 ab, weil die Behinderung der Klägerin nicht ursächlich dafür sei, dass sie sich nicht selbst unterhalten könne. Einen Abdruck des Ablehnungsbescheides übersandte die Familienkasse der Klägerin. Diese legte gegen den Bescheid Einspruch ein. Sie war der Ansicht, sie sei wegen ihrer Sehbehinderung nicht dazu in der Lage, sich selbst zu unterhalten.
Der Rechtsbehelf hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 23. Mai 2011), ebenso wenig die Klage, durch welche die Familienkasse verpflichtet werden sollte, Kindergeld ab Mai 2010 festzusetzen (Urteil des Finanzgerichts ‑‑FG‑‑ Düsseldorf vom 23. Mai 2013 14 K 2164/11 Kg, Entscheidungen der Finanzgerichte ‑‑EFG‑‑ 2013, 1243). Das FG war der Ansicht, die Klägerin sei als Abzweigungsberechtigte zugunsten des Beigeladenen einspruchs- und klagebefugt. Sie sei zwar nicht imstande, sich selbst zu unterhalten, jedoch sei die Behinderung hierfür nicht ursächlich. Das Blindengeld von jährlich 7.307,52 € decke den behinderungsbedingten Mehrbedarf in vollem Umfang ab; einen darüber hinausgehenden Mehrbedarf habe die Klägerin nicht nachgewiesen. Die Leistungen nach dem SGB II, welche die Klägerin bezogen habe und die sich zwischen monatlich 310,52 € und 534,60 € bewegt hätten, lägen unter dem Grundbedarf von monatlich 667 €. Das Elterngeld von 300 € bzw. 375 € sei nicht bei den Bezügen zu berücksichtigen. Somit sei die Klägerin nicht dazu imstande, sich selbst zu unterhalten. Ihre Behinderung sei hierfür jedoch nicht ursächlich. Das FG stützte seine Auffassung auf ein von ihm eingeholtes Sachverständigengutachten. Es war der Ansicht, wegen der gutachterlich festgestellten Möglichkeit einer vollschichtigen Berufstätigkeit sei die Annahme ausgeschlossen, die Behinderung sei eine erhebliche Ursache für die fehlende Möglichkeit zum Selbstunterhalt.
Zur Begründung der Revision verweist die Klägerin auf das Urteil des Bundesfinanzhofs (BFH) vom 31. August 2006 III R 71/05 (BFHE 214, 544, BStBl II 2010, 1054), in dem Kindergeld für ein blindes Kind zugesprochen worden sei. Im Urteil vom 19. November 2008 III R 105/07 (BFHE 223, 365, BStBl II 2010, 1057) habe der BFH bei einem Grad der Behinderung von 100 mit dem Merkzeichen H von einer Kausalitätsregel gesprochen und außerdem entschieden, dass eine gutachterlich bestätigte Möglichkeit, eine vollschichtige Tätigkeit auszuüben, allein nicht geeignet sei, die Ursächlichkeit der Behinderung auszuschließen.
Die Klägerin beantragt, das angefochtene Urteil, den Ablehnungsbescheid vom 16. November 2010 sowie die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 23. Mai 2011 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, gegenüber dem Beigeladenen Kindergeld ab Mai 2010 in gesetzlicher Höhe festzusetzen.
Die Familienkasse beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Der Beigeladene hat sich im Revisionsverfahren nicht geäußert.
Der Beigeladene hat nicht auf mündliche Verhandlung verzichtet. Dem Senat erscheint es sachgerecht, durch Gerichtsbescheid zu erkennen (§ 90a Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑).
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und Zurückverweisung der Streitsache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO).
1. Die Klägerin ist befugt, in eigenem Namen im Klagewege die Festsetzung von Kindergeld zugunsten des Beigeladenen zu betreiben.
Nach § 67 Satz 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) in der für die Jahre 2010 und 2011 geltenden Fassung kann außer dem Berechtigten auch derjenige einen Antrag auf Kindergeld stellen, der ein berechtigtes Interesse an der Leistung des Kindergeldes hat. Das kann gemäß § 74 Abs. 1 Satz 1 und 3 EStG auch ein Kind sein, wenn der Kindergeldberechtigte dem Kind gegenüber mangels Leistungsfähigkeit nicht unterhaltsverpflichtet ist (Senatsurteil vom 26. November 2009 III R 67/07, BFHE 228, 42, BStBl II 2010, 476). Diese Voraussetzungen hat das FG bejaht. Aus der Antragsbefugnis der Klägerin folgt zugleich die Klagebefugnis in einem finanzgerichtlichen Verfahren, in dem die Rechtmäßigkeit eines Kindergeld-Ablehnungsbescheides streitig ist (Senatsbeschluss vom 30. Oktober 2008 III R 105/07, BFH/NV 2009, 193).
2. Das FG hat zu Unrecht die Leistungen nach dem BEEG, welche die Klägerin für die Betreuung und Erziehung von zunächst einem und später von zwei Kindern erhalten hat, bei der Prüfung einer (Un-)Fähigkeit zum Selbstunterhalt außer Betracht gelassen. Darüber hinaus hat es rechtsfehlerhaft aus dem Umstand, dass in einem Gutachten eine vollschichtige Tätigkeit der Klägerin für möglich gehalten wird, den Schluss gezogen, die Behinderung der Klägerin sei nicht ursächlich für deren mangelnde Fähigkeit, sich selbst zu unterhalten.
3. Nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG wird Kindergeld für ein Kind gewährt, das wegen körperlicher, geistiger oder seelischer Behinderung außerstande ist, sich selbst zu unterhalten, sofern die Behinderung ‑‑wie im Streitfall‑‑ vor Vollendung des 25. Lebensjahres eingetreten ist.
a) Ein Kind ist außerstande, sich selbst zu unterhalten, wenn es seinen Lebensunterhalt nicht bestreiten kann. Der gesamte Lebensbedarf eines behinderten Kindes setzt sich aus dem Grundbedarf und dem individuellen behinderungsbedingten Mehrbedarf zusammen (BFH-Urteil vom 15. Oktober 1999 VI R 183/97, BFHE 189, 442, BStBl II 2000, 72). Der Grundbedarf orientiert sich in den Jahren 2010 und 2011 am Jahresgrenzbetrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG von 8.004 € (vgl. BFH-Urteil vom 14. Dezember 2004 VIII R 59/02, BFH/NV 2005, 1090), welcher der Höhe nach dem Grundfreibetrag nach § 32a Abs. 1 Satz 2 Nr. 1 EStG entspricht. Er beläuft sich monatlich auf 667 €. Die Prüfung des Imstandeseins zum Selbstunterhalt ist für jeden einzelnen Monat durchzuführen (BFH-Urteil vom 4. November 2003 VIII R 43/02, BFHE 204, 120, BStBl II 2010, 1046; Senatsurteil vom 11. April 2013 III R 35/11, BFHE 241, 499, BStBl II 2013, 1037). Erreichen die Einkünfte und Bezüge des Kindes die Summe aus Grundbedarf und behinderungsbedingtem Mehrbedarf, so kann das Kind sich selbst unterhalten.
b) Das FG hat im Streitfall zutreffend angenommen, dass das Blindengeld von monatlich 608,96 € den durch die Blindheit verursachten Mehrbedarf der Klägerin auch insoweit abdeckt, als es den anteiligen Pauschbetrag nach § 33b Abs. 3 Satz 3 EStG von monatlich 308,33 € übersteigt. Denn nach dem Senatsurteil in BFHE 214, 544, BStBl II 2010, 1054, an dem der Senat festhält, ist zu vermuten, dass in Höhe des tatsächlich ausgezahlten Blindengeldes ein behinderungsbedingter Mehraufwand besteht. Weiterer behinderungsbedingter Mehrbedarf ist nach den Feststellungen des FG nicht anzusetzen.
c) Zu den Bezügen, mit deren Hilfe die Klägerin ihren existenziellen Grundbedarf abdecken kann, gehören auch die Leistungen zur Sicherung des Lebensunterhalts und für die Kosten für Unterkunft und Heizung nach dem SGB II (vgl. BFH-Urteile vom 26. November 2003 VIII R 32/02, BFHE 204, 454, BStBl II 2004, 588, zu Leistungen nach dem Bundessozialhilfegesetz, und vom 20. März 2013 XI R 51/10, BFH/NV 2013, 1088, zur Grundsicherung nach §§ 41 ff. des Zwölften Buches Sozialgesetzbuch; Senatsurteil vom 8. August 2013 III R 30/12, BFH/NV 2014, 498). Aus den in den Akten enthaltenen Bewilligungsbescheiden, auf die sich das FG in den Entscheidungsgründen seines Urteils bezogen hat, geht hervor, dass sich diese Leistungen im streitigen Zeitraum (Mai 2010 bis Mai 2011) auf mindestens 310,52 € (April 2011) und höchstens 534,60 € beliefen (Monate November und Dezember 2010).
d) Entgegen der Rechtsauffassung des FG zählt auch das Elterngeld zu den Bezügen der Klägerin und ist daher bei der Prüfung der (Un-)Fähigkeit zum Selbstunterhalt einzubeziehen.
aa) Das FG war der Ansicht, nur Elterngeld, das den Betrag von 300 € überschreitet, führe zu anzusetzenden Bezügen. Es bezog sich hierzu auf die zur Einkünfte- und Bezügegrenze des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ergangene Verwaltungsanweisung nach Abschn. 63.4.2.3.1 Abs. 2 Satz 1 Nr. 2 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes (DA-FamEStG 2009, BStBl I 2009, 1033).
bb) Als Grund für diese Verwaltungsreglung kommt § 10 Abs. 1 BEEG in Betracht, der bestimmt, dass das Elterngeld bei Sozialleistungen, deren Zahlung von anderen Einkommen abhängig ist, bis zu einer Höhe von insgesamt 300 € im Monat unberücksichtigt bleibt. Die Vorschrift ist bei der Prüfung der (Un-) Fähigkeit zum Selbstunterhalt eines Kindes, für das Kindergeld nach § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 3 EStG begehrt wird, jedoch schon deshalb nicht anwendbar, weil der Anspruch auf Kindergeld originär dem Kindergeldberechtigten ‑‑in der Regel einem Elternteil‑‑ zusteht und nicht dem Kind, das wegen eines eigenen Kindes Elterngeld bezieht.
cc) In den neueren Verwaltungsanweisungen wird das Elterngeld in vollem Umfang in die Ermittlung der Bezüge eines behinderten Kindes einbezogen (s. zuletzt Kap. A 18.5.2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 der Dienstanweisung zum Kindergeld nach dem EStG, Stand 2014, BStBl I 2014, 918; zuvor Abschn. 63.3.6.4 Abs. 3 Satz 3 i.V.m. Abschn. 31.2.4.2 Abs. 1 Satz 2 Nr. 2 DA-FamEStG, Stand 2012, BStBl I 2012, 739).
4. Die Sache ist nicht spruchreif.
a) Aus den Feststellungen des FG geht zwar hervor, dass die Klägerin Elterngeld bezogen hat, nicht aber, ob dieses in allen Monaten des Streitzeitzeitraums bei ihren Bezügen zu berücksichtigen ist. Aus den Bescheiden über die Festsetzung von Leistungen nach dem SGB II ist zu ersehen, dass das Elterngeld in einzelnen Zeiträumen des Jahres 2011, in dem es nach § 10 Abs. 5 BEEG auf die Leistungen nach dem SGB II anzurechnen war, als Einkommen angesetzt worden ist und in anderen nicht. Dies könnte darauf hindeuten, dass das Elterngeld der Klägerin nicht laufend zugeflossen ist. Das FG wird im zweiten Rechtsgang die entsprechenden Feststellungen nachzuholen haben.
b) Auch hinsichtlich des Monats Januar 2011 besteht keine Spruchreife. Zwar liegt in diesem Monat die Summe aus den Leistungen nach dem SGB II (334,62 €) und nach dem BEEG (300 €) unter dem Grundbedarf von 667 €. In diesem Monat war die Klägerin nicht dazu imstande, sich selbst zu unterhalten. Dennoch ist die Streitsache auch insoweit nicht entscheidungsreif, da die Frage, ob die Behinderung der Klägerin ursächlich für die Unfähigkeit zum Selbstunterhalt ist, nicht geklärt ist. Nach der Senatsrechtsprechung genügt die von einem Gutachter bestätigte Möglichkeit, eine vollschichtige Tätigkeit auszuüben, allein noch nicht, um die Ursächlichkeit auszuschließen (Senatsurteil in BFHE 223, 365, BStBl II 2010, 1057). In Widerspruch hierzu hat das FG gemeint, wegen der gutachterlich festgestellten Möglichkeit einer vollschichtigen Berufstätigkeit sei die Annahme ausgeschlossen, die Behinderung sei eine erhebliche Ursache für die fehlende Möglichkeit zum Selbstunterhalt. Die vom FG in Betracht gezogene Beschäftigung der Klägerin als Telefonistin ist aus der Sicht des Senats eher von theoretischer Natur.
5. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.