BFH VIII. Senat
EStG § 32d Abs 6, EStG § 20 Abs 9, GG Art 3 Abs 1
vorgehend Finanzgericht Baden-Württemberg , 16. December 2012, Az: 9 K 1637/10
Leitsätze
Auch bei der sog. "Günstigerprüfung" nach § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG findet § 20 Abs. 9 EStG Anwendung; ein Abzug der tatsächlich entstandenen Werbungskosten kommt daher nicht in Betracht.
Tenor
Auf die Revision des Beklagten wird das Urteil des Finanzgerichts Baden-Württemberg vom 17. Dezember 2012 9 K 1637/10 aufgehoben.
Die Klage wird abgewiesen.
Die Kosten des gesamten Verfahrens hat der Kläger zu tragen.
Tatbestand
I.
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist testamentarischer Alleinerbe der 1914 geborenen und im September 2010 verstorbenen A. Diese schloss zusammen mit ihrem damals noch lebenden Ehemann als Treugeber am 5. März 1998 mit dem Prozessbevollmächtigten einen Treuhandvertrag. Gegenstand des Vertrags war die Verwaltung des den Treugebern gehörenden Einfamilienhauses, verschiedener einzeln bezeichneter Konten und Sparbücher sowie der bestehenden Rentenansprüche. Die Vergütung bestand in einem Pauschalhonorar von 14.000 DM zzgl. Umsatzsteuer je Kalenderjahr sowie einem zusätzlichen Stundenhonorar für besondere Maßnahmen, Aufwendungs- und Auslagenersatz. Für die Erstellung der jährlichen Steuererklärungen wurde die Vergütung gemäß der Steuerberatergebührenverordnung vereinbart. Seit dem Jahr 2000 lebte A in einem Pflegeheim.
Nachdem zwischenzeitlich ihr Ehemann verstorben war, erteilte A dem Prozessbevollmächtigten im November 2004 eine General- und Vorsorgevollmacht, die auch die Vertretung in Steuerangelegenheiten umfasste. Am 16. November 2004 wurde der Treuhandvertrag geändert und ein höheres Pauschalhonorar sowie eine zusätzliche Sondervergütung vereinbart. Das Einfamilienhaus wurde im Jahr 2006 veräußert.
In der im März 2010 beim Beklagten und Revisionskläger (Finanzamt ‑‑FA‑‑) eingegangenen Einkommensteuererklärung 2009 erklärte A neben Renteneinkünften Einnahmen aus Kapitalvermögen in Höhe von 30.238 €. Zu diesem Zeitpunkt war A 95 Jahre alt und litt an einer dementen Störung, weshalb sie in die Pflegestufe II eingestuft wurde. Der Prozessbevollmächtigte verwaltete aufgrund des Treuhandvertrags ihr Vermögen und betreute sie. In der Steuererklärung wies der Prozessbevollmächtigte darauf hin, dass im Veranlagungszeitraum 2009 eine Zusammenballung von Einnahmen aus Kapitalvermögen vorliege. Im Folgejahr 2010 sei lediglich mit Zinseinnahmen von 12.800 € zu rechnen, was zu einer Steuerschuld von 0 € führe. Im Einkommensteuerbescheid 2009 vom 8. April 2010 berücksichtigte das FA die Kapitaleinnahmen in der erklärten Höhe und zog lediglich den Sparer-Pauschbetrag von 801 € ab. Von der im Veranlagungszeitraum 2009 aufgrund des Treuhandvertrags von A gezahlten Vergütung von insgesamt 10.647,64 € berücksichtigte das FA einen Teilbetrag von 3.549,21 € als außergewöhnliche Belastung für die allgemeine Betreuung durch den Prozessbevollmächtigten.
Mit der form- und fristgerecht erhobenen Sprungklage begehrte der Kläger (als Rechtsnachfolger der A) den Abzug von Werbungskosten aus Kapitalvermögen in Höhe von insgesamt 7.375 € (nicht berücksichtigte Treuhand-Vergütung 7.098 € und Steuerberatungskosten für die Kapitaleinkünfte 277 €). Diese Aufwendungen seien bei der Berechnung der Einkünfte aus Kapitalvermögen nicht berücksichtigt worden. Dies verstoße gegen das aus Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes abgeleitete Prinzip der Besteuerung nach der finanziellen Leistungsfähigkeit und das objektive Nettoprinzip.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage mit seinem in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2013, 1041 veröffentlichten Urteil insoweit statt, als die geltend gemachten Werbungskosten den Sparer-Pauschbetrag von 801 € gemäß § 20 Abs. 9 Satz 1 des Einkommensteuergesetzes 2009 (EStG) überstiegen. Zur Begründung verwies es darauf, § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG sei verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass die tatsächlich entstandenen Werbungskosten jedenfalls dann abziehbar seien, wenn der individuelle Steuersatz bereits unter Berücksichtigung nur des Sparer-Pauschbetrags unter 25 % liege.
Mit der ‑‑vom FG zugelassenen‑‑ Revision rügt das FA die Verletzung von § 32d Abs. 6 EStG. Der Wortlaut der Vorschrift sei mit der vom FG vorgenommenen verfassungskonformen Auslegung nicht vereinbar; der Ausschluss des Abzugs der tatsächlich entstandenen Werbungskosten durch § 20 Abs. 9 Satz 1 2. Halbsatz EStG sei verfassungsrechtlich unbedenklich.
Der Beigetretene, das Bundesministerium der Finanzen (Beigetretener ‑‑BMF‑‑), schließt sich der Auffassung des FA an und macht ergänzend geltend, selbst nach den Feststellungen des FG hätten 80 % der Steuerpflichtigen keine über den Sparer-Pauschbetrag hinausgehenden Aufwendungen; nach einer wissenschaftlichen Untersuchung des X-Instituts gelte das sogar für mehr als 95 % der Steuerpflichtigen. Die vom Gesetzgeber vorgenommenen pauschalisierenden und typisierenden Regelungen hielten den verfassungsrechtlichen Anforderungen damit stand.
Das FA beantragt,
das Urteil des FG Baden-Württemberg vom 17. Dezember 2012 9 K 1637/10 aufzuheben und die Klage abzuweisen.Der Kläger beantragt,
die Revision des FA zurückzuweisen.Das BMF hat keinen Antrag gestellt.
Auf mündliche Verhandlung haben die Beteiligten übereinstimmend verzichtet.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision des FA ist begründet. Sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und Abweisung der Klage (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Die Auffassung des FG, § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG sei verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass die tatsächlich entstandenen Werbungskosten abzugsfähig seien, wenn der individuelle Steuersatz bereits unter Berücksichtigung nur des Sparer-Pauschbetrags unter 25 % liege, hält der revisionsrechtlichen Überprüfung nicht stand. Gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 32d Abs. 6 EStG bestehen keine verfassungsrechtlichen Bedenken.
1. Nach § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG werden auf Antrag des Steuerpflichtigen anstelle der Anwendung der Absätze 1, 3 und 4 der Norm die nach § 20 EStG ermittelten Kapitaleinkünfte den Einkünften i.S. des § 2 EStG hinzugerechnet und der tariflichen Einkommensteuer unterworfen, wenn dies zu einer niedrigeren Einkommensteuer einschließlich Zuschlagsteuern führt (Günstigerprüfung). Für diesen Ausnahmefall kommt dann nicht der für die Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen grundsätzlich anzuwendende Abgeltungsteuersatz von 25 % zur Anwendung (vgl. § 32d Abs. 1 Satz 1 EStG), sondern der progressive Regelsteuersatz. Die Ermittlung der Kapitaleinkünfte ist indes auch bei der Günstigerprüfung ‑‑und damit auch im Streitfall‑‑ nach § 20 EStG vorzunehmen (vgl. § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG). Damit findet auch im Falle der Günstigerprüfung die einschränkende Regelung zum Verbot des Abzugs der tatsächlich entstandenen Werbungskosten (vgl. § 20 Abs. 9 Satz 1 2. Halbsatz EStG) Anwendung.
2. Gegen die Verfassungsmäßigkeit des § 32d Abs. 6 EStG hat der Senat keine Bedenken. Die Vorschrift beinhaltet eine begünstigende Sonderregelung für bestimmte Steuerpflichtige, bei denen ausnahmsweise von der Anwendung des proportionalen Sondertarifs für die Einkünfte aus Kapitalvermögen von 25 % abgesehen wird und stattdessen der Regelsteuersatz Anwendung findet, sofern das zu einer niedrigeren Einkommensteuer führt. Da auch für diejenigen Steuerpflichtigen, die dem Abgeltungsteuersatz unterliegen, das in § 20 Abs. 9 EStG verankerte Abzugsverbot für die tatsächlich entstandenen Werbungskosten gilt, werden die Steuerpflichtigen, für die nach § 32d Abs. 6 EStG aufgrund der Günstigerprüfung der Regelsteuersatz zum Tragen kommt, gegenüber den vom Abgeltungsteuersatz Betroffenen insoweit nicht schlechter gestellt.
3. Der Senat hat auch keine Bedenken, dass das Werbungskostenabzugsverbot gemäß § 20 Abs. 9 EStG verfassungsrechtlichen Anforderungen standhält. Zur Vermeidung von Wiederholungen nimmt der Senat insoweit Bezug auf die Gründe seiner Entscheidung vom 1. Juli 2014 VIII R 53/12 (BFHE 246, 332, BStBl II 2014, 975).
4. Die Regelung stellt sich auch im Vergleich zu Steuerpflichtigen, die kraft Gesetzes oder aufgrund eigenen Antrags gemäß § 32d Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 bis 4 EStG mit den dort geregelten Einkünften aus Kapitalvermögen aus der Abgeltungsteuer ausgeschlossen sind und gemäß § 32d Abs. 2 Satz 2 EStG ihre Einkünfte aus Kapitalvermögen unter Abzug der tatsächlich entstandenen Werbungskosten ermitteln können, als verfassungsgemäß dar. Im Fall des § 32d Abs. 6 EStG werden die Einkünfte aus Kapitalvermögen ohne den Abzug der tatsächlichen Werbungskosten ermittelt, gehen mit dieser pauschalierten Bemessungsgrundlage in den Gesamtbetrag der Einkünfte ein (vgl. § 2 Abs. 5b EStG) und unterliegen der tariflichen Einkommensteuer gemäß § 2 Abs. 6 Satz 1 EStG. Steuerpflichtige werden im Rahmen der Günstigerprüfung somit im Hinblick auf den Umfang abziehbarer Werbungskosten im Ergebnis schlechter gestellt als die Bezieher tariflich besteuerter Einkünfte aus Kapitalvermögen, wenn ihnen höhere tatsächliche Werbungskosten als der anzuwendende Sparer-Pauschbetrag entstanden sind.
Diese Differenzierung ist sachlich gerechtfertigt. Denn mit den vorstehend genannten Ausnahmen vom Abgeltungsteuersatz will der Gesetzgeber "Mitnahmeeffekte" bzw. eine Überbesteuerung vermeiden (vgl. dazu auch die Senatsentscheidung vom 28. Januar 2015 VIII R 8/14, zur Veröffentlichung vorgesehen, m.w.N.). Die Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 EStG hat indes weniger den Charakter einer nach der Intention des Gesetzes zwingenden sachlichen Ausnahme von der Anwendung des Abgeltungsteuersatzes, sondern ist eher als Billigkeitsmaßnahme zu verstehen, mit der Steuerpflichtige, deren Steuersatz noch niedriger liegt als 25 %, eine weitere Begünstigung erfahren. Diese soll aber nicht dazu führen, dass die derart Begünstigten vollumfänglich aus dem System der Abgeltungsteuer ausscheiden.
Diese Ungleichbehandlung innerhalb des Systems der Besteuerung der Einkünfte aus Kapitalvermögen ist aber auch durch den Vereinfachungs- und Pauschalierungszweck der Regelung in § 20 Abs. 9 Satz 1 EStG gerechtfertigt, der für den typischen Fall des Kleinanlegers über den Abzug des Sparerpauschbetrags auch im Fall der Günstigerprüfung zu einer realitätsgerechten Berücksichtigung der Aufwendungen führt (Senatsentscheidung in BFHE 246, 332, BStBl II 2014, 975).
Im hier zu entscheidenden Fall beruhten die hohen Aufwendungen der verstorbenen A im Streitjahr auf einem mit dem Prozessbevollmächtigten geschlossenen Treuhandvertrag, welcher diesem trotz nicht sonderlich hoher Kapitaleinnahmen eine nicht unbeträchtliche Treuhandvergütung zugestand, welche mit vertraglicher Ergänzung aus dem Jahr 2004 sogar noch einmal deutlich erhöht wurde. Allein daraus wird erkennbar, dass es sich im Fall der verstorbenen A um eine atypische Konstellation handelte, die der Gesetzgeber bei der von ihm vorgenommenen verfassungsrechtlich zulässigen Typisierung weder berücksichtigen musste noch konnte. Die Verfassungsmäßigkeit der typisierenden Abzugsbeschränkung des § 20 Abs. 9 Satz 1 EStG auch in Fällen der Günstigerprüfung wird somit durch den Streitfall nicht in Frage gestellt.
Dies gilt auch deshalb, weil der Klägerin die Möglichkeit einer Billigkeitsmaßnahme gemäß §§ 163, 227 der Abgabenordnung (AO) verbleibt. Die Möglichkeit einer Billigkeitsmaßnahme flankiert in besonderen Einzelfällen die Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers und gestattet ihm, eine typisierende Regelung zu treffen, bei der Unsicherheiten über Zahl und Intensität der von der typisierenden Regelung nachteilig betroffenen Fälle mit zumutbarem Aufwand nicht beseitigt werden können (Urteile des Bundesfinanzhofs vom 20. September 2012 IV R 36/10, BFHE 238, 429, BStBl II 2013, 498, Rz 57; vom 24. Juni 2014 VIII R 35/10, BFHE 245, 565, Rz 28). Der Senat hat in diesem Verfahren nicht zu entscheiden, ob es sich insoweit um einen atypischen Extremfall handelt, für den eine Billigkeitsmaßnahme gemäß § 163 AO in Betracht zu ziehen ist, verweist jedoch darauf, dass es keinen Anspruch auf "Meistbegünstigung" selbst gewählter Gestaltungen gibt (Blümich/Werth, § 32d EStG Rz 163).
5. Danach besteht weder die Notwendigkeit noch ‑‑entgegen der Auffassung des FG‑‑ die Möglichkeit, § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG verfassungskonform derart auszulegen, dass die tatsächlich entstandenen Werbungskosten jedenfalls dann abzugsfähig sind, wenn der individuelle Steuersatz bereits unter Berücksichtigung nur des Sparer-Pauschbetrags unter 25 % liegt. Eine solche "verfassungskonforme" Auslegung widerspricht sowohl dem eindeutigen Wortlaut des Gesetzes als auch den mit Einführung der Abgeltungsteuer vom Gesetzgeber bezweckten Zielen. Ist das FG der Auffassung, ein absolutes und unumkehrbares Abzugsverbot von Werbungskosten sei in derartigen Konstellationen verfassungswidrig, hätte es die Sache dem Bundesverfassungsgericht (BVerfG) zur Prüfung vorlegen müssen.
a) Nach dem klaren Wortlaut des Gesetzes hat die Ermittlung der Einkünfte aus Kapitalvermögen auch bei der Günstigerprüfung gemäß § 20 EStG zu erfolgen. Das folgt bereits daraus, dass es in § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG lautet, dass "die nach § 20 ermittelten Kapitaleinkünfte" den Einkünften i.S. des § 2 EStG hinzugerechnet und der tariflichen Einkommensteuer unterworfen werden, wenn dies zu einer niedrigeren Einkommensteuer führt. Die Nichtanwendung des § 20 Abs. 9 EStG bei der Ermittlung der Kapitaleinkünfte im Rahmen der Günstigerprüfung stellt daher einen Verstoß contra legem dar.
b) Das FG begründet seine verfassungskonforme Auslegung des § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG letztlich damit, dass es das Werbungskostenabzugsverbot gemäß § 20 Abs. 9 EStG als verfassungswidrig erachtet; die Regelung stelle einen Verstoß gegen das objektive Nettoprinzip dar, verletze den allgemeinen Gleichheitssatz, verletze das Prinzip der Folgerichtigkeit und sei auch durch außerfiskalische Förderungs- und Lenkungszwecke nicht gerechtfertigt. Eine verfassungskonforme Auslegung könne die Verfassungswidrigkeit vermeiden.
aa) Der revisionsrechtlichen Prüfung halten diese Überlegungen nicht stand. Nach ständiger Rechtsprechung des BFH ist maßgebend für die Interpretation eines Gesetzes der in ihm zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers (vgl. z.B. BVerfG-Beschluss vom 9. November 1988 1 BvR 243/86, BVerfGE 79, 106, unter B.II.1. der Gründe, m.w.N.; BFH-Urteile vom 1. Dezember 1998 VII R 21/97, BFHE 187, 177, unter II.2.a der Gründe; vom 21. Oktober 2010 IV R 23/08, BFHE 231, 544, BStBl II 2011, 277). Der Feststellung des zum Ausdruck gekommenen objektivierten Willens des Gesetzgebers dienen die Auslegung aus dem Wortlaut der Norm (grammatikalische Auslegung), aus dem Zusammenhang (systematische Auslegung), aus ihrem Zweck (teleologische Auslegung) sowie aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte (historische Auslegung); zur Erfassung des Inhalts einer Norm darf sich der Richter dieser verschiedenen Auslegungsmethoden gleichzeitig und nebeneinander bedienen (z.B. BFH-Urteil in BFHE 187, 177, m.w.N.). Gegen seinen Wortlaut ist die Auslegung eines Gesetzes allerdings nur ausnahmsweise möglich, wenn nämlich die wortgetreue Auslegung zu einem sinnwidrigen Ergebnis führt, das vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt sein kann (vgl. z.B. BFH-Urteile vom 1. August 1974 IV R 120/70, BFHE 113, 357, BStBl II 1975, 12; vom 7. April 1992 VIII R 79/88, BFHE 168, 111, BStBl II 1992, 786; vom 17. Februar 1994 VIII R 30/92, BFHE 175, 226, BStBl II 1994, 938; vom 17. Januar 1995 IX R 37/91, BFHE 177, 58, BStBl II 1995, 410; vom 12. August 1997 VII R 107/96, BFHE 184, 198, BStBl II 1998, 131; vom 17. Mai 2006 X R 43/03, BFHE 213, 494, BStBl II 2006, 868; vom 17. Juni 2010 VI R 50/09, BFHE 230, 150, BStBl II 2011, 43; Drüen in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 4 AO Rz 380) oder wenn sonst anerkannte Auslegungsmethoden dies verlangen (z.B. BFH-Beschluss vom 4. Februar 1999 VII R 112/97, BFHE 188, 5, BStBl II 1999, 430).
bb) Im Streitfall führt eine wortgetreue Auslegung der Vorschrift indes nicht zu einem sinnwidrigen Ergebnis, das vom Gesetzgeber nicht beabsichtigt sein kann, vielmehr entspricht diese gerade den vom Gesetzgeber beabsichtigten Zielen. Wie vorstehend bereits ausgeführt, hat der Senat keine Zweifel, dass § 20 Abs. 9 EStG verfassungsrechtlichen Anforderungen standhält (vgl. dazu II.3.). Die Vorschrift ist entgegen der Auffassung des FG auch im Rahmen der Günstigerprüfung anzuwenden. Das gebietet bereits der Gesetzeswortlaut des § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG, der von "nach § 20 EStG ermittelten Kapitaleinkünften" spricht.
cc) Ebenso wenig streiten die historische und die teleologische Auslegung der Vorschrift für die Auffassung des FG. Wie sich bereits aus dem Gesetzentwurf zum Unternehmensteuerreformgesetz 2008 (BTDrucks 16/4841, S. 35) ergibt, sollte mit der Abgeltungsteuer nicht nur eine erhebliche steuerliche Entlastung, sondern auch eine deutliche Vereinfachung des Besteuerungsverfahrens von Kapitaleinkünften erreicht werden. Dem entspricht auch die Gesetzesbegründung zu § 20 Abs. 9 EStG (vgl. BTDrucks 16/4841, S. 57), in der es lautet: "Der Ansatz der tatsächlichen Werbungskosten ist grundsätzlich ausgeschlossen. Dabei wird sowohl eine Typisierung hinsichtlich der Höhe der Werbungskosten in den unteren Einkommensgruppen vorgenommen, als auch berücksichtigt, dass mit einem relativ niedrigen Proportionalsteuersatz von 25 Prozent die Werbungskosten in den oberen Einkommensgruppen mit abgegolten werden." Bereits das spricht dafür, die mit der Abgeltungsteuer bezweckte Vereinfachung und damit auch die Anwendung des § 20 Abs. 9 EStG für die Günstigerprüfung des § 32d Abs. 6 EStG nicht auszuschließen.
Auch die Formulierung "grundsätzlich ausgeschlossen" in der Gesetzesbegründung spricht nicht gegen die Anwendung des § 20 Abs. 9 EStG. Das FG gewichtet nicht ausreichend, dass das Gesetz in § 32d Abs. 2 EStG noch weitere Ausnahmen von der Anwendung des gesonderten Steuertarifs für Einkünfte aus Kapitalvermögen vorsieht, nämlich unter bestimmten Voraussetzungen bei Kapitalerträgen aufgrund von Verträgen zwischen einander nahestehenden Personen sowie bei bestimmten Arten der Gesellschafterfremdfinanzierung (s. oben unter II.4.). Hier ordnet der Gesetzgeber konkret an, dass der besondere proportionale Sondertarif für die Einkünfte aus Kapitalvermögen von 25 % keine Anwendung findet. Eine ähnliche Regelung findet sich in § 32d Abs. 2 Nr. 3 EStG für Steuerpflichtige, die sog. unternehmerische Beteiligungen halten. Ihnen wird unter bestimmten Voraussetzungen die Möglichkeit eröffnet, anstelle der Abgeltungsteuer zur Regelbesteuerung zu optieren. In beiden Fällen ordnet das Gesetz indes ausdrücklich an, dass § 20 Abs. 9 EStG ‑‑ebenso wie Abs. 6 der Vorschrift‑‑ keine Anwendung findet (vgl. § 32d Abs. 2 Nr. 1 Satz 2 und Abs. 2 Nr. 3 Satz 2 EStG, sowie BTDrucks 16/4841, S. 61). Bei dem hier einschlägigen Abs. 6 Satz 1 EStG der Norm findet sich ein derartiger Hinweis indes nicht. Wenn ein entsprechender Hinweis aber weder dem Gesetzeswortlaut noch der Gesetzesbegründung zu entnehmen ist, deutet das angesichts des Wortlauts der Regelung "die nach § 20 ermittelten Kapitaleinkünfte" darauf hin, dass der Gesetzgeber im Rahmen der Günstigerprüfung gerade nicht von der Anwendung des § 20 Abs. 9 EStG absehen wollte. Das gilt umso mehr, als die Gewährung des Sparer-Pauschbetrags und der Ausschluss des Abzugs der tatsächlich entstandenen Werbungskosten prägender Bestandteil der mit der Abgeltungsteuer bezweckten Vereinfachung der Besteuerung sind.
dd) Die Überlegungen des FG zur "Belastungsgleichheit" sind ebenfalls nicht geeignet, zu einem anderen steuerlichen Ergebnis zu führen. Hätten Steuerpflichtige mit einem persönlichen Steuersatz von knapp unter 25 % die Möglichkeit, den Sparer-Pauschbetrag übersteigende Werbungskosten geltend zu machen, Steuerpflichtige mit einem persönlichen Steuersatz von knapp über 25 % aber nicht, würde das die verfassungsrechtlich gebotene Gleichheit der Belastung und damit die ‑‑jedenfalls im Wesentlichen‑‑ gleiche Besteuerung nach der persönlichen Leistungsfähigkeit in Frage stellen, und zwar insbesondere im Bereich der unteren Einkommensgruppen. Denn je nachdem, wie hoch der persönliche Steuersatz des Steuerpflichtigen und die tatsächlichen Werbungskosten sind, könnte die steuerliche Belastung der Kapitaleinkünfte gravierende Unterschiede aufweisen.
ee) Die Behauptung des FG, auch bei Kleinanlegern sei die Fremdfinanzierung von Kapitalanlagen nicht unüblich, auch in unteren Einkommensgruppen könnten höhere Werbungskosten als 801 € vorkommen und diese Gruppe dürfe der Gesetzgeber nicht außer Acht lassen, vermag den Senat nicht zu überzeugen. Durch belastbare tatsächliche Feststellungen ist diese Behauptung nicht belegt. Dass Steuerpflichtige aus unteren Einkommensgruppen, die Erträge aus von ihnen fremdfinanzierten Kapitalanlagen erzielen oder andere Aufwendungen oberhalb des Sparerpauschbetrags zu tragen haben, eine zahlenmäßig in irgendeiner Form bedeutsame Gruppe darstellen, ist nicht erkennbar. Dafür spricht auch die vom BMF eingereichte und von den Beteiligten nicht in Frage gestellte Auswertung des X-Instituts, nach der in den Jahren 2002 bis 2008 in ca. 95 % aller Fälle die tatsächlichen Werbungskosten der Steuerpflichtigen nicht höher waren als der Sparer-Pauschbetrag. Und bei den Steuerpflichtigen, welche in den Genuss der Günstigerprüfung nach § 32d Abs. 6 Satz 1 EStG gekommen sind, haben bei den unteren Einkommensgruppen (bis 30.000 € bei Zusammenveranlagung, bis 15.000 € bei Einzelveranlagung) im Jahre 2008 99 % bzw. 98 % der Steuerpflichtigen mit Einkünften aus Kapitalvermögen keine den Sparer-Pauschbetrag übersteigenden Werbungskosten geltend gemacht. Insgesamt bestätigen diese Zahlen, dass der Gesetzgeber mit der Gewährung des Sparer-Pauschbetrags in Höhe von 801 € eine verfassungsrechtlich grundsätzlich anzuerkennende Typisierung der Werbungskosten bei den Beziehern niedriger Kapitaleinkünfte sowie mit der Senkung des Steuertarifs von bisher bis zu 45 % auf nunmehr 25 % zugleich eine verfassungsrechtlich anzuerkennende Typisierung der Werbungskosten bei den Beziehern höherer Kapitaleinkünfte vorgenommen hat (vgl. dazu Moritz/Strohm in Frotscher, EStG, Freiburg 2011, § 20 n.F. Rz 44 f., m.w.N.; ebenso Schmidt/Weber-Grellet, 33. Aufl., § 20 Rz 206; Senatsurteil in BFHE 246, 332, BStBl II 2014, 975).
Unabhängig davon lässt die Vorinstanz außer Acht, dass bei Steuerpflichtigen aus unteren Einkommensgruppen mit Einnahmen aus Kapitalvermögen und hohen daraus resultierenden Werbungskosten die Aufwendungen i.d.R. auf gezielten Gestaltungen beruhen, die bewusst in Kauf genommen worden sind. Das gilt sowohl für den von der Vorinstanz als verfassungsrechtlich problematisch erachteten Bereich der "Fremdfinanzierungen bei Kleinanlegern" als auch für den Streitfall. So sind z.B. Wertpapierkredite gerade für Kleinanleger schon deshalb schwierig zu erhalten, weil diese i.d.R. trotz Verpfändung der kreditfinanzierten Kapitalanlagen eine Nachschusspflicht des Kreditnehmers vorsehen, wenn die Kapitalanlage bestimmte Wertgrenzen unterschreitet. Ob Kleinanleger nach den Vorstellungen der kreditgewährenden Bank überhaupt imstande sind, dieser Nachschusspflicht stets nachzukommen, scheint zweifelhaft.
6. Da die Vorentscheidung auf einer abweichenden Rechtsauffassung beruht, ist sie aufzuheben. Die Sache ist spruchreif. Die Klage ist mit der sich ergebenden Kostenfolge abzuweisen (§ 135 Abs. 1 FGO).