BFH XI. Senat
EStG § 32 Abs 4 S 1 Nr 2 Buchst c, EStG § 32 Abs 4 S 2, EStG § 62 Abs 1, EStG § 63 Abs 1 S 2, EStG VZ 2009 , FGO § 118 Abs 2, FGO § 126 Abs 3 S 1 Nr 2
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht , 07. February 2012, Az: 9 K 49/10
Leitsätze
1. NV: Die Gewährung von Kindergeld für ein volljähriges Kind gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG verlangt, dass sich das Kind ernsthaft um einen Ausbildungsplatz bemüht .
2. NV: Bei der Feststellung der hierfür erforderlichen Ausbildungswilligkeit des Kindes hat das FG sämtliche dafür entscheidungserheblichen Umstände zu prüfen und zu würdigen .
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist der Vater der 1987 geborenen A, die sich vor dem streitbefangenen Zeitraum von August bis Oktober 2009 (Streitzeitraum) vergeblich um eine Ausbildungsstelle bei der Polizei bemüht hatte.
A bewarb sich anschließend bei insgesamt 15 Universitäten/ Fachhochschulen um einen Studienplatz für das Wintersemester 2009/2010. Am 21. Juli 2009 erhielt A eine Eingangsbestätigung für ihre Bewerbungsunterlagen an der Hochschule B für den internationalen Studiengang "Management im Handel" mit dem Abschluss "Bachelor of Arts". Sie konnte jedoch die hierfür geforderte Voraussetzung einer abgeschlossenen Berufsausbildung nicht erfüllen. Ferner erhielt A einen Zulassungsbescheid der Fachhochschule (FH) C für angewandte Wissenschaft und Kunst für den Bachelor-Studiengang "Immobilienwirtschaft und -management", datiert auf den 20. Juli 2009. Der Zulassungsbescheid enthielt eine Annahmefrist bis zum 1. August 2009, die ergebnislos verstrich.
Daneben erhielt A mit Schreiben vom 10. Juli 2009 eine Zusage der Universität D für einen Studienplatz im Fachbereich Rechtswissenschaften. Danach bestand die Möglichkeit, sich spätestens zum Beginn des Wintersemesters 2009/2010 im Oktober 2009 dort einzuschreiben, was A unterließ. Für die weiteren Bewerbungen um einen Studienplatz erhielt A im Juli/August 2009 ablehnende Bescheide.
In den Monaten August bis Dezember 2009 war A in einem Hotel als Aushilfe tätig. Ausweislich des vorgelegten Einkommensteuerbescheides 2009 betrugen ihre Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit im Jahr 2009 insgesamt 5.706 €. Nach einem Praktikum im Sommer 2010 nahm A schließlich am 1. März 2011 ein Studium an der Hochschule E für den Bachelor-Studiengang "Internationale Betriebswirtschaft und Management" auf.
Mit Bescheid vom 6. November 2009 hob die frühere Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) die Festsetzung des Kindergeldes ab August 2009 auf und forderte Kindergeld in Höhe von 656 € zurück. Der hiergegen eingelegte Einspruch hatte keinen Erfolg.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage überwiegend statt und verpflichtete die Familienkasse, Kindergeld für den Zeitraum August bis Oktober 2009 festzusetzen. Im Übrigen wies es die Klage ab.
Zur Begründung führte das FG aus, in den Monaten August bis Oktober 2009 hätten die Voraussetzungen für die Kindergeldgewährung vorgelegen. In diesem Zeitraum habe A eine Berufsausbildung mangels eines Ausbildungsplatzes nicht beginnen können (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c des Einkommensteuergesetzes ‑‑EStG‑‑). Nach ständiger Rechtsprechung erfordere die Berücksichtigung eines Kindes gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG, dass sich das Kind ernsthaft um einen Ausbildungsplatz bemüht.
A habe zwar die Annahmefrist für den von der FH C angebotenen Studienplatz verstreichen lassen und ‑‑nach Erhalt von Ablehnungsbescheiden aller Parallelbewerbungen‑‑ auch den von der Universität D angebotenen Studienplatz im Bereich Rechtswissenschaften nicht angenommen. Gleichwohl stelle dies die Ausbildungswilligkeit von A bis zum maßgeblichen Beginn des Wintersemesters 2009/2010 ab Mitte Oktober 2009 nicht in Frage.
Für die Ernsthaftigkeit ihrer Bemühungen um einen Studienplatz sprächen sowohl die Vielzahl der Bewerbungen von insgesamt 15 als auch der Umstand, dass A letztlich am 1. März 2011 tatsächlich ein Studium an der Hochschule E aufgenommen habe. Ein denkbarer Grund für die zeitliche Verzögerung könnten die vom Kläger angesprochenen Depressionen und die durch den Freitod eines Familienangehörigen ausgelöste Studienphobie gewesen sein.
Erst die auf ihrem eigenen Entschluss beruhende unterbliebene Annahme des angebotenen Studienplatzes für Jura führe dazu, dass A ihre Ausbildungswilligkeit ab November 2009 erneut durch objektiv belegbare, ernsthafte und nachhaltige Bemühungen um einen Ausbildungsplatz hätte nachweisen müssen. Dieser (weitere) Nachweis der Ausbildungswilligkeit sei nicht erbracht worden.
Die Entscheidung des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte (EFG) 2012, 1279 veröffentlicht.
Zur Begründung der Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts.
Die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG seien schon deshalb ab August 2009 nicht mehr erfüllt, weil A die Annahmefrist für das Studium an der FH C zum 1. August 2009 habe verstreichen lassen. Ein Mangel eines Ausbildungsplatzes sei gerade nicht gegeben. Hätte A den Studienplatz fristgerecht angenommen, wäre eine kindergeldrechtliche Berücksichtigung bis zum tatsächlichen Beginn der Ausbildung möglich gewesen, da ein Ausbildungsplatz bereits zugesagt worden sei, das Kind die Ausbildung aber aus schul-, studien- oder betriebsorganisatorischen Gründen nicht sofort habe antreten können. Nachdem der A tatsächlich ein Studienplatz zur Verfügung gestellt worden sei, habe kein Mangel eines Ausbildungsplatzes mehr vorgelegen.
Die Ausführungen des FG stünden im Übrigen im Widerspruch zur Entscheidung des FG Münster vom 1. Juni 2011 11 K 4202/10 Kg (EFG 2011, 1633), wonach es an einer hinreichenden Ausbildungswilligkeit des Kindes fehle, wenn der spätere Ausbildungsbeginn nicht auf fremdbestimmten Gründen, sondern auf einer freien Entscheidung des Kindes beruhe. Andernfalls hätte es das Kind in der Hand, sich die Kindergeldberechtigung durch bewusstes ‑‑ggf. sogar mehrfaches‑‑ Überspringen von Ausbildungsterminen möglichst lange zu sichern.
Die Familienkasse beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger hat sich am Revisionsverfahren nicht beteiligt.
Entscheidungsgründe
II. Im Streitfall hat zum 1. Mai 2013 ein gesetzlicher Beteiligtenwechsel stattgefunden; Beklagte und Revisionsklägerin ist nunmehr die Familienkasse F. Das Rubrum des Verfahrens ist deshalb zu ändern (vgl. z.B. Urteile des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 16. Mai 2013 III R 8/11, BFHE 241, 511, BStBl II 2013, 1040, Rz 11; vom 5. September 2013 XI R 12/12, BFHE 242, 404, BStBl II 2014, 39, Rz 16).
III.
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung und Zurückverweisung der Sache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 der Finanzgerichtsordnung –-FGO‑‑).
Die bislang getroffenen tatsächlichen Feststellungen des FG tragen seine Entscheidung nicht, den Anspruch des Klägers auf Kindergeld hinsichtlich A für den Zeitraum von August bis Oktober 2009 zu bejahen. Der bisher durch das FG festgestellte Sachverhalt lässt kein abschließendes Urteil in der Sache zu.
1. Für ein über 18 Jahre altes Kind, das ‑‑wie A im Streitjahr 2009‑‑ das 25. Lebensjahr noch nicht vollendet hat, besteht nach § 62 Abs. 1, § 63 Abs. 1 Satz 2 i.V.m. § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2, § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG ein Anspruch auf Kindergeld u.a. dann, wenn das Kind für einen Beruf ausgebildet wird (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG) oder eine Berufsausbildung mangels Ausbildungsplatzes nicht beginnen oder fortsetzen kann (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG) und seine zur Bestreitung des Unterhalts oder der Berufsausbildung bestimmten oder geeigneten Einkünfte und Bezüge 7.680 € im Kalenderjahr nicht übersteigen. Für jeden Kalendermonat, in dem die Voraussetzungen des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 1 oder 2 EStG an keinem Tag vorliegen, ermäßigt sich der Betrag nach § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG um ein Zwölftel; Einkünfte und Bezüge des Kindes, die auf diese Kalendermonate entfallen, bleiben außer Ansatz (§ 32 Abs. 4 Sätze 7 und 8 EStG).
2. Nach ständiger Rechtsprechung erfordert die Berücksichtigung eines Kindes gemäß § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. c EStG, dass sich dieses ernsthaft um einen Ausbildungsplatz bemüht (BFH-Urteile vom 19. Juni 2008 III R 66/05, BFHE 222, 343, BStBl II 2009, 1005, und vom 22. September 2011 III R 30/08, BFHE 235, 327, BStBl II 2012, 411).
a) Dabei ist das Bemühen um einen Ausbildungsplatz glaubhaft zu machen. Pauschale Angaben, das Kind sei im fraglichen Zeitraum ausbildungsbereit gewesen, es habe sich ständig um einen Ausbildungsplatz bemüht oder sei stets bei der Agentur für Arbeit als ausbildungsuchend gemeldet gewesen, reichen nicht aus. Um einer missbräuchlichen Inanspruchnahme des Kindergeldes entgegen zu wirken, muss sich die Ausbildungsbereitschaft des Kindes durch belegbare Bemühungen um einen Ausbildungsplatz objektiviert haben (BFH-Urteile in BFHE 222, 343, BStBl II 2009, 1005, unter II.1.b; in BFHE 235, 327, BStBl II 2012, 411, Rz 10). Der BFH hat außerdem geklärt, dass ein Kind, dem der begehrte Studienplatz bereits zur Verfügung steht, auch während der Wartezeit bis zum Semesterbeginn zu berücksichtigen ist (vgl. BFH-Urteil vom 27. September 2012 III R 70/11, BFHE 239, 116, BStBl II 2013, 544, Rz 26).
b) Das FG hat die Entscheidung, ob sich das Kind ernsthaft um einen Ausbildungsplatz bemüht hat, unter Berücksichtigung von entsprechenden Beweisanzeichen zu treffen; ggf. ist das Kind anzuhören. Bei der Entscheidung handelt es sich um eine Gesamtwürdigung der Umstände des Einzelfalles, die durch den BFH nur eingeschränkt überprüfbar ist (vgl. BFH-Urteile vom 22. September 2011 III R 35/08, BFH/NV 2012, 232; in BFHE 235, 327, BStBl II 2012, 411, Rz 14).
c) Der BFH ist nach § 118 Abs. 2 FGO an eine Würdigung der tatsächlichen Feststellungen durch das FG gebunden, wenn diese nicht mit zulässigen und begründeten Verfahrensrügen angegriffen wurde, die Würdigung möglich ist und nicht gegen Denkgesetze und Erfahrungssätze verstößt (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteile vom 17. Juli 2008 III R 95/07, BFH/NV 2009, 367, unter II.2.; vom 29. Januar 2014 XI R 4/12, BFHE 244, 131, BFH/NV 2014, 992, Rz 43; vom 14. Mai 2014 XI R 13/11, Deutsches Steuerrecht ‑‑DStR‑‑ 2014, 1434, Rz 26, jeweils m.w.N.).
Die Bindungswirkung entfällt aber u.a. dann, wenn die Würdigung in sich widersprüchlich, unklar oder lückenhaft ist, weil beispielsweise bedeutsame Begleitumstände nicht erforscht und/oder nicht zutreffend gewürdigt worden sind (ständige Rechtsprechung, vgl. z.B. BFH-Urteil in DStR 2014, 1434, Rz 27, m.w.N.).
3. Vor diesem Hintergrund ist dem FG nicht darin zu folgen, dass die Ausbildungswilligkeit von A für die Zeit von August 2009 bis zum Beginn des Wintersemesters im Oktober 2009 bereits hinreichend glaubhaft gemacht wurde.
a) Das FG hat die Ausbildungswilligkeit von A in diesem Zeitraum allein daraus abgeleitet, dass sich A ‑‑ohne dies näher zu konkretisieren‑‑ bei insgesamt 15 Universitäten bzw. Fachhochschulen um einen Studienplatz für das Wintersemester 2009/2010 beworben hat und dass sie letztlich am 1. März 2011 tatsächlich ein Studium an der Hochschule E aufgenommen hat.
b) Das genügt nicht, zumal der BFH im Zusammenhang mit der Beurteilung der Ausbildungswilligkeit eines Kindes entschieden hat, dass es u.a. darauf ankommt, ob das Kind die angestrebte Ausbildung entsprechend der Aufnahmezusage tatsächlich auch begonnen hat (BFH-Urteile vom 28. Februar 2013 III R 9/12, BFH/NV 2013, 1079, Rz 13, und vom 28. Mai 2013 XI R 38/11, BFH/NV 2013, 1774, Rz 22). Ein Hinausschieben des Ausbildungsbeginns auf eigenen Wunsch ist unschädlich für die Annahme der Ausbildungswilligkeit, wenn das volljährige Kind eine Zusage für die Aufnahme einer Ausbildung erhalten hat und aus schul-, studien- oder betriebsorganisatorischen Gründen die Ausbildung erst zum nächstmöglichen Zeitpunkt aufnehmen kann (BFH-Urteil in BFH/NV 2013, 1774).
c) Dem FG-Urteil lässt sich insbesondere nicht entnehmen, weshalb A sich tatsächlich nicht für das ihr zugesagte Studium der Rechtswissenschaften in D im Oktober 2009 eingeschrieben hat. Zwar steht eine ‑‑im Streitfall auch mögliche‑‑ vorübergehende Krankheit der Annahme der Ausbildungswilligkeit nicht entgegen (vgl. z.B. Schmidt/Loschelder, EStG, 33. Aufl., § 32 Rz 33, m.w.N.). Die bloße Mutmaßung des FG, dass die vom Kläger angesprochenen Depressionen und die durch den Freitod eines Familienangehörigen ausgelöste Studienphobie ein denkbarer Grund für die Aufnahme eines Studiums erst im März 2011 gewesen sein könnten, vermag entsprechend konkretisierte tatsächliche Feststellungen zum etwaigen Beginn der Erkrankung und deren Schwere aber nicht zu ersetzen.
Auch hat das FG erkennbar dem Umstand noch keine hinreichende Beachtung geschenkt, dass A im streitbefangenen Zeitraum eine Aushilfstätigkeit in einem Hotel aufnehmen konnte, obwohl sie nach dem Vorbringen des Klägers im finanzgerichtlichen Verfahren und der entsprechenden Mutmaßung des FG in seinem Urteil möglicherweise aus Krankheitsgründen an der Aufnahme des Studiums gehindert gewesen sein soll.
4. Das FG-Urteil war daher aufzuheben.
Die Sache ist nicht spruchreif. Das FG wird im zweiten Rechtsgang die noch fehlenden tatsächlichen Feststellungen für die gebotene Einbeziehung und entsprechende Würdigung sämtlicher Umstände des Einzelfalls zur Ausbildungswilligkeit von A im streitbefangenen Zeitraum nachzuholen haben.
In diesem Zusammenhang käme ggf. die vom BFH aufgezeigte Möglichkeit der Anhörung des Kindes (BFH-Urteil in BFHE 235, 327, BStBl II 2012, 411, Rz 14) in Betracht.
5. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.