BFH IX. Senat
FGO § 110 Abs 1 S 1 Nr 1, FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 107
vorgehend FG Köln, 17. December 2013, Az: 5 K 330/11
Leitsätze
1. NV: Verkennt das Finanzgericht den Umfang der Rechtskraft und entscheidet es gegenüber den durch die Rechtskraft gebundenen Personen erneut über Fragen, über die bereits rechtskräftig entschieden worden ist, so liegt darin ein Verfahrensmangel.
2. NV: Die Rechtskraft des Urteils über die Verpflichtung des Finanzamts, einen verbleibenden Verlustvortrag in bestimmter Höhe gesondert festzustellen, schließt es aus, denselben Verlust (teilsweise) in das Vorjahr zurückzutragen.
Tatbestand
I. Zwischen den Beteiligten war ursprünglich streitig, in welcher Höhe dem Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) aus der Veräußerung einer wesentlichen Beteiligung an einer GmbH im Jahr 2003 ein Verlust entstanden ist. Nachdem der Beklagte und Beschwerdeführer (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) die Einkommensteuer für 2003 (unter Berücksichtigung eines Teils des geltend gemachten Verlusts) auf 0 € festgesetzt hatte, beantragte der Kläger die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustabzugs auf den 31. Dezember 2003. Über die Frage kam es zu einem Rechtsstreit. Das Finanzgericht Köln (FG) hat der Klage, die darauf gerichtet war, den Verlust in einer bestimmten Höhe festzustellen, z.T. stattgegeben und durch Urteil vom 15. April 2010 5 K 1062/07 in der Hauptsache entschieden:
"Unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 27.01.2006 und Aufhebung der hierzu ergangenen Einspruchsentscheidung wird der Beklagte verpflichtet, eine Verlustfeststellung zur Einkommensteuer zum 31.12.2003 nach Maßgabe der Entscheidungsgründe durchzuführen. Im Übrigen wird die Klage abgewiesen."
Aus den Entscheidungsgründen des Urteils ergibt sich, dass über den vom FA bereits anerkannten Verlust hinaus weitere Aufwendungen des Klägers in Höhe von 61.986 € den Verlust gemäß § 17 des Einkommensteuergesetzes (EStG) erhöht haben (Seite 16, 2. Absatz des Urteils). Das Urteil ist rechtskräftig. Das FA hat dem Urteil durch Erlass eines entsprechenden Feststellungsbescheids entsprochen.
Nach Erlass dieses Bescheides haben die Kläger beantragt, den festgestellten Verlust vorrangig in das Jahr 2002 zurückzutragen. Auch hierüber kam es zum Streit. Das FG hat der Klage ebenfalls stattgegeben und im hier angefochtenen Urteil zur Hauptsache entschieden:
"Unter Aufhebung des Ablehnungsbescheids vom 15.09.2010 sowie der Einspruchsentscheidung vom 03.01.2011 wird der Beklagte verpflichtet, den auf den 31.12.2003 festgestellten verbleibenden Verlustvortrag zur Einkommensteuer auf das Veranlagungsjahr 2002 zurück zu tragen und die für 2002 festgesetzte Einkommensteuer entsprechend herabzusetzen."
Entscheidungsgründe
II. Die Beschwerde des FA ist begründet. Das angefochtene Urteil beruht auf einem Verfahrensmangel (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG hat die Bindungswirkung des rechtskräftigen Urteils verkannt und deshalb zu Unrecht der Klage stattgegeben.
1. Verkennt das FG den Umfang der Rechtskraft (§ 110 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 FGO) und entscheidet es gegenüber den durch die Rechtskraft gebundenen Personen erneut über Fragen, über die bereits rechtskräftig entschieden worden ist, so liegt darin ein Verfahrensmangel, der zur Aufhebung des Urteils führt (vgl. Urteil des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 14. März 2006 VIII R 45/03, BFH/NV 2006, 1448).
a) So liegt der Streitfall. Maßgeblich für den Umfang der materiellen Rechtskraft ist, worüber das FG tatsächlich entschieden hat (z.B. BFH-Urteil in BFH/NV 2006, 1448). In seinem Urteil vom 15. April 2010 5 K 1062/07 hat das FG rechtskräftig entschieden, in welcher Höhe dem Kläger aus der Veräußerung seines GmbH-Anteils ein Verlust entstanden ist und dass der Verlust ohne Durchführung des Verlustrücktrags in voller Höhe (abzüglich des 2003 ausgeglichenen Teils) als verbleibender Verlustvortrag auf den 31. Dezember 2003 gesondert festgestellt werden muss. Das ergibt sich aus dem Tenor der Entscheidung, zu dessen Auslegung nach der Rechtsprechung die Entscheidungsgründe heranzuziehen sind (vgl. BFH-Beschluss vom 9. Februar 2012 IV B 30/11, BFH/NV 2012, 965). Aus den Entscheidungsgründen ergibt sich vorliegend insbesondere, in welcher Höhe der Verlust entstanden ist. Dass das FG den Feststellungsbescheid nicht selbst erlassen konnte, ändert daran nichts. Das FA war aufgrund des Urteils verpflichtet, den verbleibenden Verlustvortrag auf den 31. Dezember 2003 in der vom Gericht bestimmten Höhe festzustellen.
b) Die Rechtskraft des Urteils über die Verpflichtung des FA, einen verbleibenden Verlustvortrag in bestimmter Höhe gesondert festzustellen, schließt es aus, denselben Verlust (teilweise) in das Vorjahr zurückzutragen (vgl. BFH-Urteil vom 17. Dezember 1998 IV R 47/97, BFHE 187, 409, BStBl II 1999, 303). Dies würde eine Änderung des Feststellungsbescheids erforderlich machen, weil der begehrte Verlustrücktrag den gesondert festgestellten verbleibenden Verlustvortrag mindern würde. Eine solche Änderung des Feststellungsbescheids ist jedoch unabhängig davon, ob § 10d EStG eine entsprechende Änderungsvorschrift enthält, wegen der Rechtskraft des vorangegangenen Urteils ausgeschlossen. Etwas anderes ergibt sich nicht aus § 110 Abs. 2 FGO. Danach bleiben die Vorschriften der Abgabenordnung (AO) und anderer Steuergesetze über die Rücknahme, Widerruf, Aufhebung und Änderung von Verwaltungsakten sowie über die Nachforderung von Steuern unberührt, soweit sich aus § 110 Abs. 1 Satz 1 FGO nichts anderes ergibt. Hier ergibt sich aus § 110 Abs. 1 Satz 1 FGO, dass über die Verwendung des Verlusts, nämlich durch gesonderte Feststellung eines verbleibenden Verlustvortrags, bereits rechtskräftig mit Bindungswirkung zwischen den Beteiligten entschieden worden ist. Etwaige Änderungsvorschriften in der AO oder den Steuergesetzen durchbrechen die Rechtskraft insoweit nicht.
2. Der Senat macht von der Möglichkeit der Zurückverweisung nach § 116 Abs. 6 FGO Gebrauch, obwohl die Klage abweisungsreif ist. Den Beteiligten ist ein Revisionsverfahren schon aus Kostengründen nicht zuzumuten; die FGO sieht die Aufhebung des Urteils und Abweisung der Klage im Verfahren der Nichtzulassungsbeschwerde nicht vor.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.
4. Für die beantragte Urteilsberichtigung ist der BFH zuständig, nachdem das Verfahren in der Hauptsache auf ihn übergegangen ist (vgl. z.B. BFH-Beschluss vom 30. September 2013 XI B 57/13, BFH/NV 2014, 61). Kosten werden insoweit nicht erhoben. Das Verfahren der Berichtigung gehört noch zum ersten Rechtszug.