BFH IV. Senat
FGO § 68 S 1, FGO § 102 S 1, FGO § 102 S 2, FGO § 335, AO § 5, AO § 146 Abs 2b
vorgehend Finanzgericht des Landes Sachsen-Anhalt , 10. September 2013, Az: 3 K 1235/10
Leitsätze
1. NV: Für die gerichtliche Kontrolle der von dem FA bei der Festsetzung eines Verzögerungsgelds zu treffenden Ermessensentscheidung ist auf die Sach- und Rechtslage in dem Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung ‑‑regelmäßig den Zeitpunkt der Einspruchsentscheidung‑‑ abzustellen. Ist danach ein geänderter Bescheid erlassen worden, der gemäß § 68 FGO zum Gegenstand des Verfahrens geworden ist, ist auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Erlasses dieses Änderungsbescheids abzustellen.
2. NV: Werden die angeforderten Unterlagen noch vor dem maßgeblichen Beurteilungszeitpunkt ganz oder teilweise eingereicht, ist dieser Umstand im Rahmen der Ausübung des Entschließungs- und Auswahlermessens zu berücksichtigen.
3. NV: Ist der gemäß § 68 FGO zum Gegenstand des Verfahrens gewordene Bescheid über die Festsetzung des Verzögerungsgelds aufzuheben, so ist der ursprüngliche und lediglich suspendierte Bescheid aufzuheben, soweit er ebenfalls rechtwidrig ist.
Tatbestand
I. Die Beteiligten streiten über die Rechtmäßigkeit der Festsetzung eines Verzögerungsgelds.
Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin), die ihr Unternehmen in dem Streitjahr 2010 in der Rechtsform einer GbR betrieb, ist durch identitätswahrenden Rechtsformwechsel zunächst in eine OHG und sodann in eine KG umgewandelt worden.
Im Rahmen der Durchführung einer Außenprüfung forderte der Beklagte und Revisionskläger (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) die Klägerin mit Schreiben vom 1. März 2010, 8. und 21. April 2010 ‑‑letzteres unter Fristsetzung bis zum 27. April 2010‑‑ gemäß § 200 Abs. 1 der Abgabenordnung (AO) auf, Buchführungsunterlagen und Datenträger vorzulegen. Für den Fall der nicht fristgerechten Vorlage drohte das FA in dem Schreiben vom 21. April 2010 die Festsetzung eines Verzögerungsgelds in Höhe von jeweils 2.500 € an.
Bis zum Fristablauf überreichte die Klägerin lediglich einen Datenträger.
Mit Bescheid vom 1. Juni 2010 setzte das FA der Klägerin gegenüber wegen der Nichtvorlage der Buchführungsunterlagen ein Verzögerungsgeld in Höhe von 2.500 € fest. Ermessenserwägungen enthält der Bescheid nicht.
Den dagegen eingelegten Einspruch wies das FA mit Einspruchsentscheidung vom 27. Juli 2010 als unbegründet zurück. Zur Begründung führte es im Wesentlichen aus, dass die tatbestandlichen Voraussetzungen für die Festsetzung eines Verzögerungsgelds vorlägen. Die Festsetzung des Verzögerungsgelds sei auch ermessensgerecht, da die Klägerin die angeforderten Unterlagen trotz mehrfacher schriftlicher Aufforderung nicht vorgelegt und sie dadurch die Betriebsprüfung beeinträchtigt habe. Da sich das festgesetzte Verzögerungsgeld am Mindestbetrag orientiert habe, sei eine weitere Begründung des Auswahlermessens nicht erforderlich.
Am 12. August 2010 legte die Klägerin ausweislich eines Bestätigungsvermerks des Betriebsprüfers einen Großteil der angeforderten Buchführungsunterlagen vor.
Am 27. August 2010 hat die Klägerin gegen den Bescheid über die Festsetzung des Verzögerungsgelds Klage erhoben.
Während des anhängigen Klageverfahrens ersetzte das FA mit Bescheid vom 1. Oktober 2010 den Bescheid vom 1. Juni 2010, verbunden mit der ausdrücklichen Feststellung, dass die Festsetzung des Verzögerungsgelds nach erneuter Überprüfung bestehen bleibe. In dem Bescheid vom 1. Oktober 2010 hat das FA seine Ermessenserwägungen umfassend dargelegt.
Ebenfalls während des anhängigen Klageverfahrens hat das Finanzgericht (FG) auf Antrag der Klägerin die Vollziehung des Bescheids vom 1. Juni 2010 in der geänderten Fassung vom 1. Oktober 2010 mit Beschluss vom 15. Oktober 2010 3 V 1296/10 (Entscheidungen der Finanzgerichte 2011, 298) ausgesetzt. Die Entscheidung hat der erkennende Senat mit Beschluss vom 16. Juni 2011 IV B 120/10 (BFHE 233, 317, BStBl II 2011, 855) aufgehoben und den Antrag auf Aussetzung der Vollziehung abgelehnt.
Weder dem FG noch dem erkennenden Senat ist im Rahmen des Aussetzungsverfahrens mitgeteilt worden, dass die Klägerin noch vor Erlass des Bescheids vom 1. Oktober 2010 einen Großteil der angeforderten Buchführungsunterlagen vorgelegt hatte.
Das FG hat der Klage stattgegeben. Das FA habe sein Ermessen fehlerhaft ausgeübt, da es bei der Ermessensentscheidung nicht berücksichtigt habe, dass die Klägerin einen Teil der Unterlagen bereits vor Erlass des Bescheids vom 1. Oktober 2010 dem FA vorgelegt habe.
Obwohl nur dieser Bescheid gemäß § 68 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zum Gegenstand des finanzgerichtlichen Verfahrens geworden sei, seien auch der Bescheid vom 1. Juni 2010, der durch die Aufhebung des Bescheids vom 1. Oktober 2010 wiederauflebe, und die Einspruchsentscheidung vom 27. Juli 2010 aufzuheben. Nur dadurch werde dem Rechtsschutzbedürfnis der Klägerin Rechnung getragen. Auch der Bescheid vom 1. Juni 2010 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 27. Juli 2010 sei wegen fehlerhafter Ausübung des Entschließungsermessens rechtswidrig.
Mit der Revision rügt das FA die Verletzung materiellen Rechts. Das FG sei zu Unrecht davon ausgegangen, dass es ‑‑das FA‑‑ bei seinen Ermessenserwägungen im Bescheid vom 1. Oktober 2010 zu berücksichtigen gehabt habe, dass Teile der angeforderten Buchführungsunterlagen bereits zuvor vorgelegt worden seien.
Unter Bezugnahme auf den Beschluss des Bundesfinanzhofs (BFH) in BFHE 233, 317, BStBl II 2011, 855 geht das FA davon aus, dass für die Ermessensentscheidung auf den Zeitpunkt der erstmaligen Festsetzung des Verzögerungsgelds abzustellen sei. Wäre das FA gezwungen, bei der Ausübung des Entschließungsermessens eine Nachholung der Mitwirkung zu berücksichtigen, käme dies einer versteckten Einführung des § 335 AO für das Verzögerungsgeld gleich.
Das FA beantragt,
die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.Die Klägerin beantragt sinngemäß,
die Revision zurückzuweisen.Zur Begründung wiederholt und vertieft die Klägerin die Ausführungen in der Vorentscheidung.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist unbegründet und daher gemäß § 126 Abs. 2 FGO zurückzuweisen.
1. Zutreffend ist das FG davon ausgegangen, dass der Bescheid vom 1. Oktober 2010 in entsprechender Anwendung des § 68 Satz 1 FGO zum Gegenstand des Verfahrens geworden ist.
§ 68 Satz 1 FGO greift u.a. dann ein, wenn ein angefochtener Verwaltungsakt aus formellen Gründen aufgehoben und inhaltsgleich wiederholt wird. Dies gilt gleichermaßen auch dann, wenn der ursprüngliche Bescheid keine hinreichenden Ausführungen zur Ermessensausübung enthält und diese in dem "ersetzenden" Bescheid nachgeholt werden (BFH-Urteil vom 16. Dezember 2008 I R 29/08, BFHE 224, 195, BStBl II 2009, 539, m.w.N.; BFH-Beschluss in BFHE 233, 317, BStBl II 2011, 855).
Der Bescheid vom 1. Oktober 2010 ist in seinem Regelungsausspruch inhaltsgleich mit dem Bescheid vom 1. Juni 2010. In dem Bescheid vom 1. Oktober 2010 sind lediglich die Ermessenserwägungen nachgeholt worden. Der ersetzende Bescheid ist daher entsprechend § 68 Satz 1 FGO zum Gegenstand des Verfahrens geworden.
2. Zu Recht hat das FG ausgeführt, dass das FA das ihm zustehende Ermessen in dem Bescheid vom 1. Oktober 2010 fehlerhaft ausgeübt hat.
a) Die Festsetzung des Verzögerungsgelds erfordert nach § 146 Abs. 2b AO neben den zwingenden tatbestandlichen Voraussetzungen (hier die Nichterfüllung der Mitwirkungspflicht gemäß § 200 Abs. 1 AO innerhalb einer angemessenen Frist) eine zweifache Ermessensentscheidung des FA. Ermessen ist erstens im Hinblick darauf auszuüben, ob im jeweiligen Einzelfall ein Verzögerungsgeld festgesetzt wird (sog. Entschließungsermessen). Zweitens muss ‑‑falls das Entschließungsermessen zu Lasten des Steuerpflichtigen ausgeübt wird‑‑ eine Entscheidung über die Höhe des Verzögerungsgelds innerhalb des gesetzlich vorgegebenen Rahmens von mindestens 2.500 € bis höchstens 250.000 € getroffen werden (sog. Auswahlermessen; vgl. insgesamt BFH-Beschlüsse in BFHE 233, 317, BStBl II 2011, 855, und vom 28. Juni 2011 X B 37/11, BFH/NV 2011, 1833, sowie unter Hinweis auf die Gesetzesmaterialien BFH-Urteil vom 28. August 2012 I R 10/12, BFHE 239, 1, BStBl II 2013, 266, und BFH-Urteil vom 24. April 2014 IV R 25/11, zur amtlichen Veröffentlichung vorgesehen).
b) Die von dem FA zu treffende Ermessensentscheidung bei der Anwendung des § 146 Abs. 2b AO ist durch die Finanzgerichte gemäß § 102 FGO nur eingeschränkt überprüfbar. Nach § 102 Satz 1 FGO ist die gerichtliche Prüfung darauf beschränkt, ob das FA den für die Ermessensausübung maßgeblichen Sachverhalt vollständig ermittelt hat, ob die gesetzlichen Grenzen des Ermessens überschritten worden sind (sog. Ermessensüberschreitung), ob das FA von seinem Ermessen in einer dem Zweck der (Ermessens-)Ermächtigung nicht entsprechenden Weise Gebrauch gemacht (sog. Ermessensfehlgebrauch) oder ein ihm zustehendes Ermessen nicht ausgeübt hat (sog. Ermessensunterschreitung), oder ob die Behörde die verfassungsrechtlichen Schranken der Ermessensbetätigung, insbesondere also den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz, missachtet hat (BFH-Urteile in BFHE 239, 1, BStBl II 2013, 266, und vom 24. April 2014 IV R 25/11, a.a.O.; Lange in Hübschmann/Hepp/Spitaler ‑‑HHSp‑‑, § 102 FGO Rz 61 ff., Rz 86 ff., Rz 94 ff., jeweils mit umfangreichen Nachweisen).
aa) Für die gerichtliche Kontrolle ist die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung zugrunde zu legen (BFH-Urteile in BFHE 239, 1, BStBl II 2013, 266, und vom 24. April 2014 IV R 25/11, a.a.O.). Maßgeblicher Zeitpunkt ist daher regelmäßig der Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung. Ist allerdings, wie auch im Streitfall, nach Erlass der Einspruchsentscheidung ein geänderter Bescheid erlassen worden, der gemäß § 68 Satz 1 FGO zum Gegenstand des Klageverfahrens geworden ist, ist für die gerichtliche Kontrolle auf die Sach- und Rechtslage im Zeitpunkt des Erlasses dieses geänderten Bescheids abzustellen (vgl. BFH-Urteil vom 20. Mai 1994 VI R 105/92, BFHE 175, 3, BStBl II 1994, 836).
bb) Etwas anderes folgt auch nicht aus dem Beschluss des Senats in BFHE 233, 317, BStBl II 2011, 855. Die von dem FA für seine Auffassung herangezogenen Ausführungen in dieser Entscheidung betrafen den dortigen Sonderfall, dass das FA für die Nichtvorlage bzw. die verspätete Vorlage derselben Unterlagen zweimal ein Verzögerungsgeld festgesetzt hat. Für diesen Sonderfall hat der Senat ausgeführt, dass die Festsetzung eines weiteren Verzögerungsgelds wegen der fortgesetzten Nichtvorlage derselben Unterlagen bei der Ermessensentscheidung, die das FA für die erstmalige Festsetzung des Verzögerungsgelds zu treffen hat, nicht zu berücksichtigen sei. Diese Ausführungen stehen jedoch im Zusammenhang mit der Rechtsansicht des Senats, dass die Festsetzung eines weiteren Verzögerungsgelds rechtswidrig ist. Ist dies der Fall, ist diese Festsetzung auf entsprechenden Antrag des Steuerpflichtigen aufzuheben. Damit ist dem Rechtsschutzbedürfnis des Steuerpflichtigen Genüge getan. Das FA muss diesen Sachverhalt im Bescheid über die Festsetzung des ersten Verzögerungsgelds im Rahmen der dort zu treffenden Ermessensentscheidung nicht nochmals zugrunde legen. Nur in diesem Zusammenhang sind die Ausführungen des Senats zu verstehen, dass die Ermessenserwägungen sich ausschließlich auf den Sachverhalt beziehen, der im Zeitpunkt des Erlasses des ersten Festsetzungsbescheids verwirklicht war. Klarstellend weist der Senat darauf hin, dass damit der Zeitpunkt der letzten Verwaltungsentscheidung, also der Zeitpunkt des Erlasses der Einspruchsentscheidung bezüglich des ersten Verzögerungsgelds gemeint war.
c) Da § 146 Abs. 2b AO mit Ausnahme der Ermessensgrenzen hinsichtlich der Höhe des Verzögerungsgelds keine konkreten Ermessensvorgaben enthält, hat das FA die doppelte Ermessensentscheidung gemäß § 5 AO entsprechend dem Zweck der Regelung und unter Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes auszuüben.
aa) Die Beachtung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes erfordert, dass das eingesetzte Mittel zur Erreichung des angestrebten Zwecks nicht nur erforderlich und geeignet ist, sondern hierzu auch in einem angemessenen, d.h. für den Betroffenen zumutbaren Verhältnis stehen muss (vgl. BFH-Urteil in BFHE 239, 1, BStBl II 2013, 266). Ausweislich der gesetzgeberischen Intention wird mit dem Verzögerungsgeld ein doppelter Zweck verfolgt. So soll der Steuerpflichtige zur zeitnahen Erfüllung seiner Mitwirkungspflichten angehalten werden (BTDrucks 16/10189, S. 81, sog. Beugecharakter), des Weiteren soll aber auch die Verletzung der Mitwirkungspflichten sanktioniert werden (BFH-Urteil in BFHE 239, 1, BStBl II 2013, 266; Klein/ Rätke, AO, 12. Aufl., § 146 Rz 66, m.w.N.; kritisch Drüen in Tipke/Kruse, Abgabenordnung, Finanzgerichtsordnung, § 146 AO Rz 48). Die Ermessenserwägungen zur Festsetzung des Verzögerungsgelds sind daher insbesondere an der Dauer der Fristüberschreitung, den Gründen und dem Ausmaß der Pflichtverletzung/en sowie der Beeinträchtigung der Außenprüfung auszurichten (BFH-Urteil in BFHE 239, 1, BStBl II 2013, 266, und vom 24. April 2014 IV R 25/11, a.a.O.).
bb) Diese Ermessenserwägungen sind sowohl bei der Ausübung des Entschließungsermessens als auch bei der Ausübung des sog. Auswahlermessens anzustellen. Da das Verzögerungsgeld in Höhe von mindestens 2.500 € festzusetzen ist und es sich hierbei nicht um einen Bagatellbetrag handelt (vgl. BFH-Urteil in BFHE 239, 1, BStBl II 2013, 266), bedarf es einer sorgfältigen Abwägung, ob gegenüber dem Steuerpflichtigen überhaupt ein Verzögerungsgeld festgesetzt wird. Maßstab dieser Ermessensentscheidung des FA sowie nachvollziehbarer Gegenstand ihrer Begründung (§ 121 AO) muss deshalb sein, ob die Festsetzung eines Verzögerungsgelds in Höhe der Sanktionsuntergrenze (2.500 €) mit Rücksicht auf die Umstände der zu beurteilenden Pflichtverletzung/en sowie das Ausmaß der Beeinträchtigung der Prüfung angemessen ist. Demnach ist es ausgeschlossen, im Rahmen des Entschließungsermessens von einer Vorprägung auszugehen, wonach jede Verletzung der Mitwirkungspflichten (§ 200 Abs. 1 AO) ‑‑unabhängig davon, ob den Steuerpflichtigen ein Schuldvorwurf trifft‑‑ grundsätzlich zur Festsetzung eines Verzögerungsgelds führt (BFH-Urteil in BFHE 239, 1, BStBl II 2013, 266). Auch wenn die angeforderten Unterlagen schuldhaft nicht innerhalb der festgesetzten Frist vorgelegt werden, folgt daraus nicht, dass ein Verzögerungsgeld nunmehr zwingend im Sinne einer Ermessensreduzierung auf Null festzusetzen ist (vgl. BFH-Urteil vom 28. März 2007 IX R 22/05, BFH/NV 2007, 1450, zur Ausübung des Entschließungsermessens hinsichtlich der Festsetzung eines Verspätungszuschlags bei schuldhafter Säumnis). Auch bei schuldhafter Nichtvorlage der Unterlagen ist stets eine an der Sanktionsuntergrenze (2.500 €) auszurichtende Würdigung des Einzelfalls erforderlich (BFH-Urteil vom 24. April 2014 IV R 25/11, a.a.O.).
d) Ausgehend von diesen Grundsätzen hat das FG zu Recht entschieden, dass das FA sein Ermessen in dem Bescheid vom 1. Oktober 2010 fehlerhaft ausgeübt hat. Wie dargelegt sind die Ermessenserwägungen zur Festsetzung des Verzögerungsgelds u.a. an der Dauer der Fristüberschreitung auszurichten, da diese die Beeinträchtigung der Außenprüfung in besonderem Maße widerspiegelt. Angesichts dessen musste das FA sowohl bei der Ausübung des sog. Entschließungsermessens als auch bei der Ausübung des Auswahlermessens im Zeitpunkt des Erlasses des geänderten Bescheids vom 1. Oktober 2010 mitberücksichtigen, dass die Klägerin die angeforderten Unterlagen jedenfalls teilweise vor Erlass dieses Bescheids eingereicht hatte. Ob dieser Umstand dem Sachbearbeiter, der den streitgegenständlichen Bescheid erlassen hat, hier dem Sachbearbeiter der Rechtsbehelfsstelle, evtl. nicht bekannt war, ist unerheblich, da nicht auf dessen Kenntnis abzustellen ist. Ausreichend ist, dass die Unterlagen, wie geschehen, dem Betriebsprüfer, der diese angefordert hat, ausgehändigt worden und damit in den Machtbereich des FA gelangt sind.
Soweit das FA dagegen einwendet, die Berücksichtigung dieses Sachverhaltes käme der Einführung (gemeint ist: der sinngemäßen Anwendung) des § 335 AO gleich, vermag der Senat dem nicht zu folgen. Denn die Berücksichtigung der Vorlage der Unterlagen führt anders als im Anwendungsbereich des § 335 AO (Rechtsfolge dort: Beendigung des Zwangsverfahrens) nicht zur Beendigung des Verfahrens über die Festsetzung des Verzögerungsgelds. Ebenso wenig führt die Erfüllung der Mitwirkungspflichten nach dem Ablauf der dafür gesetzten Fristen dazu, dass nunmehr ein Verzögerungsgeld nicht mehr festgesetzt werden kann. Die nachträgliche Erfüllung der Mitwirkungspflichten muss jedoch sowohl im Rahmen der Ausübung des sog. Entschließungsermessens als auch bei der Ausübung des Auswahlermessens berücksichtigt werden. Inwieweit dies die Ermessensentscheidung im Ergebnis beeinflusst, ist eine Frage des Einzelfalls.
e) Das FG hat den Bescheid vom 1. Oktober 2010 danach zu Recht aufgehoben. Angesichts dessen muss der Senat nicht dazu Stellung nehmen, ob der Bescheid vom 1. Oktober 2010 bereits deshalb rechtswidrig und damit aufzuheben war, weil die Nachholung der Ermessenserwägungen in dem geänderten Bescheid während des anhängigen Klageverfahrens gegen die Regelung in § 102 Satz 2 FGO verstößt (dies verneinend: BFH-Urteil in BFHE 224, 195, BStBl II 2009, 539; anders im sozialgerichtlichen Verfahren: Urteile des Bundessozialgerichts vom 24. August 1988 7 RAr 53/86, BSGE 64, 36, und vom 15. Februar 1990 7 RAr 28/88, BSGE 66, 204; die Rechtsprechung des BFH ablehnend: Schallmoser in HHSp, § 68 FGO Rz 16; Lange in HHSp, § 102 FGO Rz 63, 67, und Steinhauff in juris PraxisReport Steuerrecht 24/2009, Anm. 3).
3. Zu Recht hat das FG des Weiteren den Bescheid vom 1. Juni 2010 in der Gestalt der Einspruchsentscheidung vom 27. Juli 2010 aufgehoben. Dem steht nicht entgegen, dass gemäß § 68 Satz 1 FGO nur der Änderungsbescheid vom 1. Oktober 2010 zum Gegenstand des Verfahrens geworden ist.
a) § 68 FGO in der im Streitjahr geltenden Fassung des Zweiten Gesetzes zur Änderung der Finanzgerichtsordnung und anderer Gesetze vom 19. Dezember 2000 (BGBl I 2000, 1757) soll dem Rechtsuchenden umfassenden Rechtsschutz sichern. Der Kläger soll nicht durch den Erlass eines ändernden oder ersetzenden Bescheids aus dem Verfahren gedrängt werden (BFH-Urteil vom 29. Januar 2003 XI R 84/00, BFH/NV 2003, 1330, zu § 68 Satz 3 FGO a.F.). Die Vorschrift dient darüber hinaus der Prozessökonomie und der Verfahrensvereinfachung. Sie soll den Beteiligten weitere ‑‑außergerichtliche und gerichtliche‑‑ Rechtsmittelverfahren gegen Änderungsbescheide ersparen, indem der mit dem ändernden oder ersetzenden Bescheid verbundene Verfahrensgegenstand in den bereits anhängigen Rechtsstreit aufgenommen wird. Der Kläger wird nicht auf ein neues Verfahren verwiesen, da seinem Klageinteresse ggf. auch im anhängigen Verfahren entsprochen werden kann (Schallmoser in HHSp, § 68 FGO Rz 8 ff.).
Durch die von dem FA veranlasste Korrektur des angefochtenen Bescheids und dessen Einbeziehung in das finanzgerichtliche Verfahren soll der Kläger aber insbesondere verfahrensrechtlich nicht schlechter gestellt werden als zuvor. Dies wäre indes im Streitfall zu besorgen, wenn in dem Urteil nur die Kassation des Änderungsbescheids vom 1. Oktober 2010 ausgesprochen würde. Durch die Aufhebung nur des Änderungsbescheids würde dem Anfechtungsbegehren der Klägerin, welches von vornherein auf die ersatzlose Aufhebung des festgesetzten Verzögerungsgelds gerichtet war, nicht ausreichend Rechnung getragen. Die Aufhebung nur des Änderungsbescheids hat nämlich zur Folge, dass der ursprüngliche Bescheid vom 1. Juni 2010 wieder in Kraft tritt. Der Änderungsbescheid vom 1. Oktober 2010 hat zwar den ursprünglichen Bescheid vom 1. Juni 2010 in seinen Regelungsgehalt aufgenommen (vgl. Beschluss des Großen Senats des BFH vom 25. Oktober 1972 GrS 1/72, BFHE 108, 1, BStBl II 1973, 231). Solange der Änderungsbescheid vom 1. Oktober 2010 Bestand hat, entfaltet der ursprüngliche Bescheid vom 1. Juni 2010 deshalb keine Wirkung, er bleibt für die Dauer des Bestehens des Änderungsbescheids suspendiert. Der ursprüngliche Bescheid tritt aber wieder in Kraft, wenn der Änderungsbescheid aufgehoben wird (vgl. Beschluss des Großen Senats des BFH in BFHE 108, 1, BStBl II 1973, 231).
b) Eine Aufhebung des ursprünglichen Bescheids vom 1. Juni 2010 kommt indes nur dann in Betracht, wenn dieser seinerseits rechtswidrig ist. Dies hat das FG zu Recht bejaht. Das FG hat zutreffend ausgeführt, dass der Bescheid vom 1. Juni 2010 schon deshalb rechtswidrig sei, weil das FA sein Entschließungsermessen fehlerhaft ausgeübt habe. Das FA hat nämlich, wie das FG richtig ausführt und von dem FA auch im Rahmen seiner Ausführungen im Bescheid vom 1. Oktober 2010 selber eingeräumt wird, sein Entschließungsermessen über die Festsetzung des Verzögerungsgelds mit Rücksicht auf die Sanktionsuntergrenze von 2.500 € nicht zutreffend ausgeübt. Die (erstmaligen) Ermessenserwägungen in der Einspruchsentscheidung vom 27. Juli 2010 können nur dahin verstanden werden, dass das FA von einer verschuldensunabhängigen Vorprägung seiner Ermessensbefugnis in dem Sinne ausgegangen ist, dass die Verletzung der Mitwirkungspflichten grundsätzlich die Sanktion des Verzögerungsgelds trage. Ein solches Verständnis ist jedoch, wie unter II.2.c bb ausgeführt, mit dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nicht vereinbar.
4. Die Kostenentscheidung folgt aus § 135 Abs. 2 FGO.