BFH X. Senat
AO § 173 Abs 1 Nr 1, EStG § 4 Abs 4a, EStG VZ 2005
vorgehend Niedersächsisches Finanzgericht , 31. May 2010, Az: 13 K 126/09
Leitsätze
NV: Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO setzt voraus, dass die später bekannt gewordene Tatsache kausal für die höhere Steuer ist. Hieran fehlt es, wenn das FA schon auf bisheriger Tatsachengrundlage zu der im Änderungsbescheid zugrunde gelegten Beurteilung (im Streitfall Kürzung des Schuldzinsenabzugs gemäß § 4 Abs. 4a EStG) hätte gelangen müssen.
Tatbestand
I. Die Klägerin und Revisionsklägerin (Klägerin) betrieb in den Streitjahren 2003 bis 2005 einen Einzelhandel mit …. Ihren Gewinn ermittelte sie durch Bestandsvergleich. Dabei wurden Schuldzinsen in Höhe von 23.963 € (2003), 22.143 € (2004) und 22.299 € (2005) gewinnmindernd als Betriebsausgaben berücksichtigt. Eine außerbilanzielle Hinzurechnung nach § 4 Abs. 4a des Einkommensteuergesetzes in den in den Streitjahren geltenden Fassungen (EStG) nahm die Klägerin nicht vor. Sie machte in der Anlage GSE zudem weder Angaben zu den Salden aus Entnahmen und Einlagen in den Wirtschaftsjahren (Zeile 27) noch zu den Schuldzinsen aus der Finanzierung von Anschaffungs-/Herstellungskosten von Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens (Zeile 28). Die Summe der langfristigen und kurzfristigen Zinsaufwendungen, die Privatentnahmen und -einlagen sowie die getätigten Investitionen waren aus den eingereichten Jahresabschlüssen ersichtlich.
Der Beklagte und Revisionsbeklagte (das Finanzamt ‑‑FA‑‑) veranlagte die Klägerin erklärungsgemäß und erließ Einkommensteuerbescheide für die Streitjahre sowie Bescheide über die gesonderte Feststellung des verbleibenden Verlustvortrags zur Einkommensteuer auf den 31. Dezember 2003 und 2005. Die Bescheide wurden bestandskräftig.
Im Zuge einer Außenprüfung überprüfte das FA u.a. den Schuldzinsenabzug. Aufgrund der ‑‑mit dem Jahr 1999 begonnenen und sodann fortgeführten‑‑ Berechnung ergaben sich nicht abziehbare Schuldzinsen i.S. des § 4 Abs. 4a EStG in Höhe von 20.972 € (2003), 19.972 € (2004) und 20.249 € (2005). Das FA erließ daraufhin entsprechend geänderte Einkommensteuerbescheide 2003 bis 2005 und hob die Verlustfeststellungsbescheide auf den 31. Dezember 2003 und 2005 auf. Die Änderung der Einkommensteuerbescheide stützte es auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 der Abgabenordnung (AO). Die hiergegen gerichteten Einsprüche wies das FA als unbegründet zurück.
Auch die Klage blieb erfolglos. Das Finanzgericht (FG) war im Wesentlichen der Ansicht, das FA habe die bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide zu Recht nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO geändert. Die Höhe der Zinsen für Darlehen zur Finanzierung von Anschaffungs- oder Herstellungskosten von Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens (Investitionszinsen) sei eine Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO, die zu einer höheren Steuer führe. Das FA habe erst im Rahmen der Außenprüfung Kenntnis davon erlangt, dass nicht alle Zinsaufwendungen auf die Finanzierung von Anlagegütern entfallen seien. Die Änderungsmöglichkeit sei nach Abwägung der beiderseitigen Pflichtverletzungen nicht ausgeschlossen. Zwar habe das FA durchaus Anlass gehabt, den Sachverhalt weiter aufzuklären, der Verstoß gegen die Amtsermittlungspflicht überwiege aber nicht den Verstoß der Klägerin gegen deren Pflicht zur Abgabe vollständiger Steuererklärungen.
Mit ihrer Revision macht die Klägerin im Wesentlichen die unzutreffende Anwendung von § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO geltend.
Die Klägerin beantragt,
das FG-Urteil, die Einspruchsentscheidung vom 15. April 2009 sowie sämtliche Änderungsbescheide vom 16. Februar 2009 und 21. Mai 2010 aufzuheben.Das FA beantragt,
die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des FG-Urteils und der angefochtenen Bescheide.
1. Die Voraussetzungen für eine Änderung der bestandskräftigen Einkommensteuerbescheide 2003 bis 2005 nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO lagen nicht vor.
a) Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO sind Steuerbescheide aufzuheben oder zu ändern, soweit Tatsachen oder Beweismittel nachträglich bekannt werden, die zu einer höheren Steuer führen. Da § 173 AO keine allgemeine Fehlerberichtigungsvorschrift ist, rechtfertigt nur das nachträgliche Bekanntwerden von Tatsachen und Beweismitteln eine Änderung nach dieser Vorschrift, nicht hingegen ein nachträglich erkannter Rechtsfehler (Beschluss des Großen Senats des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 23. November 1987 GrS 1/86, BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180). Nachträglich bekannt gewordene Tatsachen, nicht hingegen rechtliche Erwägungen, müssen für eine auf § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO gestützte Korrektur maßgeblich sein (Senatsurteil vom 11. Juni 1997 X R 117/95, BFH/NV 1997, 853; BFH-Urteil vom 26. Juni 2013 I R 4/12, BFH/NV 2013, 1925). Ein Steuerbescheid darf wegen nachträglich bekannt gewordener Tatsachen oder Beweismittel zugunsten des Steuerpflichtigen deshalb nur dann aufgehoben oder geändert werden, wenn das FA bei ursprünglicher Kenntnis der Tatsachen oder Beweismittel mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit anders entschieden hätte (BFH-Beschluss in BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180, unter C.II. am Anfang). Eine Änderung nach § 173 Abs. 1 AO scheidet hingegen aus, wenn die Unkenntnis der später bekannt gewordenen Tatsache für die ursprüngliche Veranlagung nicht ursächlich (rechtserheblich) gewesen ist, weil das FA auch bei rechtzeitiger Kenntnis der Tatsache mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit zu keiner anderen Steuer gelangt wäre (BFH-Beschluss in BFHE 151, 495, BStBl II 1988, 180, unter C.II.2.b).
b) Bei Heranziehung dieser Rechtsgrundsätze kommt eine Änderung der vom FA ursprünglich erlassenen Einkommensteuerbescheide nicht in Betracht.
aa) Es ist schon fraglich, ob dem FA im Streitfall überhaupt Tatsachen nachträglich bekannt geworden sind. Keine Tatsachen i.S. des § 173 AO sind Schlussfolgerungen aller Art, insbesondere juristische Subsumtionen (BFH-Urteil vom 24. Juli 1984 VIII R 304/81, BFHE 141, 485, BStBl II 1984, 785, m.w.N.). Die Erkenntnis, dass die Schuldzinsen der Klägerin dem Betriebsergebnis der Streitjahre jeweils außerbilanziell hätten hinzugerechnet werden müssen, ist das Ergebnis einer rechtlichen Würdigung und somit keine Tatsache i.S. des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO.
Unstreitig waren dem FA aus den in Zusammenhang mit den Einkommensteuererklärungen eingereichten Jahresabschlüssen die Höhe der Entnahmen und Einlagen sowie der Gewinne und Verluste bekannt. Aus diesen Angaben in den Jahresabschlüssen konnte das FA ersehen, dass die Klägerin in den Streitjahren 2003 und 2005 jeweils Überentnahmen i.S. des § 4 Abs. 4a Satz 2 EStG tätigte bzw. im Jahr 2004 eine Unterentnahme nach § 4 Abs. 4a Satz 3 Halbsatz 1 EStG vorlag. Unerheblich ist insoweit, dass die Klägerin in ihren Einkommensteuererklärungen den mit der Anlage GSE in Zeile 27 abgefragten Saldo aus Entnahmen und Einlagen nicht angegeben hatte. Hierbei handelt es sich lediglich um das Ergebnis einer Rechenoperation, die es dem FA erleichtert zu erkennen, ob überhaupt ein Anwendungsfall des § 4 Abs. 4a EStG gegeben sein könnte.
Dem FA war zudem bekannt, dass und in welcher Höhe Schuldzinsen angefallen waren. Die einzige Unsicherheit bestand darin, ob in den Schuldzinsen möglicherweise solche zur Finanzierung von Anschaffungs- oder Herstellungskosten von Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens enthalten waren. Nach den im Nachhinein von dem Betriebsprüfer getroffenen Feststellungen war dies tatsächlich nicht der Fall. Entgegen der Ansicht der Klägerin konnte das FA diesen Umstand nicht bereits aus den Jahresabschlüssen ersehen. Im Rahmen ihrer Geschäftseröffnung im Jahr 1997 hatte die Klägerin ein Darlehen aufgenommen. Es war indes nicht erkennbar, ob sie dieses Darlehen zur Finanzierung des neu erworbenen Anlage- und/oder Umlaufvermögens verwandte.
Auch zu den nach § 4 Abs. 4a Satz 5 EStG begünstigten Zinsen hatte die Klägerin in den Zeilen 28 der Anlage GSE keine Angaben gemacht. Der erkennende Senat kann im Streitfall offen lassen, ob das Nichtausfüllen der Zeilen 28 als konkludente Tatsachenbehauptung "0 €" oder aber als Nichterklärung im Sinne einer Nichtäußerung zu werten ist. Nur im zweiten Fall ‑‑von dem offenbar sowohl die Beteiligten als auch das FG übereinstimmend und ohne dies weiter zu problematisieren, ausgehen‑‑ läge überhaupt eine neue Tatsache vor. Entgegen der Ansicht des FA und des FG fehlt es in diesem Fall aber an der weiteren Voraussetzung des § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO.
bb) Nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO ist ein Steuerbescheid nur aufzuheben oder zu ändern, "soweit" die nachträglich bekannt gewordene Tatsache zu einer höheren Steuer führt. Erforderlich ist mithin ein Kausalzusammenhang zwischen der nachträglich bekannt gewordenen Tatsache und der höheren Steuer. Die neue Tatsache muss ursächlich (rechtserheblich) für die höhere Steuer sein (vgl. schon oben unter II.1.a). Zu prüfen ist in diesem Zusammenhang, wie auf bisheriger Tatsachengrundlage festzusetzen gewesen wäre und wie auf neuer Tatsachengrundlage festzusetzen ist. Ausgehend hiervon war die (nachträgliche) Erkenntnis des FA, dass keine Zinsen i.S. von § 4 Abs. 4a Satz 5 EStG vorlagen, nicht ursächlich für die höhere Steuerfestsetzung in den Änderungsbescheiden.
(1) Das FA musste vielmehr schon auf Grundlage der bekannten Tatsachen zur Anwendung von § 4 Abs. 4a Sätze 1 bis 4 EStG und damit zu nicht abziehbaren Schuldzinsen in der den Änderungsbescheiden zugrunde gelegten Höhe gelangen. Dies galt nach der (durch das BFH-Urteil vom 17. August 2010 VIII R 42/07, BFHE 230, 424, BStBl II 2010, 1041 als zutreffend bestätigten) Verwaltungsauffassung (Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 22. Mai 2000 IV C 2-S 2144-60/00, BStBl I 2000, 588, und vom 17. November 2005 IV B 2-S 2144-50/05, BStBl I 2005, 1019, jeweils Rdnr. 23, 24) insbesondere auch für das Streitjahr 2004, in dem für sich gesehen lediglich eine Unterentnahme vorlag.
(2) Das FA durfte dagegen nicht davon ausgehen, infolge einer Ausnahme i.S. des § 4 Abs. 4a Satz 5 EStG sei der Schuldzinsenabzug in voller Höhe zu gewähren.
So konnte es aus den ihm vorliegenden Jahresabschlüssen ebenfalls ersehen, dass die in den Streitjahren angefallenen Schuldzinsen von jeweils mehr als 20.000 € theoretisch allenfalls überhaupt nur zu einem geringen Teil aus der Finanzierung von Anschaffungskosten von Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens stammen konnten. Dabei musste es noch nicht einmal die Akten der Vorjahre heranziehen, sondern es genügte ein Blick in den Anlagenspiegel um zu erkennen, dass die Klägerin im Anschluss an die Anschaffung der Grundausstattung bei Eröffnung ihres Geschäfts im Jahr 1997 und den beiden Folgejahren (Anschaffungskosten knapp 68.000 DM) bis zum Jahr 2005 ‑‑wenn überhaupt‑‑ nur kleinere Investitionen tätigte. Die Schuldzinsen hatten sich demgegenüber mit Beendigung des Zwei-Konten-Modells durch Entnahme des Guthabens zulasten zweier neuer Darlehen seit dem Jahr 2002 mehr als verfünffacht. Bei dieser Sachlage konnte das FA bei der ursprünglichen Veranlagung nicht davon ausgehen, dass die von der Klägerin in Abzug gebrachten Schuldzinsen in Höhe eines Betrages mit der Finanzierung von Wirtschaftsgütern des Anlagevermögens in Zusammenhang standen, der die an sich gemäß § 4 Abs. 4a Sätze 1 bis 4 EStG gebotene Hinzurechnung vollständig negiert hätte.
Vielmehr hat das FA die Vorschrift des § 4 Abs. 4a EStG bei der Veranlagung der Streitjahre (und wie bereits in den Vorjahren) schlicht insgesamt übersehen. Das nachträgliche Erkennen dieses Rechtsanwendungsfehlers berechtigt nicht zu einer Änderung nach § 173 Abs. 1 Nr. 1 AO.
2. Da eine Änderung der Einkommensteuerbescheide 2003 bis 2005 nicht in Betracht kam, fehlt es auch an einer Rechtsgrundlage für die Aufhebung der Bescheide über die gesonderte Feststellung der verbleibenden Verlustvorträge auf den 31. Dezember 2003 und 2005.
3. Die Kostenentscheidung beruht auf § 135 Abs. 1 FGO.