BFH VII. Senat
AO § 69, AO § 34, FGO § 162
vorgehend FG Köln, 16. March 2011, Az: 13 K 4010/06
Leitsätze
1. NV: Ob ein bei Fälligkeit von USt-Vorauszahlungen bereits abberufener Geschäftsführer gleichwohl in Haftung genommen werden kann, weil seine Abberufung im Zusammenhang mit einer sog. Firmenbestattung steht, deshalb sittenwidrig und nichtig ist, bedarf keiner Klärung, wenn der Geschäftsführer die erforderlichen Mittel für die Begleichung der streitigen Vorauszahlungen nicht schon vor seiner Abberufung hätte zurücklegen müssen.
2. NV: Als Haftungsschuldner i.S. von § 69 AO, § 34 AO kommt auch ein zwischenzeitlich ausgeschiedener Geschäftsführer in Betracht, wenn er ungeachtet der erkennbar entstehenden Steueransprüche für deren spätere Tilgung im Zeitpunkt der Fälligkeit keine Sorge trifft.
3. NV: Haftungsbegründend ist die Verletzung der Mittelvorsorgepflicht, wenn er in der Lage gewesen wäre, die zur Begleichung sämtlicher Verbindlichkeiten der GmbH erforderlichen Beträge vollständig vorzuhalten. Müssen sich dem FG insoweit vor dem Hintergrund eines bevorstehenden Insolvenzverfahrens Zweifel aufdrängen, muss es diesen auch bei einer - dem Grunde nach berechtigten - Schätzung der Tilgungsquote nachgehen.
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) gründete 2002 mit Herrn X und einer weiteren Gesellschafterin die Y-GmbH, die in den Streitjahren einen …markt betrieb. Am 2. Februar 2005 übertrugen die Gesellschafter ihre Gesellschaftsanteile auf Herrn Z. Am selben Tag bestellte sich Z unter Abberufung des bisherigen Geschäftsführers, des Klägers, selbst zum Geschäftsführer. Zeitgleich verkaufte er X den Warenbestand, die Ladeneinrichtung und einen LKW, X sollte dafür diverse Verbindlichkeiten und Arbeitnehmer der GmbH, u.a. den Kläger, übernehmen. Einen Tag später meldete der Kläger das Gewerbe der GmbH wegen Geschäftsaufgabe bei der Stadt ab. Auf Antrag des Beklagten und Revisionsklägers (Finanzamt ‑‑FA‑‑) wurde später das Insolvenzverfahren wegen Zahlungsunfähigkeit und Überschuldung der GmbH eröffnet.
In einer Haftungsanfrage an den Kläger wegen rückständiger Steuern der GmbH teilte das FA mit, es gehe von einer sog. Firmenbestattung aus, bei der die damit verbundenen Beschlüsse sittenwidrig und nichtig seien, so dass der Kläger trotz Abberufung weiterhin als Geschäftsführer haftbar sei.
Mit Bescheid vom 31. März 2006 nahm das FA den Kläger und Z für Körperschaftsteuer 2002 und 2003, für Umsatzsteuer 2003 und Umsatzsteuervorauszahlungen IV. Quartal 2004 sowie I. Quartal 2005 in Haftung. Für die Umsatzsteuer IV. Quartal 2004 und I. Quartal 2005 erließ es einen weiteren Haftungsbescheid gegenüber X als Betriebsübernehmer nach § 75 der Abgabenordnung (AO). Der Einspruch des Klägers blieb bis auf eine geringe Reduzierung der Haftungssumme erfolglos.
Das Finanzgericht (FG) gab der Klage statt, soweit das FA den Kläger für Umsatzsteuervorauszahlungen IV. Quartal 2004 und I. Quartal 2005 als Haftungsschuldner gemäß §§ 69, 34 der Abgabenordnung (AO) in Anspruch genommen hat. Es habe sich nicht feststellen lassen, dass der Kläger zu den maßgeblichen Deklarationsterminen (10. Februar 2005 und 10. April 2005) trotz des Gesellschafterbeschlusses über den Wechsel in der Geschäftsführung noch Geschäftsführer der GmbH gewesen sei. Unbeschadet der Übertragbarkeit der zivilrechtlichen Rechtsprechung zur sog. "Firmenbestattung" auf das Steuerrecht sei es von der Sittenwidrigkeit des Beschlusses nicht überzeugt. Ein vergleichbarer Sachverhalt wie in dem zitierten Urteil des Amtsgerichts (AG) Memmingen vom 2. Dezember 2003 HRB 8361 (Deutsche Steuer-Zeitung 2004, 316) sei im Streitfall nicht gegeben. Insbesondere übersehe das FA, dass sich die Problematik der organisierten Firmenbestattung im Streitfall nur bezüglich der Haftung des Klägers für die Umsatzsteuervorauszahlungen IV. Quartal 2004 und I. Quartal 2005 stellen könne, für die auch der Betriebsübernehmer X bestandskräftig in Haftung genommen worden sei. Dem Fiskus sei durch die gewählte Gestaltung ein weiterer Haftungsschuldner beschert worden und das Haftungssubstrat des lebenden Betriebs erhalten geblieben. Daher sei zumindest zweifelhaft, ob die gewählte Gestaltung dem Beiseiteschaffen von Vermögen der GmbH und damit der Benachteiligung von Gläubigern gedient habe. Zweifel ergäben sich auch daraus, dass das AG trotz einer Remonstration des FA den Beschluss über den Wechsel der Geschäftsführung in das Handelsregister eingetragen habe.
Hinsichtlich der Körperschaft- und Umsatzsteuer 2002 und 2003 sei der Haftungsbescheid rechtmäßig und die Klage abzuweisen. Der Kläger habe es grob fahrlässig unterlassen, die Steuererklärungen bis zum 31. Mai der Jahre 2003 und 2004 abzugeben. Dadurch sei der Steuerausfall verursacht. Der GmbH hätten in den Jahren 2003 und 2004 ausreichend Mittel für die Begleichung der Steuerschulden zur Verfügung gestanden.
Mit seiner Revision macht das FA geltend, das FG habe die Haftung des Klägers für die Umsatzsteuervorauszahlungen IV. Quartal 2004 und I. Quartal 2005 zu Unrecht mit der Begründung verneint, der Kläger sei zum maßgeblichen Zeitpunkt (10. Februar 2005) bereits als Geschäftsführer abberufen gewesen. Angesichts der vorliegenden Indizien sei als erwiesen anzusehen, dass die Übertragung der Gesellschafteranteile auf Z und die Abberufung des Klägers als Geschäftsführer die Voraussetzungen einer sog. "Firmenbestattung" erfüllten und damit wegen Sittenwidrigkeit nichtig seien. Abgesehen davon habe das FG ‑‑unter Missachtung der diesbezüglichen Ausführungen schon in der Einspruchsentscheidung‑‑ unterlassen, die Haftung des Klägers wegen Verletzung der Mittelvorsorgepflicht zu prüfen. Angesichts der wirtschaftlichen Lage der GmbH und in Kenntnis der im Februar 2005 fällig werdenden Umsatzsteuern hätte der Kläger die erforderlichen Mittel bereithalten können und müssen.
Das FA beantragt, das Urteil des FG insoweit aufzuheben, als es die Haftung für Umsatzsteuer IV. Quartal 2004 und I. Quartal 2005 (jeweils zuzüglich entstandener Säumniszuschläge) betrifft, und die Klage in vollem Umfang abzuweisen.
Der Kläger hält die Entscheidung des FG für richtig und beantragt, die Revision zurückzuweisen. Er weist ergänzend darauf hin, dass der weitere Haftungsschuldner X bereits erhebliche Zahlungen geleistet habe, die auch bei seiner, des Klägers, Inanspruchnahme berücksichtigt werden müssten.
Entscheidungsgründe
II. Die Revision ist begründet. Das Urteil beruht in dem angefochtenen Ausspruch auf der Verletzung von Bundesrecht (§ 118 Abs. 1 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das Urteil des FG ist insoweit aufzuheben und die Sache an das FG zurückzuverweisen (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO).
1. Das Urteil ist rechtsfehlerhaft, weil die Haftung des Klägers für die nicht entrichteten Umsatzsteuervorauszahlungen IV. Quartal 2004 und I. Quartal 2005 der GmbH nicht schon daran scheitert, dass er im Zeitpunkt der Fälligkeit dieser Steuern nicht mehr Geschäftsführer der GmbH war.
a) Nach ständiger Rechtsprechung des Senats kommt als Haftungsschuldner i.S. der §§ 69, 34 AO grundsätzlich auch ein zwischenzeitlich ausgeschiedener Geschäftsführer in Betracht, wenn er die ihm während seiner Tätigkeit obliegenden steuerlichen Pflichten der Gesellschaft schuldhaft nicht erfüllt hat. Das kann der Fall sein, wenn der gesetzliche Vertreter ungeachtet der erkennbar entstehenden Steueransprüche für deren spätere Tilgung im Zeitpunkt der Fälligkeit keine Sorge trifft. Dabei kann je nach den Umständen des Einzelfalls ein bestimmtes pflichtmäßiges Verhalten auch schon vor der Entstehung der Steuerforderung geboten sein, wenn die Entstehung absehbar war (Senatsbeschluss vom 25. April 2013 VII B 245/12, BFH/NV 2013, 1063, m.w.N.).
b) In Beachtung dieser Rechtsprechung hätte das FG ‑‑auch wenn der Kläger nur bis 2. Februar 2005 Geschäftsführer war‑‑ feststellen müssen, ob und ggf. in welchem Umfang er bis zu seiner Abberufung als Geschäftsführer die erforderlichen Mittel für die Begleichung der zu diesem Zeitpunkt ‑‑also bis zum 2. Februar 2005‑‑ schon entstandenen Steuern für das IV. Quartal 2004 und das I. Quartal 2005 hätte beiseite legen können und müssen.
Feststellungen dazu sind dem Urteil nicht zu entnehmen. Zwar geht das FG im Rahmen der Prüfung, ob der Kläger für Körperschaft- und Umsatzsteuer der Veranlagungszeiträume 2002 und 2003 zu Recht in Haftung genommen worden ist, davon aus, dass die GmbH in den Jahren 2003 und 2004 über ausreichende Mittel für die Begleichung der Steuerschulden verfügte. Die dieser Annahme zugrunde liegenden Feststellungen lassen aber nicht den Schluss zu, die GmbH sei auch noch im letzten Quartal 2004 und Anfang 2005, dem Zeitraum, in dem der Kläger Mittelvorsorge für die bevorstehenden Steuerfälligkeiten hätte treffen müssen, in der Lage gewesen, sämtliche Verbindlichkeiten der GmbH vollständig zu bedienen. Die sich insoweit vor dem Hintergrund des bevorstehenden Insolvenzverfahrens aufdrängenden Zweifel hätten das FG veranlassen müssen, sich mit den dazu in dem von ihm selbst beigezogenen Insolvenzgutachten zu findenden Aussagen des Insolvenzverwalters (insbesondere, dass die GmbH auch schon vor Februar 2005 keine Zahlungen auf bestehende Verbindlichkeiten mehr geleistet habe) auseinanderzusetzen. Daran ändert auch nichts, dass im Fall mangelnder Mitwirkung des Geschäftsführers die Haftungssumme zu schätzen und der Grundsatz der anteiligen Tilgung unter Umständen sogar ganz außer Acht gelassen werden kann ‑‑wie das FG zur Begründung der 100 %igen Haftung für die übrigen Steuern argumentiert hat (vgl. dazu z.B. Senatsbeschluss vom 19. November 2012 VII B 126/12, BFH/NV 2013, 504). Denn auch bei einer ‑‑dem Grunde nach berechtigten‑‑ Schätzung der Tilgungsquote ist das FG verpflichtet, sämtliche bekannten Umstände ‑‑hier insbesondere das Insolvenzgutachten‑‑ im Rahmen seiner Schätzung zu berücksichtigen (§ 96 Abs. 1 Satz 1 FGO i.V.m. § 162 Abs. 1 Satz 2 AO).
2. Richtig und insoweit keiner weiteren Feststellungen des FG bedürftig ist allerdings die Haftungsfreistellung des Klägers hinsichtlich möglicherweise nach dem 2. Februar 2005 entstandener Umsatzsteuerschulden der GmbH. Die Auffassung des FG, der Kläger sei zu diesem Zeitpunkt rechtswirksam als Geschäftsführer abberufen worden und habe folglich keine steuerlichen Pflichten für die GmbH mehr zu erfüllen gehabt, ist revisionsrechtlich nicht zu beanstanden.
Das FG hat die vom FA in den Mittelpunkt seiner Revisionsbegründung gerückten Fragen, ob die Abberufung des Klägers als Geschäftsführer im Zusammenhang mit einer sog. Firmenbestattung steht, deshalb sittenwidrig und nichtig ist und der Kläger auch hinsichtlich der streitigen Umsatzsteuervorauszahlungen Haftungsschuldner geblieben ist, in seiner Entscheidung eingehend erörtert. Insbesondere hat es die vom FA als typische Indizien einer "Firmenbestattung" angesehenen Umstände der Anteilsübertragung auf einen nicht mehr auffindbaren Übernehmer, der zeitgleichen Geschäftsführerabberufung und der Betriebsübernahme durch X "unter Umgehung einer geordneten Insolvenz" erwogen, aber als durch den tatsächlich verwirklichten Lebenssachverhalt teils widerlegt, teils jedenfalls als nicht hinreichend überzeugend angesehen. An diese Würdigung des ‑‑vom FA nicht mit Verfahrensrügen angegriffenen‑‑ vom FG zugrunde gelegten Sachverhalts ist der erkennende Senat gebunden, da sie weder gegen Denkgesetze noch allgemeine Erfahrungssätze verstößt (vgl. Senatsbeschluss vom 20. September 2012 VII R 42/11, BFH/NV 2013, 942, m.w.N.). Vielmehr ist das den Indizien des FA entgegengehaltene Argument, dem Bild einer organisierten Firmenbestattung entspreche die gewählte Gestaltung nicht, da sie dem Fiskus hinsichtlich der ‑‑bei Annahme einer Firmenbestattung allein betroffenen‑‑ im IV. Quartal 2004 und I. Quartal 2005 entstandenen Betriebssteuern einen weiteren Haftungsschuldner beschert habe, nicht nur möglich, sondern nachvollziehbar.
3. Im zweiten Rechtszug wird das FG zu prüfen haben, ob die wirtschaftliche Lage der GmbH ab Oktober 2004 bis 2. Februar 2005 eine Mittelvorsorge für die bevorstehenden Umsatzsteuerfälligkeiten erlaubte und bejahendenfalls ‑‑unter Berücksichtigung der gleichmäßigen Bedienung aller Verbindlichkeiten‑‑ in welchem Umfang.
4. Die Übertragung der Kostenentscheidung auf das FG beruht auf § 143 Abs. 2 FGO.