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Urteil vom 05. März 2014, XI R 32/13

Zum Kindergeldanspruch für ein verheiratetes volljähriges Kind

BFH XI. Senat

EStG § 32 Abs 4 S 1 Nr 2 Buchst a, EStG § 32 Abs 4 S 2, EStG § 70 Abs 2, AO § 37 Abs 2, BGB § 1608 Abs 1 S 1, EStG VZ 2012

vorgehend FG Köln, 15. July 2013, Az: 9 K 935/13

Leitsätze

NV: Die Heirat eines Kindes steht nach der ab 1. Januar 2012 geltenden Rechtslage einem Anspruch des Kindergeldberechtigten auf Kindergeld selbst dann nicht entgegen, wenn dieser nicht zum Unterhalt gegenüber dem Kind verpflichtet ist, weil der Ehegatte des Kindes zum vollständigen Unterhalt in der Lage ist (Anschluss an BFH-Urteil vom 17. Oktober 2013 III R 22/13, BFHE 243, 246, BFH/NV 2014, 402).

Tatbestand

  1. I. Die Klägerin und Revisionsbeklagte (Klägerin) ist die Mutter ihrer 1991 geborenen Tochter … (T), die seit 2010 verheiratet ist und ‑‑seit 2011 zusammen mit ihrem Ehemann‑‑ bis Ende 2012 im Haushalt der Klägerin in … lebte.

  2. T besuchte bis zum Juli 2010 eine einjährige Berufsfachschule für Hochschulzugangsberechtigte. Sie arbeitete ab August 2010 ‑‑befristet bis August 2011‑‑ als Verkäuferin. Ab Juli 2011 wurde T zur geprüften Handelsassistentin – Einzelhandel ausgebildet.

  3. Der Ehemann der T, der nach den Angaben der Klägerin bis 2011 in der Türkei bei seinen Eltern lebte und ohne Einkommen war, besuchte ab Juni 2011 einen Integrationskurs und war daneben ab August 2011 als Lagerarbeiter angestellt.

  4. Die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) gewährte der Klägerin Kindergeld für T.

  5. Mit Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid vom 31. März 2012 hob die Familienkasse die Festsetzung des Kindergeldes gemäß § 70 Abs. 2 des Einkommensteuergesetzes (EStG) ab Januar 2012 auf und forderte die Klägerin auf, das für den Zeitraum von Januar bis März 2012 gezahlte Kindergeld in Höhe von insgesamt … € gemäß § 37 Abs. 2 der Abgabenordnung zu erstatten. Die Voraussetzungen für die Zahlung von Kindergeld für ein Kind, welches das 18. Lebensjahr vollendet habe, seien nach Prüfung der Einkünfte und Bezüge des Kindes für das Kalenderjahr 2012 nicht erfüllt. Unter Berücksichtigung des Unterhaltsbeitrages ihres Ehemannes, dessen Einkommen sich nunmehr erhöht habe, könne sich T selbst unterhalten.

  6. Hiergegen legte die Klägerin Einspruch ein, den die Familienkasse mit Einspruchsentscheidung vom 8. März 2013 als unbegründet zurückwies.

  7. Die anschließende Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) hob den angefochtenen Aufhebungs- und Rückforderungsbescheid und die hierzu ergangene Einspruchsentscheidung auf.

  8. Es führte in den Gründen seiner Entscheidung aus, mit dem Wegfall der Einkünfte- und Bezügegrenze i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F. zum 1. Januar 2012 sei Kindergeld nunmehr bei ‑‑wie hier‑‑ Vorliegen eines Berücksichtigungstatbestandes unabhängig von der Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes zu gewähren, sodass es auf einen Unterhaltsanspruch des Kindes gegenüber seinem Ehegatten nicht ankomme.

  9. Das Urteil des FG ist in Entscheidungen der Finanzgerichte 2013, 1679 veröffentlicht.

  10. Mit der vom FG zugelassenen Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts.

  11. Sie bringt im Wesentlichen vor, das Kindergeld solle die geminderte Leistungsfähigkeit der Eltern ausgleichen, die sich aus ihrer Unterhaltspflicht gegenüber ihren Kindern ergebe. Dieses Erfordernis entfalle, soweit ‑‑was grundsätzlich nach der Eheschließung des Kindes der Fall sei‑‑ die Eltern nicht mehr unterhaltspflichtig seien, weil ab diesem Zeitpunkt der Ehegatte des Kindes nach § 1608 Abs. 1 Satz 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs vorrangig zum Unterhalt verpflichtet sei. Ein Kindergeldanspruch für ein verheiratetes volljähriges Kind komme ‑‑auch nach Wegfall der Einkünfte- und Bezügegrenze i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F.‑‑ nur in Betracht, wenn nach den Rechtsprechungsgrundsätzen des Bundesfinanzhofs (BFH) ein sog. Mangelfall gegeben sei und deshalb eine Unterhaltspflicht der Eltern bestehe.

  12. Der Anspruch auf Kindergeld sei allein bei einer typischen Unterhaltssituation seitens der Eltern gerechtfertigt, was auch aus der widerlegbaren Vermutung des § 32 Abs. 4 EStG in der ab 1. Januar 2012 geltenden Fassung folge, wonach das Kind nach Abschluss einer erstmaligen Ausbildung oder eines Erststudiums in der Lage sei, sich selbst zu unterhalten.

  13. Die Familienkasse beantragt, die Vorentscheidung aufzuheben und die Klage abzuweisen.

  14. Die Klägerin tritt der Revision entgegen; einen ausdrücklichen Revisionsantrag hat sie nicht gestellt.

Entscheidungsgründe

  1. II. Die Revision der Familienkasse ist unbegründet. Sie ist daher nach § 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung (FGO) zurückzuweisen.

  2. Das FG hat zu Recht entschieden, dass die Klägerin für den streitigen Zeitraum von Januar bis März 2012 die Anspruchsvoraussetzungen für die Gewährung von Kindergeld erfüllt hat.

  3. 1. Der Klägerin steht nach den in §§ 62 ff., § 32 EStG getroffenen Regelungen für T Kindergeld zu. T war ab Januar 2012 weiter als Kind zu berücksichtigen, denn sie hatte das 18. Lebensjahr, aber noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet, wurde ‑‑was unstreitig ist‑‑ für einen Beruf i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG ausgebildet und hatte weder eine erstmalige Berufsausbildung noch ein Erststudium i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG i.d.F. des Steuervereinfachungsgesetzes 2011 (BGBl I 2011, 2131) ‑‑EStG n.F.‑‑ abgeschlossen. Die Höhe ihrer Einkünfte und Bezüge ist ‑‑im Gegensatz zu der bis Ende 2011 geltenden Rechtslage‑‑ ohne Bedeutung.

  4. 2. Dem steht ‑‑abweichend von Abschn. 31.2.2 Abs. 1 Satz 1 der Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes 2013‑‑ nicht entgegen, dass T im streitigen Zeitraum verheiratet war.

  5. a) Der III. Senat des BFH hat bereits entschieden, dass ‑‑nach der ab Januar 2012 geltenden Rechtslage‑‑ die Heirat des Kindes dem Anspruch auf Kindergeld unabhängig davon, ob ein sog. Mangelfall vorliegt, nicht entgegensteht (vgl. dazu BFH-Urteil vom 17. Oktober 2013 III R 22/13, zur amtlichen Veröffentlichung bestimmt, BFH/NV 2014, 402, Rz 10 f.). Der erkennende Senat schließt sich dieser Rechtsprechung aus den dort genannten Gründen an.

  6. b) Entgegen der Ansicht der Familienkasse ist ein Kindergeldanspruch nicht allein bei einer typischen Unterhaltssituation seitens der Eltern gerechtfertigt.

  7. Zwar setzte nach früherer Rechtsprechung des BFH der Kindergeldanspruch für über 18 Jahre alte Kinder eine typische Unterhaltssituation seitens der Eltern voraus (vgl. dazu z.B. BFH-Urteile vom 2. März 2000 VI R 13/99, BFHE 191, 69, BStBl II 2000, 522; vom 19. April 2007 III R 65/06, BFHE 218, 70, BStBl II 2008, 756; BFH-Beschluss vom 22. Dezember 2011 III R 8/08, BFHE 236, 155, BStBl II 2012, 340). Diese Rechtsprechung wurde jedoch inzwischen aufgegeben (vgl. dazu BFH-Urteil vom 17. Juni 2010 III R 34/09, BFHE 230, 61, BStBl II 2010, 982). Das Erfordernis einer typischen Unterhaltssituation für den Kindergeldanspruch bei volljährigen Kindern ist seither vollständig entfallen (vgl. dazu BFH-Urteil in BFH/NV 2014, 402, Rz 15).

  8. Einen der früheren Rechtsprechung des BFH entsprechenden (Ausschluss-)Tatbestand hat der Gesetzgeber mit der durch das Steuervereinfachungsgesetz 2011 geschaffenen, ab 1. Januar 2012 geltenden Rechtslage ‑‑trotz Wegfalls des Grenzbetrags i.S. des § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F.‑‑ nicht vorgesehen. Abweichendes folgt ‑‑entgegen dem Vorbringen der Familienkasse‑‑ ebenso wenig aus § 32 Abs. 4 Satz 2 EStG n.F., wonach nach Abschluss einer erstmaligen Berufsausbildung und eines Erststudiums ein Kind in den Fällen des Satzes 1 Nr. 2 nur berücksichtigt wird, wenn es keiner Erwerbstätigkeit nachgeht. Denn nach § 32 Abs. 4 Satz 3 EStG n.F. sind ‑‑was einer typischen Unterhaltssituation seitens der Eltern entgegensteht‑‑ eine Erwerbstätigkeit mit bis zu 20 Stunden regelmäßiger wöchentlicher Arbeitszeit, ein Ausbildungsdienstverhältnis oder ein geringfügiges Beschäftigungsverhältnis unschädlich.

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