BFH III. Senat
FGO § 115 Abs 2 Nr 3, FGO § 96 Abs 2, FGO § 65 Abs 1 S 1, FGO § 65 Abs 1 S 4, FGO § 65 Abs 2 S 2, FGO § 71 Abs 2, FGO § 47 Abs 2, GG Art 103 Abs 1
vorgehend Finanzgericht Berlin-Brandenburg , 10. September 2013, Az: 7 K 7401/11
Leitsätze
1. NV: Das FG verletzt den Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn es zu Unrecht eine Ausschlussfrist nach § 65 Abs. 2 Satz 2 FGO setzt und hierauf gestützt ein Prozessurteil statt eines Sachurteils erlässt.
2. NV: Zur Bestimmung des Gegenstandes des Klagebegehrens sind alle dem FG und dem FA bekannten und vernünftigerweise erkennbaren Umstände tatsächlicher und rechtlicher Art zu berücksichtigen, wobei insbesondere auf den Inhalt der Klageschrift und die hierin bezeichneten Bescheide und Einspruchsentscheidungen zurückzugreifen ist.
3. NV: Das FG muss auch dann die Bescheide und Einspruchsentscheidungen, welche in der bei ihm eingereichten Klageschrift bezeichnet wurden, zur Auslegung des Klagebegehrens heranziehen, wenn der Kläger diese seiner Klageschrift nicht beigefügt hat, sondern die betreffenden Verwaltungsakte nur dem FA vorliegen.
Tatbestand
I. Die zusammen zur Einkommensteuer veranlagten Kläger und Beschwerdeführer (Kläger) legten mit Schreiben ihres Prozessbevollmächtigten vom 22. Dezember 2011 und 23. Dezember 2011 Klage gegen die Bescheide zur Einkommensteuer, Gewerbesteuer und zum Gewerbesteuermessbetrag für die Jahre 2005 bis 2008 in Gestalt der zusammengefassten Einspruchsentscheidung vom 25. November 2011 ein. Den Klageschriftsätzen waren weder die angegriffenen Bescheide noch die Einspruchsentscheidung beigefügt. Nachdem das Finanzgericht (FG) den Prozessbevollmächtigten zunächst ergebnislos aufgefordert hatte, u.a. die angegriffenen Bescheide vorzulegen, einen bestimmten Antrag zu stellen und die zur Begründung des Antrags erforderlichen Tatsachen und Beweismittel anzugeben, forderte es den Kläger durch Verfügung der Berichterstatterin vom 28. Februar 2012 auf, innerhalb einer bis zum 3. April 2012 laufenden Ausschlussfrist den Gegenstand des Klagebegehrens zu bezeichnen. Die Verfügung wurde dem Prozessbevollmächtigten am 29. Februar 2012 zugestellt.
Mit beim FG am 3. April 2012 um 18.11 Uhr eingegangenem Telefax vom selben Tage beantragte der Prozessbevollmächtigte, die gesetzte Frist bis zum 16. Mai 2012 zu verlängern. Zur Begründung verwies er darauf, dass er nach schwerer Krankheit auf Grund von Arbeitsüberlastung auf ärztlichen Rat einen zweiwöchigen Kurzurlaub antreten müsse und dass er den Kläger aufgrund dessen Auslandsaufenthalts nur einmal erreicht habe. Mit Schreiben vom 4. April 2012, das dem Prozessbevollmächtigten am 7. April zugestellt wurde, lehnte das FG die Fristverlängerung unter Hinweis darauf ab, dass die hierfür erforderlichen Gründe weder hinreichend dargelegt noch nachgewiesen worden seien.
Mit beim FG am 11. April 2012 eingegangenem Telefax vom selben Tage beantragte ein Kanzleimitarbeiter des Prozessbevollmächtigten im Auftrag des Prozessbevollmächtigten die Wiedereinsetzung in den vorigen Stand. Zur Begründung führte der Kanzleimitarbeiter an, dass es dem Prozessbevollmächtigten aus gesundheitlichen Gründen erst am heutigen Tage möglich gewesen sei, ihn über die versäumte Frist zu informieren. Zudem legte er ein Attest des den Prozessbevollmächtigten behandelnden Allgemeinarztes vor, wonach der Prozessbevollmächtigte aufgrund akuter Erkrankung ärztlichen Besuch benötigt habe und krankheitsbedingt nicht in der Lage gewesen sei, seinen Geschäften nachzukommen. Das FG teilte hierauf mit, dass das ärztliche Attest weder eine Diagnose noch Krankheitssymptome erkennen lasse und deshalb Zweifel bestünden, ob das Attest den Wiedereinsetzungsantrag stützen könne. Mit Schreiben vom 16. April 2012 übersandte der Prozessbevollmächtigte ein weiteres Attest seines Arztes, wonach der Prozessbevollmächtigte im genannten Zeitraum an einem ausgeprägten fiebrigen Infekt mit einem Burn-Out-Syndrom gelitten habe. Zugleich reichte der Prozessbevollmächtigte eine ausführliche Klagebegründung ein.
Nach mündlicher Verhandlung wies das FG die Klage als unzulässig ab. Zur Begründung verwies es darauf, dass es die Kläger versäumt hätten, innerhalb der gesetzten und zurecht nicht verlängerten Ausschlussfrist den Gegenstand des Klagebegehrens zu bezeichnen. Wiedereinsetzung in den vorigen Stand sei nicht zu gewähren gewesen, da die Kläger Wiedereinsetzungsgründe nicht hinreichend dargelegt und glaubhaft gemacht hätten.
Mit ihrer Beschwerde begehren die Kläger die Zulassung der Revision wegen des Vorliegens von Verfahrensmängeln (§ 115 Abs. 2 Nr. 3 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Insbesondere machen sie geltend, das FG habe die Ausschlussfrist nach § 65 Abs. 2 Satz 2 FGO nicht setzen und nicht durch Prozessurteil entscheiden dürfen, da der Gegenstand des Klagebegehrens bereits durch die Klageschriftsätze hinreichend bezeichnet worden sei.
Entscheidungsgründe
II. Die Nichtzulassungsbeschwerde der Kläger ist begründet; sie führt zur Aufhebung der Vorentscheidung und zur Zurückverweisung des Rechtsstreits an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 116 Abs. 6 FGO). Das FG hat zu Unrecht nicht zur Sache, sondern durch Prozessurteil entschieden und dadurch den Anspruch der Kläger auf rechtliches Gehör verletzt (Art. 103 Abs. 1 des Grundgesetzes ‑‑GG‑‑, § 96 Abs. 2 FGO).
1. Nach ständiger Rechtsprechung stellt es einen Verfahrensmangel i.S. des § 115 Abs. 2 Nr. 3 FGO dar, wenn über eine zulässige Klage nicht zur Sache, sondern durch Prozessurteil entschieden wird (z.B. Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 17. November 2003 XI B 213/01, BFH/NV 2004, 514). Wird dem Kläger zur Bezeichnung des Gegenstands des Klagebegehrens zu Unrecht oder nicht wirksam eine Ausschlussfrist nach § 65 Abs. 2 Satz 2 FGO gesetzt, führt die unterbliebene Berücksichtigung des weiteren Klagevorbringens und die Abweisung der Klage als unzulässig zu einer Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör (BFH-Beschluss in BFH/NV 2004, 514).
a) Nach § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO muss die Klage den Kläger, den Beklagten, den Gegenstand des Klagebegehrens, bei Anfechtungsklagen auch den Verwaltungsakt und die Entscheidung über den außergerichtlichen Rechtsbehelf bezeichnen. Entspricht die Klage diesen Anforderungen nicht, hat der Vorsitzende oder der Berichterstatter den Kläger zu der erforderlichen Ergänzung innerhalb einer bestimmten Frist aufzufordern (§ 65 Abs. 2 Satz 1 FGO). Er kann dem Kläger für die Ergänzung eine Frist mit ausschließender Wirkung setzen, wenn es an einem der in § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO genannten Erfordernisse fehlt (§ 65 Abs. 2 Satz 2 FGO). Entspricht die eingereichte Klage den in § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO genannten Erfordernissen, ist die gleichwohl gesetzte Ausschlussfrist unwirksam und deshalb nicht zu berücksichtigen (z.B. BFH-Beschluss vom 22. Januar 2003 VIII B 63/02, BFH/NV 2003, 790, m.w.N.).
b) Wieweit das Klagebegehren im Einzelnen zu substantiieren ist, hängt von den Umständen des Falles ab, insbesondere von dem Inhalt des angefochtenen Verwaltungsakts, der Steuerart und der Klageart. Entscheidend ist, ob das Gericht durch die Angaben des Klägers in die Lage versetzt wird zu erkennen, worin die den Kläger treffende Rechtsverletzung nach dessen Ansicht liegt (BFH-Beschluss vom 16. April 2007 VII B 98/04, BFH/NV 2007, 1345, m.w.N.). Als prozessuale Willenserklärung ist die Klageschrift in gleicher Weise wie Willenserklärungen i.S. des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) analog § 133 BGB auszulegen. Dabei sind zur Bestimmung des Gegenstandes des Klagebegehrens alle dem FG und dem Beklagten und Beschwerdegegner (Finanzamt ‑‑FA‑‑) bekannten und vernünftigerweise erkennbaren Umstände tatsächlicher und rechtlicher Art zu berücksichtigen (z.B. BFH-Urteil vom 27. Juni 1996 IV R 61/95, BFH/NV 1997, 232; Senatsurteil vom 12. Mai 1989 III R 132/85, BFHE 157, 296, BStBl II 1989, 846, jeweils m.w.N.). Insoweit hat das FG hinsichtlich des Mussinhalts einer Klage insbesondere auf den Inhalt der Klageschrift und die hierin bezeichneten Bescheide und Einspruchsentscheidungen zurückzugreifen (vgl. hierzu BFH-Beschluss vom 22. Januar 2003 VIII B 63/02, BFH/NV 2003, 790).
Hierbei kommt es ‑‑auch wenn die Klage, wie im Streitfall, unmittelbar beim FG angebracht wird‑‑ unter Berücksichtigung des Grundsatzes der rechtsschutzgewährenden Auslegung von Verfahrensvorschriften (Art. 19 Abs. 4 GG, vgl. hierzu z.B. Senatsbeschluss vom 23. April 2012 III B 187/11, BFH/NV 2012, 1328) nicht darauf an, ob der Kläger die angegriffenen Bescheide und die Einspruchsentscheidung der Klage bereits beigefügt hat oder ob diese Verwaltungsakte dem FG bei Setzung der Ausschlussfrist anderweitig vorgelegen haben (vgl. Senatsurteil vom 13. Juni 1996 III R 93/95, BFHE 180, 247, BStBl II 1996, 483; Stöcker in Beermann/Gosch, FGO § 65 Rz 58.2). Dies ergibt sich aus folgenden Erwägungen: Zum einen kann die Klage nach § 47 Abs. 2 FGO fristwahrend auch beim FA angebracht werden. In diesem Fall könnte die Auslegung der Klageschrift nicht davon abhängen, wann die zu ihrer Auslegung heranzuziehenden Umstände dem FG als zweitem der beiden möglichen Adressaten erkennbar gewesen sind (BFH-Urteil vom 12. April 1984 IV R 209/83, juris; Senatsurteil in BFHE 157, 296, BStBl II 1989, 846, m.w.N.). Nachdem § 47 Abs. 2 FGO die Anbringung einer Klage beim FA als fristwahrend anerkennt, ist eine in dieser Form angebrachte Klage in jedem Fall so erhoben, wie sie das FA vernünftigerweise verstehen musste. Da das Gesetz die Klageanbringung beim FA und beim FG hinsichtlich der Fristwahrung als gleichwertig ansieht, müssen beide Formen der Klageanbringung auch bei der Auslegung der Klageschrift und der Entscheidung darüber, welche tatsächlichen und rechtlichen Umstände außerhalb der Klageschrift hierbei zu berücksichtigen sind, gleichbehandelt werden (Senatsurteil in BFHE 157, 296, BStBl II 1989, 846, m.w.N.). Zum anderen gehört die Vorlage des angefochtenen Verwaltungsakts und der Einspruchsentscheidung nach § 65 Abs. 1 Satz 1 FGO nicht zum Mussinhalt einer ordnungsgemäßen Klageerhebung. Vielmehr enthält § 65 Abs. 1 Satz 4 FGO insoweit nur eine der Verfahrensbeschleunigung dienende Sollvorschrift (BTDrucks 14/4061, S. 8). Demgegenüber sieht § 71 Abs. 2 FGO vor, dass die beteiligte Finanzbehörde die den Streitfall betreffenden Akten nach Empfang der Klageschrift an das Gericht übermitteln muss, und zwar ohne schuldhaftes Zögern (Schallmoser in Hübschmann/Hepp/Spitaler, § 71 FGO Rz 34). Auch wenn die Vorlage der vollständigen Akten aus prozessökonomischen Gründen in der Regel bis zur Übersendung der Klageerwiderung zurückgestellt werden kann (vgl. hierzu BFH-Beschluss vom 30. Juni 1998 IX B 29/98, juris), schließt dies nicht aus, dass für die Auslegung der Klageschrift notwendige Unterlagen (ggf. in Kopie) vorab vom FA zu übersenden bzw. vom FG anzufordern sind.
c) Bei Anwendung dieser Grundsätze hat das FG im Streitfall zu Unrecht ein Prozessurteil erlassen.
Mit ihren Klageschriftsätzen vom 22. und 23. Dezember 2011 haben die Kläger die angegriffenen Bescheide und die angegriffene Einspruchsentscheidung genau bezeichnet. Der Gegenstand des Klagebegehrens konnte unter Heranziehung der Einspruchsentscheidung durch Auslegung ermittelt werden. Danach wurde im Einspruchsverfahren nur über wenige Punkte (Besteuerungsrecht der Bundesrepublik Deutschland; Qualifizierung der Tätigkeit als freiberuflich oder gewerblich; Anerkennung weniger Betriebsausgabenpositionen) und nicht etwa über eine Vielzahl von Feststellungen ‑‑z.B. nach einer Steuerfahndungsprüfung‑‑ (s. hierzu BFH-Beschluss vom 18. Februar 2003 VIII B 218/02, BFH/NV 2003, 1186) gestritten. Entsprechend wurde das FG in die Lage versetzt zu erkennen, worin die Rechtsverletzung nach Ansicht der Kläger liegt. Die gleichwohl gesetzte Ausschlussfrist war daher unwirksam und rechtfertigte kein darauf gestütztes Prozessurteil.
Dahingestellt bleiben kann nach den oben dargestellten Rechtsgrundsätzen, wann dem FG die Akten des FA und mithin die angegriffenen Bescheide und die Einspruchsentscheidung vorgelegen haben. Denn jedenfalls hat es das FG versäumt, die Klageschriften unter Heranziehung der bereits vorliegenden oder noch vom FA anzufordernden angegriffenen Verwaltungsakte auszulegen.
2. Die Kostenentscheidung wird entsprechend § 143 Abs. 2 FGO dem FG übertragen.