BFH III. Senat
EStG § 1 Abs 3, EStG § 62 Abs 1 Nr 2 Buchst b, EStG § 65 Abs 1 S 1 Nr 2, EWGV 1408/71 Art 14a Abs 1 Buchst a
vorgehend FG Düsseldorf, 31. January 2011, Az: 10 K 2301/08 Kg
Leitsätze
NV: Auch in Fällen, in denen aufgrund Regelungen der VO Nr. 1408/71 eigentlich ein ausländischer Mitgliedstaat zur Erbringung von Familienleistungen für im EU-Ausland lebende Kinder eines Wanderarbeitnehmers zuständig ist, hat Deutschland ‑‑trotz § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG‑‑ im Hinblick auf Rechtsprechung des EuGH (Rechtssache Hudzinski und Wawrzyniak, Urteil vom 12. Juni 2012 C-611/10, C-612/10, DStRE 2012, 999) Differenzkindergeld zu gewähren (Anschluss an BFH-Urteil vom 16. Mai 2013 III R 8/11, BFHE 241, 511, BStBl II 2013, 1040).
Tatbestand
I. Der Kläger und Revisionskläger (Kläger) ist polnischer Staatsangehöriger. Er war in den Monaten Juli 2007 bis November 2007 bei einer Gärtnerei in der Bundesrepublik Deutschland nichtselbständig beschäftigt. Während dieser Zeit war er in Polen als Selbständiger sozialversichert. Die Familie des Klägers, zu der die beiden in den Jahren 1991 und 1993 geborenen Töchter A und B gehören, lebt in Polen. Die Ehefrau bezog nach einer in Polen ausgestellten Bescheinigung von September 2005 bis August 2007 Familienleistungen nach polnischem Recht.
Der Kläger beantragte im Januar 2008 die Gewährung von Kindergeld. Die Beklagte und Revisionsbeklagte (Familienkasse) lehnte eine Festsetzung durch Bescheid vom 14. April 2008 ab, weil der Kläger in Polen Anspruch auf vergleichbare Familienleistungen habe. Der dagegen gerichtete Einspruch hatte keinen Erfolg (Einspruchsentscheidung vom 26. Mai 2008).
Im anschließenden Klageverfahren beantragte der Kläger, die Familienkasse zu verpflichten, ihm Kindergeld für seine beiden Töchter für die Monate Juli bis November 2007 zu gewähren.
Das Finanzgericht (FG) wies die Klage ab. Der Kläger habe aufgrund der Regelungen der Verordnung (EWG) Nr. 1408/71 des Rates vom 14. Juni 1971 über die Anwendung der Systeme der sozialen Sicherheit auf Arbeitnehmer und Selbständige sowie deren Familienangehörige, die innerhalb der Gemeinschaft zu- und abwandern (VO Nr. 1408/71), in ihrer durch die Verordnung (EG) Nr. 118/97 des Rates vom 2. Dezember 1996 geänderten und aktualisierten Fassung (Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaft 1997, Nr. L 28, S. 1), diese wiederum geändert durch die Verordnung (EG) Nr. 647/2005 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 13. April 2005 (Amtsblatt der Europäischen Union 2005, Nr. L 117, S. 1), keinen Anspruch auf Kindergeld nach deutschem Recht. Der Kläger sei als Selbständiger in Polen sozialversichert gewesen. Er unterliege nach Art. 14a Nr. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71 den Rechtsvorschiften Polens über soziale Sicherheit. Die Regelungen dieser Verordnung seien abschließend, so dass deutsches Kindergeldrecht auch nicht subsidiär anwendbar sei. Den §§ 62 ff. des Einkommensteuergesetzes (EStG) sei nicht zu entnehmen, dass deutsches Kindergeldrecht auch dann anwendbar sei, wenn nach dem Wortlaut der VO Nr. 1408/71 die Rechtsvorschriften eines anderen Mitgliedstaats Anwendung fänden. Ein Anwendungsbefehl zugunsten des nationalen Rechts wäre aber zu erwarten, weil die VO Nr. 1408/71 als überstaatliches Recht den nationalen Rechtsvorschriften vorgehe und deren Anwendungsbereich begrenze.
Zur Begründung der Revision trägt der Kläger vor, entgegen der Rechtsansicht des FG seien im Streitfall die Vorschriften des Beschäftigungslandes einschlägig, somit die deutschen. Auch die Annahme des FG, die Zuständigkeit des ausländischen Staats führe zu einer Sperrwirkung hinsichtlich der Anwendung der deutschen Rechtsvorschriften, sei unzutreffend.
Der Kläger beantragt, das angefochtene Urteil, den Ablehnungsbescheid vom 14. April 2008 sowie die dazu ergangene Einspruchsentscheidung vom 26. Mai 2008 aufzuheben und die Familienkasse zu verpflichten, Kindergeld für seine beiden Töchter für die Monate Juli bis November 2007 zu gewähren.
Die Familienkasse beantragt, die Revision als unbegründet zurückzuweisen.
Zur Begründung führt sie aus, aufgrund der in Polen bestehenden Sozialversicherung unterliege der Kläger den polnischen Vorschriften.
Die Entscheidung ergeht mit Einverständnis der Beteiligten ohne mündliche Verhandlung (§ 90 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑ i.V.m. § 121 FGO).
Entscheidungsgründe
II. Die Familienkasse … der Bundesagentur für Arbeit ist aufgrund eines Organisationsaktes (Beschluss des Vorstands der Bundesagentur für Arbeit Nr. 21/2013 vom 18. April 2013 gemäß § 5 Abs. 1 Nr. 11 des Finanzverwaltungsgesetzes, Amtliche Nachrichten der Bundesagentur für Arbeit, Ausgabe Mai 2013, S. 6 ff., Nr. 2.2 der Anlage 2) im Wege des gesetzlichen Parteiwechsels in die Beteiligtenstellung der Agentur für Arbeit … ‑‑Familienkasse‑‑ eingetreten (s. dazu Beschluss des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 3. März 2011 V B 17/10, BFH/NV 2011, 1105).
III.
Die Revision ist begründet. Sie führt zur Aufhebung des angefochtenen Urteils und zur Zurückverweisung der Streitsache an das FG zur anderweitigen Verhandlung und Entscheidung (§ 126 Abs. 3 Satz 1 Nr. 2 FGO).
1. Das FG war zu Unrecht der Ansicht, die Anwendung der §§ 62 ff. EStG sei ausgeschlossen, wenn aufgrund der Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 die Rechtsvorschriften Polens anwendbar sind.
Aus dem nach der Entscheidung der Vorinstanz ergangenen Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 12. Juni 2012 C-611/10, C-612/10 in der Rechtssache Hudzinski und Wawrzyniak (Deutsches Steuerrecht/Entscheidungsdienst ‑‑DStRE‑‑ 2012, 999) ergibt sich, dass die Art. 13 ff. der VO Nr. 1408/71 auch in Fällen, in denen ein ausländischer Wanderarbeitnehmer im Inland eine Beschäftigung aufgenommen hat, keine Sperrwirkung entfalten und deshalb den Staat, der nach den Bestimmungen der genannten Verordnung an sich nicht zur Erbringung von Familienleistungen zuständig ist, rechtlich nicht daran hindern, solche Leistungen nach seinen nationalen Vorschriften zu gewähren. In einem solchen Fall bedarf es auch keines zusätzlichen Anwendungsbefehls, um die §§ 62 ff. EStG anwenden zu können (Senatsurteil vom 16. Mai 2013 III R 8/11, BFHE 241, 511, BStBl II 2013, 1040).
2. Das angefochtene Urteil, das diesen Rechtsgrundsätzen nicht entspricht, ist aufzuheben.
a) Im zweiten Rechtsgang wird das FG zunächst die Anspruchsberechtigung des Klägers zu prüfen haben. Wegen der Anspruchsberechtigung nach § 62 Abs. 1 Nr. 2 Buchst. b EStG i.V.m. § 1 Abs. 3 EStG weist der Senat auf die Urteile vom 24. Mai 2012 III R 14/10 (BFHE 237, 239, BStBl II 2012, 897) sowie vom 18. Juli 2013 III R 59/11 (BFHE 242, 228 BFH/NV 2013, 1992) hin. Die Tatsache, dass der Kläger bei dem für ihn zuständigen Finanzamt (FA) beantragt hat, nach § 1 Abs. 3 EStG als unbeschränkt steuerpflichtig behandelt zu werden, besagt demnach nicht, dass das FA ihn tatsächlich gemäß § 1 Abs. 3 EStG veranlagt hat. So können auch außerhalb des Einkommensteuerbescheids liegende Umstände zu berücksichtigen sein. Auch wird das FG zu prüfen haben, in welchen Monaten der Kläger die Einkünfte aus seiner inländischen Beschäftigung erzielt hat (s. Senatsurteil in BFHE 241, 511 BStBl II 2013, 1040, sowie BFH-Urteil vom 24. Oktober 2012 V R 43/11, BFHE 239, 327, BStBl II 2013, 491).
b) Das FG wird auch zu beachten haben, dass die sich aus der VO Nr. 1408/71 ergebende Zuständigkeit Polens zur Erbringung von Familienleistungen nicht zum Ausschluss von (Differenz-) Kindergeld nach deutschen Vorschriften führt.
aa) Nach den Feststellungen des FG unterlag der Kläger in Polen als Selbständiger der Sozialversicherungspflicht, so dass der Anwendungsbereich der VO Nr. 1408/71 eröffnet ist (Senatsurteil vom 4. August 2011 III R 55/08, BFHE 234, 316, BStBl II 2013, 619). Die Zuständigkeit Polens zur Erbringung von Familienleistungen ergibt sich, wie das FG zutreffend entschieden hat, aus Art. 14a Abs. 1 Buchst. a der VO Nr. 1408/71. Die Konkurrenz zwischen dem Anspruch auf Kindergeld nach deutschem Recht und dem Anspruch auf polnische Familienleistungen ist nach nationalem Recht zu lösen, da der zuständige Mitgliedstaat mit dem Wohnmitgliedstaat identisch ist (Senatsurteil in BFHE 241, 511, BStBl II 2013, 1040).
bb) Die Vorschrift des § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG steht der Gewährung von Differenzkindergeld nicht entgegen. Die nationalen Vorschriften sehen in § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 2 EStG zwar vor, dass Kindergeld nicht für ein Kind gezahlt wird, für das Leistungen für Kinder, die im Ausland gewährt werden und dem Kindergeld oder einer der unter § 65 Abs. 1 Satz 1 Nr. 1 EStG genannten Leistungen vergleichbar sind, zu zahlen ist oder bei entsprechender Antragstellung zu zahlen wäre. Aus der Entscheidung des EuGH in der Rechtssache Hudzinski und Wawrzyniak in DStRE 2012, 999 ergibt sich jedoch, dass in einem derartigen Fall der Anspruch auf Kindergeld nach dem EStG nur in Höhe der ausländischen Familienleistungen gekürzt, jedoch nicht völlig ausgeschlossen werden darf, wenn anderenfalls das Freizügigkeitsrecht des Wanderarbeitnehmers beeinträchtigt wäre (s. Senatsurteil in BFHE 241, 511, BStBl II 2013, 1040).