BFH III. Senat
EStG § 32 Abs 4, DA-FamEStG 2013 Abschn 31.2.2, EStG VZ 2012 , EStG § 63 Abs 1 S 2
vorgehend FG Münster, 23. April 2013, Az: 5 K 3297/12 Kg
Leitsätze
Die Verheiratung eines Kindes kann dessen Berücksichtigung seit Januar 2012 nicht mehr ausschließen. Da es seitdem auf die Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes nicht mehr ankommt, ist der sog. Mangelfallrechtsprechung die Grundlage entzogen (gegen DA-FamEStG 2013 Abschn. 31.2.2) .
Tatbestand
I.
Der Kläger und Revisionsbeklagte (Kläger) ist leiblicher Vater einer 1991 geborenen Tochter, die nach dem Abschluss ihrer Schulausbildung am 1. Oktober 2010 eine dreijährige Ausbildung begann, für die sie Ausbildungsvergütung bezog.
Die Tochter heiratete im April 2011. Ihr Ehemann befindet sich seit September 2011 in einem Berufsausbildungsverhältnis und erhält ebenfalls eine Ausbildungsvergütung.
Der Kläger leistete seiner Tochter, die für 2012 (Streitjahr) einen Abzweigungsantrag gestellt hat, keinen Unterhalt. Seinen Kindergeldantrag lehnte die Beklagte und Revisionsklägerin (Familienkasse) mit Bescheid vom 20. Juli 2012 ab und wies den fristgemäß eingelegten Einspruch als unbegründet zurück, weil die Tochter sich mit ihrem eigenen Einkommen und dem Unterhaltsbeitrag ihres Ehemannes selbst unterhalten könne. Nach der Berechnung der Familienkasse hatte die Tochter Einkünfte von mehr als 8.300 € erzielt.
Die Klage hatte Erfolg. Das Finanzgericht (FG) entschied, da es ab 2012 nicht mehr auf die Höhe der Einkünfte und Bezüge des Kindes ankomme, sei ein etwaiger Unterhaltsanspruch der Tochter gegen ihren Ehemann unerheblich.
Zur Begründung ihrer Revision rügt die Familienkasse die Verletzung materiellen Rechts.
Die Familienkasse beantragt, das FG-Urteil aufzuheben und die Klage abzuweisen.
Der Kläger beantragt, die Revision zurückzuweisen.
Entscheidungsgründe
II.
Die Revision ist unbegründet und zurückzuweisen (§ 126 Abs. 2 der Finanzgerichtsordnung ‑‑FGO‑‑). Das FG hat zutreffend entschieden, dass die Tochter zu berücksichtigen ist.
1. Dem Kläger steht nach dem Wortlaut der §§ 32, 62 ff. des Einkommensteuergesetzes (EStG) für seine Tochter Kindergeld zu. Die Tochter ist ab Januar 2012 als Kind zu berücksichtigen, denn sie hat das 18. Lebensjahr, aber noch nicht das 25. Lebensjahr vollendet, wird für einen Beruf ausgebildet (§ 32 Abs. 4 Satz 1 Nr. 2 Buchst. a EStG) und hat noch keine erstmalige Berufsausbildung oder ein Erststudium abgeschlossen (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG i.d.F. des Steuervereinfachungsgesetzes 2011 ‑‑EStG n.F.‑‑, BGBl I 2011, 2131). Die Höhe ihrer Einkünfte und Bezüge ist ‑‑im Gegensatz zu der bis Ende 2011 geltenden Rechtslage‑‑ ohne Bedeutung.
2. Ihre Verheiratung steht der Berücksichtigung ‑‑entgegen der Verwaltungsansicht (Dienstanweisung zur Durchführung des Familienleistungsausgleichs nach dem X. Abschnitt des Einkommensteuergesetzes, Stand 2013)‑‑ nicht entgegen.
a) Die Verheiratung des Kindes hindert den Anspruch auf Kindergeld nach dem Wortlaut des § 32 Abs. 4 EStG n.F. nicht; einen entsprechenden Ausschlusstatbestand enthält die Vorschrift nicht.
b) Nach langjähriger Rechtsprechung (z.B. Urteile des Bundesfinanzhofs ‑‑BFH‑‑ vom 2. März 2000 VI R 13/99, BFHE 191, 69, BStBl II 2000, 522; vom 19. April 2007 III R 65/06, BFHE 218, 70, BStBl II 2008, 756; vom 22. Dezember 2011 III R 8/08, BFHE 236, 155, BStBl II 2012, 340) bestand für ein verheiratetes Kind jedoch grundsätzlich kein Anspruch auf Kindergeld. Dies beruhte auf der Annahme, dass der Kindergeldanspruch für über 18 Jahre alte Kinder eine typische Unterhaltssituation seitens der Eltern voraussetzt, an der es fehlt, wenn das Kind verheiratet ist oder während einer Übergangs- oder Wartezeit einer Vollzeiterwerbstätigkeit nachgeht. Der Anspruch blieb jedoch erhalten, wenn bei einem verheirateten Kind ‑‑wie z.B. bei einer Studentenehe‑‑ die Einkünfte des Ehepartners für den vollständigen Unterhalt des Kindes nicht ausreichten und das Kind ebenfalls nicht über ausreichende eigene Mittel für seinen Unterhalt verfügte ‑‑sog. Mangelfall‑‑ (so ausdrücklich das BFH-Urteil in BFHE 191, 69, BStBl II 2000, 522) oder die Einkünfte und Bezüge des Kindes den Grenzbetrag trotz seiner Vollzeiterwerbstätigkeit nicht erreichten (Senatsurteil vom 18. Mai 2006 III R 1/06, BFH/NV 2006, 1825), so dass die Eltern weiterhin für das Kind aufkommen mussten.
c) Das ungeschriebene Tatbestandsmerkmal der "typischen Unterhaltssituation" wurde vom BFH mit Urteil vom 17. Juni 2010 III R 34/09 (BFHE 230, 61, BStBl II 2010, 982) aufgegeben. Der BFH ist damit von einer teleologischen zu einer am Wortlaut und der Systematik des § 32 Abs. 4 EStG orientierten Auslegung übergegangen, die die Rechtsanwendung deutlich vereinfacht hat (Sauerland, Deutsches Steuerrecht 2010, 2118). Seit der Rechtsprechungsänderung ist zunächst der Berücksichtigungstatbestand zu prüfen (u.a. Verwandtschaftsgrad und Alter des Kindes sowie Ausbildung, Übergangs- oder Wartezeit). Anschließend war ‑‑für die Zurechnung von Kindern bis Ende 2011‑‑ zu ermitteln, ob die Berücksichtigung wegen Überschreitung des Grenzbetrags (§ 32 Abs. 4 Satz 2 EStG a.F.) ausgeschlossen war.
aa) Der BFH hat auch nach der Rechtsprechungsänderung in mehreren Urteilen zum Kindergeldanspruch für verheiratete Kinder daran festgehalten, dass dieser wegen der vorrangigen Unterhaltsverpflichtung des Ehegatten grundsätzlich ausgeschlossen sei und nur ausnahmsweise ‑‑in Mangelfällen‑‑ nach der Eheschließung fortbestehe. Die Entscheidung richtete sich jedoch sodann stets nach dem Ergebnis der Grenzbetragsberechnung, bei der dem verheirateten Kind der vom Ehegatten bezogene Unterhalt als Bezug zugerechnet wurde. Wenn der Grenzbetrag nicht erreicht wurde, weil die Unterhaltsleistungen dafür zu niedrig waren oder der getrennt lebende Ehegatte keinen Unterhalt leistete (BFH-Urteil in BFHE 236, 155, BStBl II 2012, 340), wurde das verheiratete Kind berücksichtigt.
bb) Das Erfordernis einer typischen Unterhaltssituation ist seit dem BFH-Urteil in BFHE 230, 61, BStBl II 2010, 982 vollständig entfallen, und nicht nur ‑‑wie die Familienkasse meint‑‑ für die Fallgruppe der vollzeitbeschäftigten Kinder.
Der BFH hat daher auch wiederholt in seinen die Vollzeiterwerbstätigkeit von Kindern betreffenden Entscheidungen ausgesprochen, dass es nach dem Gesetzeswortlaut und der Gesetzessystematik unerheblich sei, aus welchen Gründen es an einer typischen Unterhaltssituation der Eltern fehlt (z.B. BFH-Urteil vom 28. Mai 2013 XI R 38/11, BFH/NV 2013, 1774).
Darüber hinaus hat er das Argument, die Berücksichtigung eines Kindes setze voraus, dass sich die Eltern in einer typischen Unterhaltssituation befänden, auch für andere Sachverhaltsgestaltungen ausdrücklich abgelehnt, z.B. zur Berücksichtigung eines Zivildienstleistenden als Ausbildungsplatz suchendes Kind (Senatsurteil vom 27. September 2012 III R 70/11, BFHE 239, 116, BStBl II 2013, 544) sowie zu einem unverheirateten Kind, das mit dem anderen Elternteil seines nichtehelichen Kindes in einem gemeinsamen Haushalt lebt und gegen diesen einen gegenüber der Unterhaltspflicht der Eltern vorrangigen Unterhaltsanspruch nach § 1615l des Bürgerlichen Gesetzbuchs hat (Urteil vom 11. April 2013 III R 24/12, BFHE 241, 255, BStBl II 2013, 866).
cc) Die von der Familienkasse befürwortete Fortführung einer Einkünfte- und Bezügegrenze, die sich zwecks Prüfung eines Mangelfalles allein auf verheiratete Kinder beschränkt, würde der mit der Abschaffung der Grenzbetragsregelung bei volljährigen Kindern vom Gesetzgeber bezweckten Entlastung der Eltern vom Erklärungsaufwand und der Entlastung der Verwaltung von der Ermittlung der Einkünfte und Bezüge der Kinder widersprechen (BRDrucks 54/11, S. 27).
Sie wäre zudem im Hinblick auf Art. 3 Abs. 1 und Art. 6 Abs. 1 des Grundgesetzes bedenklich, weil die Eltern verheirateter Kinder dadurch gegenüber Eltern, die ihren Kindern typischerweise ebenfalls nicht zum Unterhalt verpflichtet sind, benachteiligt würden. Dies betrifft insbesondere die Eltern volljähriger Kinder mit hinreichenden Einkünften (z.B. aus einer hohen Ausbildungsvergütung) oder Bezügen (z.B. Kinder, deren Unterhalt durch den "Erbonkel" oder ein Stipendium bestritten wird).
dd) Die Versagung der Berücksichtigung eines verheirateten Kindes ist zudem dann nicht zu rechtfertigen, wenn das Kind ‑‑wie im Streitfall‑‑ die nach Verwaltungsauffassung insoweit "fortgeltende" Einkünfte- und Bezügegrenze nicht aufgrund der Unterhaltsleistungen seines Ehegatten, sondern allein aufgrund eigener Einkünfte überschreitet. Denn die Entlastung der Eltern beruht dann nicht auf der Heirat und den dadurch erlangten Unterhaltsansprüchen des Kindes, sondern lediglich auf den Einkünften des Kindes, die nach der durch das Steuervereinfachungsgesetz 2011 geschaffenen Gesetzeslage ab 2012 nicht mehr zu berücksichtigen sind.